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Der irre Post des TagesZum Verlust der Ethik auf schwarzen Kanälen*Andreas Mertin Im Folgenden betrachte ich einen Kommentar, den die katholische Wochenzeitung Die Tagespost in Reaktion auf die Ereignisse in Hanau, genauer: im Blick auf deren mediale Reflexion veröffentlichte. Der Text unter der Überschrift „Sündenböcke statt Aufarbeitung“ ist ein klares Beispiel für die ethische Verwahrlosung, die nicht nur im religiösen Fundamentalismus um sich greift. Die Eskalation der Rhetorik, die schon seit längerem unvergleichbare Gegenstände (z.B. Holocaust und Abtreibung) in eine Relation bringt, wird hier noch zugespitzt, indem Tatbestände wie Mord und Meinungsäußerung vergleichgültigt werden. Das ist ein Skandal. Aber im Einzelnen: Der Verlust der Ethik oder: Was ist das Maß des Menschlichen?
Natürlich kann man auch mit Worten ‚töten‘ (die Diskussion darüber hat eine lange Tradition), aber man muss sich dabei klar sein, dass weiterhin ein dramatischer Unterschied zwischen der realen Tötung eines Menschen und seiner verbalen Verletzung besteht. Und genau diese Unterscheidung wird hier (bewusst?) außer Acht gelassen. Der Autor meint, beides Mordtat wie mediale Reflexion seien für ihn ebenso erschütternd. Er hätte schreiben können, die mediale Reflexion sei „auch erschütternd“. Er hätte schreiben können „zumindest irritiere / befremde / verletze“ ihn die mediale Reflexion, aber das tut er nicht. Ihm ist es wichtig, dass es ebenso erschütternd sei. Er hält beides für vergleichbar. ‚Ebenso‘ meint laut Duden: in demselben Maße, …
Der Autor behauptet also, er sei über die medialen Einordnungen des Verbrechens genau so erschüttert wie über das Verbrechen selbst. Das sagt mehr über den Autor aus als ihm vielleicht lieb ist. Denn das ist nicht nur intellektuelle Verwahrlosung, hier fehlt schlicht ein Stück emotionaler Intelligenz. In der Konsequenz würde das zum Verlust aller Maßstäbe in der ethischen Reflexion führen. Für wen die Ermordung von neun Menschen mit einer sich anschließenden weiteren Tötung und einem Suizid „ebenso erschütternd“ ist wie die journalistischen Meinungsäußerungen darüber, hat entweder kein Gefühl oder er pervertiert bewusst jedes humane Denken. Er leistet künftigem Terrorismus Vorschub, weil er in der Rezeption die Tötung von Menschen nicht mehr von Meinungsäußerungen unterscheiden kann. Wenn etwas ebenso erschütternd ist, macht es in der Wirkung keinen Unterschied mehr, o Aber die Tagespost arbeitet systematisch an derartig absurden Relativierungen, wie man in der aktuellen Ausgabe erkennen kann. In einem anderen Text unter der Überschrift „Das letzte Bollwerk“ vergleicht ein Autor den biblischen Brudermord von Kain an Abel mit dem Streit um die Blockierung von Parkplätzen in Berlin. Auch das ist eine rhetorische Figur, die dazu führt, dass jeglicher ethische Maßstab verloren geht. Nicht einmal strukturell, sondern nur willkürlich assoziativ hat das eine mit dem anderen etwas zu tun. Jedes Mal geht es um Rechtsverletzungen Aber das berührt letztlich nicht den Diskurs um die Parkplätze, sondern relativiert den Skandal der Tötung eines Menschen. Das lässt sich eben auch beim Kommentar zu Hanau beobachten. Die Verwischung der Motive
So etwas kann nur behaupten, wer davon ausgeht, dass keiner seiner Leserinnen und Leser das Manifest des Mörders von Hanau gelesen hat. Zunächst einmal gibt es natürlich überhaupt keine „gültige Definition“ für rechtsextreme Anschläge. Wer sollte das auch „definieren“? Bundesregierung und Bundeskriminalamt beschreiben politisch motivierte Kriminalität u.a. als solche Straftaten die „sich gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status richten (sog. Hasskriminalität).“ Das ist im vorliegenden Fall von Hanau gegeben.
Seine These lautet ja, dass es kein Terrorismus war, weil wegen der wahnhaften Momente eine konsistente Ideologie, hier also der Rechtsextremismus als Voraussetzung fehlt. Und er behauptet wahrheitswidrig, der Täter habe in seinem Manifest keine politischen und ideologischen Ziele benannt. Seine Ziele benennt der Täter aber explizit. Sind es rechtsextreme Ziele? Zu den Charakteristika des Rechtsextremismus zählt man Ethnizismus, Behauptung der Ungleichheit der Menschen, Antipluralismus und Autoritarismus. Im Manifest lässt sich jedes dieser Momente explizit nachlesen. Der Autor meint aber: Das Geschehen sieht zwar aus wie Rechtsterrorismus, der Täter argumentiert wie ein Rechtsterrorist, er arbeitet wie Rechtsterroristen, der Generalbundesanwalt hält es für Rechtsterrorismus, aber es ist dennoch kein Rechtsterrorismus. Und der Grund dafür ist, dass der Täter psychisch gestört ist. Das aber ist kein logisches Argument. Denn natürlich können auch psychisch gestörte Menschen rechtsradikal sein und die rechtsextreme Ideologie als Projektionsfläche ihrer Taten nutzen.
Eine seinem Wahn folgende Tat wäre es, wenn er irgendwelche Menschen angegriffen hätte, weil er sie für die imaginierten Geheimagenten gehalten hätte. Aber so war es ja nicht. Was er dem „Geheimdienst“ stattdessen vorwirft, ist, dass der gegen die „Degeneration des Volkes“ nicht öffentlich angeht. Dagegen möchte er ein Zeichen setzen. Er tötet neun Menschen, weil er zutiefst davon überzeugt war, man müsse die Hälfte der Menschheit liquidieren, um bessere Verhältnisse herbeizuführen. Seitenlang lässt er sich darüber aus, welche Völker vernichtet werden müssten, damit die Ordnung wiederhergestellt werden kann. Und hier kommt es zu bemerkenswerten Übereinstimmungen mit Äußerungen von Björn Höcke, wenn dieser über die Bereinigungen des deutschen Volkskörpers spricht. Der Jurist Peter Nagel stellte fest: “Streckenweise liest sich der Text wie eine Kombination aus „Mein Kampf“ und Höcke-Reden.” Ja, der Terrorist von Hanau war, nach allem was wir erkennen können, krank. Aber als psychisch Kranker ist man nicht per se Massenmörder. Man verbreitet vielleicht wirre Ansichten, vielleicht Verschwörungstheorien, vielleicht Absurdes, aber man tötet nicht. Schon gar nicht ganz bewusst Migranten durch einen aufgesetzten Kopfschuss. Und zudem kann man psychisch krank sein und doch voll verantwortlich für das, was man tut.
Es dürfte schwer sein, daraus die Tat eines vollständig Verwirrten zu machen. Es sei denn, man macht alle rechten Mordtaten automatisch zu Taten von geistig Verwirrten. Aber so geht das natürlich nicht. Die verdrehte Realität
An diesen Äußerungen ist fast alles verdreht. Was vorliegt, ist die Ermordung von neun vom Täter als Migranten eingeschätzten Menschen und eine sich anschließende Tötung einer Verwandten und schließlich eine Selbsttötung. Der Täter tötete die Migranten, weil er sie im Rahmen seiner Ideologie für Fremdkörper in der deutschen Gesellschaft hielt. Er tötete seine Mutter aus Motiven, die damit zunächst einmal nichts zu tun haben. Das muss man trennen. Motivgebend war ausschließlich und das schreibt der Täter auch in seinem Text die Vernichtung nicht-bio-deutscher Menschen. Das ist fürchterlich rassistisch und Ausdruck einer zutiefst rechtsextremen, menschenverachtenden Ideologie.
Und dem entspricht auch die Gliederung des Manifests. Der Täter kritisiert, dass die „Geheimorganisation“ sich gegen ihn wende, ja in seine Gedanken eindringe, aber nicht gegen die fremden Volksgruppen im von ihm als wertvoll eingeschätzten deutschen Volkes vorgehe. Das will er durch seinen Massenmord ändern. Dass nun angeblich niemand erwähnt, dass der Täter Stimmen im Kopf hörte, ist auch unwahr. Ich habe ganz im Gegenteil keinen Text gefunden, in dem das nicht erwähnt und erörtert wird. Zwischenzeitlich habe diverse Psychiater und Psychologen ihre Einschätzung dazu abgegeben. Es gibt komplexe Erörterungen dazu, was eine psychische Störung im Blick auf die rechtliche Verantwortung zu bedeuten hat. Auch hier verfälscht der Autor die Wirklichkeit. Analphabeten. Oder: Lesen müsste man können
Statt sich an den spärlichen Fakten zu orientieren, hätten die Medien sich vorschnell auf die Suche nach Schuldigen gemacht. Nun äußert sich ja auch der Autor nur zwei Tage nach dem Geschehen ohne im Besitz weiterer Fakten zu sein. Der Vorwurf vorschnellen Urteils fällt daher auf ihn selbst zurück. Freilich macht er es sich mit den Vorwürfen ziemlich einfach, er liest nicht einmal genau, was die von ihm Kritisierten gesagt bzw. geschrieben haben. Erstens: Was meint hier eigentlich Sündenbocksuche? Ich verzichte darauf, den Jom-Kippur-Ritus, den der Autor in diesem Kontext missbräuchlich nutzt, zu erörtern. Nur so viel: Der Sündenbock steht ja in biblischer Tradition immer schon fest, es ist ein einfacher lebendiger Bock (ganz ohne Sünde). Der eigentliche Akt besteht darin, dass das Volk seine eigenen Sünden(!) öffentlich bekennt, bevor es dann den symbolisch mit den Sünden des Volkes beladenen Bock in die Wüste schickt. Nicht der Bock ist schuldig, sondern die, die ihn schicken! Die Kritiker der rechten Blogs meinen aber, dass diese durchaus schuldig sind und zur Verantwortung gezogen werden müssen. Das hat mit dem biblischen Sündenbock wenig zu tun. In der biblischen Tradition ist der erst von Luther so genannte Sündenbock also unschuldig, schuldig sind jene, die ihn in die Wüste schicken. Ist es das, was der Autor meint? Dass die angeblichen Sündenböcke unschuldig sind, die Sündenbocksucher aber die eigentlichen Schuldigen? Das wäre die Rhetorik von Pegida und ihrer Trope von der Lügenpresse. Aber auch dann macht die Zuordnung keinen Sinn. Der Autor der Tagespost kennt die Bibel eben nicht, ein rechter Katholik braucht das nicht, und von religiösen Ritualen versteht er auch nichts.
Claudia Roth hatte am gleichen Tag einen Prozess gegen Roland Tichy gewonnen, der ihr verbieten lassen wollte, Folgendes zu sagen:
Nur diesen einen Satz zitiert Böhmermann in seinem Tweet und denkt dabei sicher auch an Hanau ohne das aber explizit zu benennen. Er sagt keinesfalls, dass Broder oder Tichy für Hanau verantwortlich wären. Claudia Roth hätte dagegen auch die Tagespost nennen können, die Thomas Sternberg, der Präsident des Zentralrats der Deutschen Katholiken, nicht ohne Gründe als „scharf agierendes kirchliches Medium“ im rechten Spektrum bezeichnet hatte. Alle diese Akteure arbeiten daran, dass zwischen der linksliberalen Meinungsäußerung und dem rechtsterroristischen Massenmord kein Unterschied mehr gesehen werden soll. Sie arbeiten um Untergang der offenen Gesellschaft.
Der Autor betreibt daher unter dem Strich das Spiel der AfD. Das wird an seinen abschließenden Satz deutlich. Das Ergebnis: Die Nobilitierung des Faschismus
Die Verbindung zwischen Hanau und Erfurt stellt erst der Autor her. Damit invertiert er eigentlich nur die These von Augstein. Jetzt sind es nicht mehr die rechten Blogger, sondern die linken Faschismuskritiker die für einen tödlichen Diskurs (vergiftetes Klima) verantwortlich sind. Hysterisch ist nach Ansicht des Autors der „katholischen“ Wochenzeitschrift „Die Tagespost“, wer die mit Hilfe von Faschisten erfolgte Wahl eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes für problematisch hält. Wir erinnern uns: Kemmerich brauchte genau eine bestimmte Stimme, um in Konkurrenz zu Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden: die Stimme von Björn Höcke. Ohne dessen Stimme hätte seine Kandidatur keinen Erfolg haben können. Das findet heute ein konservativer bzw. reaktionärer Katholik offenbar in Ordnung und hysterisch den, der sich darüber aufregt. Dass jemand, der Migranten vertreiben will, der die deutsche Bevölkerung um Abweichler dezimieren will, der Garant der Wahl eines bundesdeutschen Ministerpräsidenten wird, scheint für ihn kein Problem. Der deutsche Katholizismus hat 1933 bis 1945 andere Positionen eingenommen. Heute ist man im Blick auf die Kooperation mit Faschisten nicht mehr so skrupulös. Wenn aber linksliberale Publizisten das Hanauer Verbrechen als rechten Terrorakt bezeichnen, handeln sie „ebenso erschütternd“ wie der Massenmörder. Die Linksliberalen vergiften demnach das politische Klima, wenn sie die Zusammenarbeit mit den Feinden der offenen Gesellschaft für unerträglich erachten. Das ist angesichts der deutschen Geschichte intellektuell verantwortungslos. Der Autor möchte aber von den Feinden der Demokratie nicht abgespalten werden weil er sich mit ihnen verbunden fühlt? Das kann ich verstehen, er steht längst auf ihrer Seite. Wer Spaltung sagt, fetischisiert die Einheit gegen die Diversität und die Vielfalt. Einheit hat aber immer einen Zwangs- und Gewaltcharakter, weil notwendig Differenzen geschliffen werden müssen. Opfer der Einheit sind dann die, die dem Kern nicht integrierbar oder assimilierbar erscheinen. Das sieht auch der Attentäter von Hanau so. Und deshalb will er sie entfernen so wie die AfD. Strittig sind nur noch die Mittel. Deshalb: „Besser gespalten als geheilt“ hat Bundesrichter a.D. Thomas Fischer diese Woche auf Spiegel online geschrieben, und darin hat er Recht.
Er betreibt das Geschäft der Faschisten, mit Lenin gesprochen: er ist ein nützlicher Idiot. Koinzidenz
Was aber mindestens ebenso bemerkenswert ist, dass sich die schwarzen christlichen Kanäle dieses Mem zu eigen machen. Es ist ja erkennbar ein kontrafaktisches Mem. Denn die von den Rechten so genannten deutschen Mainstream-Medien haben dieses Mal in vorbildlicher Weise sich zunächst exklusiv den Opfern zugewandt, haben deren Geschichten recherchiert und vorgestellt und erst dann gefragt, was denn die notwendigen politischen Schlussfolgerungen aus dem Geschehen sein könnten.
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/am682.htm |