Der irre Post des Tages

Zum Verlust der Ethik auf schwarzen Kanälen*

Andreas Mertin

Im Folgenden betrachte ich einen Kommentar, den die katholische Wochenzeitung Die Tagespost in Reaktion auf die Ereignisse in Hanau, genauer: im Blick auf deren mediale Reflexion veröffentlichte. Der Text unter der Überschrift „Sündenböcke statt Aufarbeitung“ ist ein klares Beispiel für die ethische Verwahrlosung, die nicht nur im religiösen Fundamentalismus um sich greift. Die Eskalation der Rhetorik, die schon seit längerem unvergleichbare Gegenstände (z.B. Holocaust und Abtreibung) in eine Relation bringt, wird hier noch zugespitzt, indem Tatbestände wie Mord und Meinungsäußerung vergleichgültigt werden. Das ist ein Skandal. Aber im Einzelnen:


Der Verlust der Ethik oder: Was ist das Maß des Menschlichen?

Das schreckliche Blutbad von Hanau hat Deutschland erschüttert.
Was ebenso erschüttert, ist der mediale Umgang damit.

Die deutsche Sprache ist überaus reich und präzise. Man kann ihr entnehmen, was jemand meint, auch wenn er scheinbar einfach nur vor sich hinplappert. In diesem Falle meint ein Autor, der in einer Zeitschrift schreibt, die auch offizielle Verlautbarungen des Vatikans in deutscher Sprache publiziert und die von einem katholischen Würdenträger (Domkapitular) herausgegeben wird, dass die gezielt vorgenommene Liquidierung von neun kurdischen, türkischen, bulgarischen, bosnisch-herzegowinischen, afghanischen und deutschen Mitbürgern auf der gleichen emotionalen Wahrnehmungsebene stünde, wie die Verlautbarungen deutscher Medien. Damit werden dann aber nicht nur die Medien skandalisiert, sondern auch die Morde relativiert. Sie erscheinen auf einer Ebene mit Meinungsäußerungen.

Natürlich kann man auch mit Worten ‚töten‘ (die Diskussion darüber hat eine lange Tradition), aber man muss sich dabei klar sein, dass weiterhin ein dramatischer Unterschied zwischen der realen Tötung eines Menschen und seiner verbalen Verletzung besteht. Und genau diese Unterscheidung wird hier (bewusst?) außer Acht gelassen.

Der Autor meint, beides – Mordtat wie mediale Reflexion – seien für ihn ebenso erschütternd. Er hätte schreiben können, die mediale Reflexion sei „auch erschütternd“. Er hätte schreiben können „zumindest irritiere / befremde / verletze“ ihn die mediale Reflexion, aber das tut er nicht. Ihm ist es wichtig, dass es ebenso erschütternd sei. Er hält beides für vergleichbar. ‚Ebenso‘ meint laut Duden: in demselben Maße, …

in ebenderselben Weise, in der gleichen Weise, geradeso [sehr], genauso [sehr].

Der Autor behauptet also, er sei über die medialen Einordnungen des Verbrechens genau so erschüttert wie über das Verbrechen selbst. Das sagt mehr über den Autor aus als ihm vielleicht lieb ist. Denn das ist nicht nur intellektuelle Verwahrlosung, hier fehlt schlicht ein Stück emotionaler Intelligenz. In der Konsequenz würde das zum Verlust aller Maßstäbe in der ethischen Reflexion führen. Für wen die Ermordung von neun Menschen mit einer sich anschließenden weiteren Tötung und einem Suizid „ebenso erschütternd“ ist wie die journalistischen Meinungsäußerungen darüber, hat entweder kein Gefühl oder er pervertiert bewusst jedes humane Denken. Er leistet künftigem Terrorismus Vorschub, weil er in der Rezeption die Tötung von Menschen nicht mehr von Meinungsäußerungen unterscheiden kann. Wenn etwas ebenso erschütternd ist, macht es in der Wirkung keinen Unterschied mehr, ob es um eine Meinungsäußerung oder um einen Mord geht. Wer wollte sich dem anschließen?

Aber die Tagespost arbeitet systematisch an derartig absurden Relativierungen, wie man in der aktuellen Ausgabe erkennen kann. In einem anderen Text unter der Überschrift „Das letzte Bollwerk“ vergleicht ein Autor den biblischen Brudermord von Kain an Abel mit dem Streit um die Blockierung von Parkplätzen in Berlin.

Auch das ist eine rhetorische Figur, die dazu führt, dass jeglicher ethische Maßstab verloren geht. Nicht einmal strukturell, sondern nur willkürlich assoziativ hat das eine mit dem anderen etwas zu tun. Jedes Mal geht es um Rechtsverletzungen Aber das berührt letztlich nicht den Diskurs um die Parkplätze, sondern relativiert den Skandal der Tötung eines Menschen. Das lässt sich eben auch beim Kommentar zu Hanau beobachten.


Die Verwischung der Motive

Denn ein rechtsextremer Anschlag war das, was jüngst passierte, nach gültiger Definition nicht. Terrorismus setzt politische und ideologische Ziele voraus. Tobias R. dagegen tötete, um sich gegen einen imaginierten Geheimdienst zu wehren, der ihn angeblich seit seiner Geburt überwachte.

So etwas kann nur behaupten, wer davon ausgeht, dass keiner seiner Leserinnen und Leser das Manifest des Mörders von Hanau gelesen hat. Zunächst einmal gibt es natürlich überhaupt keine „gültige Definition“ für rechtsextreme Anschläge. Wer sollte das auch „definieren“? Bundesregierung und Bundeskriminalamt beschreiben politisch motivierte Kriminalität u.a. als solche Straftaten die „sich gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status richten (sog. Hasskriminalität).“ Das ist im vorliegenden Fall von Hanau gegeben.

Derartige Taten werden in der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) erfasst. Was es also gibt, ist die Einordnung von politischen Gewaltverbrechen in die Kriminalstatistik. Und hier hat zumindest der Generalbundesanwalt bestätigt, dass es sich beim vorliegenden Gewaltverbrechen in Hanau um ein rechtsextremes Gewaltverbrechen mit zutiefst rassistischer Gesinnung handelt. Er ermittle „wegen des Verdachts einer terroristischen Gewalttat“. Das bedeutet, dass dieses Verbrechen in der PMK als rechtes Gewalt- bzw. Tötungsverbrechen erscheinen wird. Ich wüsste nicht, welche „gültige Definition“ der Autor dem entgegensetzen könnte.

Seine These lautet ja, dass es kein Terrorismus war, weil wegen der wahnhaften Momente eine konsistente Ideologie, hier also der Rechtsextremismus als Voraussetzung fehlt. Und er behauptet wahrheitswidrig, der Täter habe in seinem Manifest keine politischen und ideologischen Ziele benannt. Seine Ziele benennt der Täter aber explizit. Sind es rechtsextreme Ziele? Zu den Charakteristika des Rechtsextremismus zählt man Ethnizismus, Behauptung der Ungleichheit der Menschen, Antipluralismus und Autoritarismus. Im Manifest lässt sich jedes dieser Momente explizit nachlesen. Der Autor meint aber: Das Geschehen sieht zwar aus wie Rechtsterrorismus, der Täter argumentiert wie ein Rechtsterrorist, er arbeitet wie Rechtsterroristen, der Generalbundesanwalt hält es für Rechtsterrorismus, aber es ist dennoch kein Rechtsterrorismus. Und der Grund dafür ist, dass der Täter psychisch gestört ist.

Das aber ist kein logisches Argument. Denn natürlich können auch psychisch gestörte Menschen rechtsradikal sein und die rechtsextreme Ideologie als Projektionsfläche ihrer Taten nutzen.

Die Frage ist, ob der Täter von Hanau vorrangig aus Wahnideen mordete oder ob die Wahnideen nur eine Begleiterscheinung seiner Taten waren. Zunächst kann man sagen: der Täter von Hanau tötete keinesfalls nur, um sich „gegen einen imaginierten Geheimdienst zu wehren“. Er war im Gegenteil davon überzeugt, durch seine Gedanken diesen Geheimdienst steuern zu können. Wie er schreibt, könne er durch simple Gesprächsäußerungen Jürgen Klopp zum Erfolg verhelfen, den 11. September in Gang setzen oder Trump die Mauer zu Mexiko bauen lassen. Was ihn stört, ist der von ihm empfundene permanente Eingriff des „Geheimdienstes“ in seine Gedanken.

Eine seinem Wahn folgende Tat wäre es, wenn er irgendwelche Menschen angegriffen hätte, weil er sie für die imaginierten Geheimagenten gehalten hätte. Aber so war es ja nicht. Was er dem „Geheimdienst“ stattdessen vorwirft, ist, dass der gegen die „Degeneration des Volkes“ nicht öffentlich angeht. Dagegen möchte er ein Zeichen setzen. Er tötet neun Menschen, weil er zutiefst davon überzeugt war, man müsse die Hälfte der Menschheit liquidieren, um bessere Verhältnisse herbeizuführen. Seitenlang lässt er sich darüber aus, welche Völker vernichtet werden müssten, damit die Ordnung wiederhergestellt werden kann. Und hier kommt es zu bemerkenswerten Übereinstimmungen mit Äußerungen von Björn Höcke, wenn dieser über die Bereinigungen des deutschen Volkskörpers spricht. Der Jurist Peter Nagel stellte fest: “Streckenweise liest sich der Text wie eine Kombination aus „Mein Kampf“ und Höcke-Reden.”

Ja, der Terrorist von Hanau war, nach allem was wir erkennen können, krank. Aber als psychisch Kranker ist man nicht per se Massenmörder. Man verbreitet vielleicht wirre Ansichten, vielleicht Verschwörungstheorien, vielleicht Absurdes, aber man tötet nicht. Schon gar nicht ganz bewusst Migranten durch einen aufgesetzten Kopfschuss. Und zudem kann man psychisch krank sein und doch voll verantwortlich für das, was man tut.

Der Täter von Hanau ging außerordentlich konzentriert und planvoll vor. Ebenso wie der Uno-Bomber (mit seinen Briefbomben), ebenso wie Anders Breivik (Oslo und Utøya), ebenso wie John Earnest (Synagoge in Poway), ebenso wie Stephan Balliet (Halle), ebenso bereitete Tobias Rathjen sich auf die Tat vor, schrieb ein Manifest, drehte ein Video, erkundete zuvor den Tatort und schritt dann zur Tat.

Es dürfte schwer sein, daraus die Tat eines vollständig Verwirrten zu machen. Es sei denn, man macht alle rechten Mordtaten automatisch zu Taten von geistig Verwirrten. Aber so geht das natürlich nicht.


Die verdrehte Realität

Rassismus spielte in seinem Weltbild eine Rolle. Zu den Opfern zählen aber nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch die eigene Mutter. Dass sich neunzig Prozent des Bekennerschreibens darum drehen, dass R. Ideengeber des DFB, der Hollywoodindustrie und der US-Strategie im Nahen Osten war, wird ebenso wenig erwähnt wie die Stimmen in seinem Kopf.

An diesen Äußerungen ist fast alles verdreht. Was vorliegt, ist die Ermordung von neun vom Täter als Migranten eingeschätzten Menschen und eine sich anschließende Tötung einer Verwandten und schließlich eine Selbsttötung. Der Täter tötete die Migranten, weil er sie im Rahmen seiner Ideologie für Fremdkörper in der deutschen Gesellschaft hielt. Er tötete seine Mutter aus Motiven, die damit zunächst einmal nichts zu tun haben. Das muss man trennen. Motivgebend war ausschließlich – und das schreibt der Täter auch in seinem Text – die Vernichtung nicht-bio-deutscher Menschen. Das ist fürchterlich rassistisch und Ausdruck einer zutiefst rechtsextremen, menschenverachtenden Ideologie.

Denn es ist schlicht unwahr, wenn der Autor behauptet, dass sich nur 10% des Textes um Rassismus und 90% um wahnhafte Introspektionen des Täters drehen. Der Text umfasst knapp 49.000 Anschläge und man kann schnell überprüfen, dass der Teil, der sich um rassistische und fremdenfeindliche Motive dreht, wesentlich größer als ein Zehntel ist. Er umfasst etwa 45% des Textes, und wenn man die Incel-Äußerungen über die Frauen mit hinzurechnet (die er ja mit einigen anderen rechtsextremen Attentätern gemeinsam hat), sogar mehr als die Hälfte. Der Text des Täters endet mit folgenden Worten:

„Dieser Krieg ist als Doppelschlag zu verstehen, gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes! Menschen kommen und gehen. Das was bleibt ist das Volk! Schaut euch in Zukunft genau an, wer das Volk ist.“

Und dem entspricht auch die Gliederung des Manifests. Der Täter kritisiert, dass die „Geheimorganisation“ sich gegen ihn wende, ja in seine Gedanken eindringe, aber nicht gegen die fremden Volksgruppen im von ihm als wertvoll eingeschätzten deutschen Volkes vorgehe. Das will er durch seinen Massenmord ändern.

Dass nun angeblich niemand erwähnt, dass der Täter Stimmen im Kopf hörte, ist auch unwahr. Ich habe ganz im Gegenteil keinen Text gefunden, in dem das nicht erwähnt und erörtert wird. Zwischenzeitlich habe diverse Psychiater und Psychologen ihre Einschätzung dazu abgegeben. Es gibt komplexe Erörterungen dazu, was eine psychische Störung im Blick auf die rechtliche Verantwortung zu bedeuten hat. Auch hier verfälscht der Autor die Wirklichkeit.


Analphabeten. Oder: Lesen müsste man können

Stattdessen herrscht Sündenbocksuche. SPIEGEL-Miteigentümer Jakob Augstein und ZDF-Entertainer Jan Böhmermann ließen sich zur Aussage herab, die Publizisten Henryk Broder und Roland Tichy hätten durch Verrohung des Diskurses die Gewalttat zu verantworten.

Statt sich an den spärlichen Fakten zu orientieren, hätten die Medien sich vorschnell auf die Suche nach Schuldigen gemacht. Nun äußert sich ja auch der Autor nur zwei Tage nach dem Geschehen ohne im Besitz weiterer Fakten zu sein. Der Vorwurf vorschnellen Urteils fällt daher auf ihn selbst zurück. Freilich macht er es sich mit den Vorwürfen ziemlich einfach, er liest nicht einmal genau, was die von ihm Kritisierten gesagt bzw. geschrieben haben.

Erstens: Was meint hier eigentlich Sündenbocksuche? Ich verzichte darauf, den Jom-Kippur-Ritus, den der Autor in diesem Kontext missbräuchlich nutzt, zu erörtern. Nur so viel: Der Sündenbock steht ja in biblischer Tradition immer schon fest, es ist ein einfacher lebendiger Bock (ganz ohne Sünde). Der eigentliche Akt besteht darin, dass das Volk seine eigenen Sünden(!) öffentlich bekennt, bevor es dann den symbolisch mit den Sünden des Volkes beladenen Bock in die Wüste schickt. Nicht der Bock ist schuldig, sondern die, die ihn schicken! Die Kritiker der rechten Blogs meinen aber, dass diese durchaus schuldig sind und zur Verantwortung gezogen werden müssen. Das hat mit dem biblischen Sündenbock wenig zu tun. In der biblischen Tradition ist der erst von Luther so genannte Sündenbock also unschuldig, schuldig sind jene, die ihn in die Wüste schicken. Ist es das, was der Autor meint? Dass die angeblichen Sündenböcke unschuldig sind, die Sündenbocksucher aber die eigentlichen Schuldigen? Das wäre die Rhetorik von Pegida und ihrer Trope von der Lügenpresse. Aber auch dann macht die Zuordnung keinen Sinn. Der Autor der Tagespost kennt die Bibel eben nicht, ein rechter Katholik braucht das nicht, und von religiösen Ritualen versteht er auch nichts.

Zweitens: Der Satiriker Jan Böhmermann, den der Autor als Sündenbocksucher bezeichnet, zitiert in seinem Tweet vom 20.Februar 2020 in Wirklichkeit wortwörtlich ein gerichtsfestes Statement von Claudia Roth, das zunächst einmal gar nichts mit dem vorliegenden Terrorakt von Hanau zu tun hat.

Claudia Roth hatte am gleichen Tag einen Prozess gegen Roland Tichy gewonnen, der ihr verbieten lassen wollte, Folgendes zu sagen:

"Wir müssen die Stichwortgeber benennen, all diese neurechten Plattformen, deren Geschäftsmodell auf Hetze und Falschbehauptungen beruht – von Roland Tichy über Henryk M. Broder bis hin zu eindeutig rechtsradikalen Blogs."

Nur diesen einen Satz zitiert Böhmermann in seinem Tweet und denkt dabei sicher auch an Hanau – ohne das aber explizit zu benennen. Er sagt keinesfalls, dass Broder oder Tichy für Hanau verantwortlich wären. Claudia Roth hätte dagegen auch die Tagespost nennen können, die Thomas Sternberg, der Präsident des Zentralrats der Deutschen Katholiken, nicht ohne Gründe als „scharf agierendes kirchliches Medium“ im rechten Spektrum bezeichnet hatte.

Alle diese Akteure arbeiten daran, dass zwischen der linksliberalen Meinungsäußerung und dem rechtsterroristischen Massenmord kein Unterschied mehr gesehen werden soll. Sie arbeiten um Untergang der offenen Gesellschaft.

Drittens: Der Publizist Jakob Augstein hat – anders als der Satiriker Jan Böhmermann – in seinem Tweet tatsächlich einen kausalen Nexus von Worten und Taten hergestellt. Aber er hat nicht geschrieben, dass die Genannten für die Gewalttat von Hanau verantwortlich seien, sondern dass sie das sprachliche Instrumentarium bereitgestellt hätten, aus dem Täter (Islamisten wie Rechtsterroristen) schöpfen könnten. Ich würde diese Ansicht nicht teilen und sie als kritisierbar und begründungsarm ansehen (der Tagesspiegel nannte sie demagogisch), aber es ist natürlich (bloß) eine Meinung. Man müsste schon nachweisen, dass die Täter unter dem Einfluss bestimmter Worte stehen. Plausibler wäre es aus den bereits bekannten Gründen, Björn Höcke als Stichwortgeber des Attentäters zu sehen, noch wahrscheinlicher ist allerdings Anders Breivik. Aber beide vom Autor Kritisierten, Böhmermann wie Augstein, wählen ihre Worte erkennbar unter besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzung zwischen Claudia Roth und Roland Tichy, die an diesem Tag über die Nachrichtenticker lief.

Letztlich geht es dem Autor aber darum, ein öffentliches Klima zu erzeugen, in dem eine linksliberale Meinungsäußerung als „genauso erschütternd“ erscheinen soll wie ein Massenmord. Was wir hier vor uns haben, ist ein Stück intellektueller Verwahrlosung des rechten Katholizismus. Die Meinungsäußerungen Linksliberaler sollen tabuisiert werden, weil sie angeblich genauso bedenklich sind wie die Handlungen rechter Terroristen. Das zu behaupten, ist aber normalerweise das Tagesgeschäft der Faschisten.

Der Autor betreibt daher unter dem Strich das Spiel der AfD. Das wird an seinen abschließenden Satz deutlich.


Das Ergebnis: Die Nobilitierung des Faschismus

Dabei wäre es an der Zeit, die Hysterie seit der Kemmerich-Wahl endlich herunterzuschrauben. Sie vergiftet das politische und das gesellschaftliche Klima – bis die Spaltung nicht mehr zu überwinden ist.

Die Verbindung zwischen Hanau und Erfurt stellt erst der Autor her. Damit invertiert er eigentlich nur die These von Augstein. Jetzt sind es nicht mehr die rechten Blogger, sondern die linken Faschismuskritiker die für einen tödlichen Diskurs (vergiftetes Klima) verantwortlich sind.

Hysterisch ist nach Ansicht des Autors der „katholischen“ Wochenzeitschrift „Die Tagespost“, wer die mit Hilfe von Faschisten erfolgte Wahl eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes für problematisch hält. Wir erinnern uns: Kemmerich brauchte genau eine bestimmte Stimme, um in Konkurrenz zu Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden: die Stimme von Björn Höcke. Ohne dessen Stimme hätte seine Kandidatur keinen Erfolg haben können. Das findet heute ein konservativer bzw. reaktionärer Katholik offenbar in Ordnung und hysterisch den, der sich darüber aufregt. Dass jemand, der Migranten vertreiben will, der die deutsche Bevölkerung um Abweichler dezimieren will, der Garant der Wahl eines bundesdeutschen Ministerpräsidenten wird, scheint für ihn kein Problem. Der deutsche Katholizismus hat 1933 bis 1945 andere Positionen eingenommen. Heute ist man im Blick auf die Kooperation mit Faschisten nicht mehr so skrupulös. Wenn aber linksliberale Publizisten das Hanauer Verbrechen als rechten Terrorakt bezeichnen, handeln sie „ebenso erschütternd“ wie der Massenmörder. Die Linksliberalen vergiften demnach das politische Klima, wenn sie die Zusammenarbeit mit den Feinden der offenen Gesellschaft für unerträglich erachten. Das ist angesichts der deutschen Geschichte intellektuell verantwortungslos.

Der Autor möchte aber von den Feinden der Demokratie nicht abgespalten werden – weil er sich mit ihnen verbunden fühlt? Das kann ich verstehen, er steht längst auf ihrer Seite. Wer Spaltung sagt, fetischisiert die Einheit – gegen die Diversität und die Vielfalt. Einheit hat aber immer einen Zwangs- und Gewaltcharakter, weil notwendig Differenzen geschliffen werden müssen. Opfer der Einheit sind dann die, die dem Kern nicht integrierbar oder assimilierbar erscheinen. Das sieht auch der Attentäter von Hanau so. Und deshalb will er sie entfernen – so wie die AfD. Strittig sind nur noch die Mittel. Deshalb: „Besser gespalten als geheilt“ hat Bundesrichter a.D. Thomas Fischer diese Woche auf Spiegel online geschrieben, und darin hat er Recht.

Wer die Einheit mit den Faschisten oder auch nur mit den Wählern der Faschisten sucht, hat die Demokratie aufgegeben.

Er betreibt das Geschäft der Faschisten, mit Lenin gesprochen: er ist ein nützlicher Idiot.


Koinzidenz

Es ist bemerkenswert, wie sich die Argumente gleichen. Einer der gepushten Shootingstars der jungen rechten Szene postet auf diversen Kanälen zu Hanau die nebenstehenden Zeilen. Und sie stimmen Punkt für Punkt mit den Argumenten im vorstehend beschriebenen Artikel überein. Ich weiß nicht, wer dabei von wem abgeschrieben hat, vielleicht folgen auch beide einem vorgegebenen rechten Mem, denn es wirkt so, als ob beide eine Liste abarbeiten. Und diese lautet: Fokussierung auf die psychische Störung, Ablehnung jeglicher rechten Verantwortlichkeit, Angriff auf die linksliberale Kritik. Das entspricht der Linie der AfD bei deren Stellungnahmen.

Was aber mindestens ebenso bemerkenswert ist, dass sich die schwarzen christlichen Kanäle dieses Mem zu eigen machen. Es ist ja erkennbar ein kontrafaktisches Mem. Denn die von den Rechten so genannten deutschen Mainstream-Medien haben dieses Mal in vorbildlicher Weise sich zunächst exklusiv den Opfern zugewandt, haben deren Geschichten recherchiert und vorgestellt und erst dann gefragt, was denn die notwendigen politischen Schlussfolgerungen aus dem Geschehen sein könnten.

Wer freilich ernsthaft meint, man könnte den Massenmord an zehn Migranten und Deutschen auf die Behandlung psychischer Krankheiten reduzieren, nimmt das tödliche Geschehen nicht ernst. Und wer die Frage nach der Verantwortlichkeit rechter Gruppierungen im Angesicht eines rechtsterroristischen Verbrechens tabuisieren will, erweist der oft beschworenen antifaschistischen Tradition des Katholizismus einen Bärendienst. Denn wie in der Fabel von Jean de La Fontaine erweist sich die Verbrüderung mit dem Bären am Ende für den Verbündeten als tödlich. Wer im Interesse nur scheinbar gemeinsamer Werte (Lebensschutz) das Bündnis mit den Rechten sucht, muss wie der Gartenfreund in La Fontaines Fabel den Preis dafür zahlen. So wie das Bündnis der Deutschen Evangelischen Christen mit den Nationalsozialisten sich absehbar als tödlich erwies, so wird es auch jenen Deutschen Konservativen Katholiken ergehen, die sich auf den Pas de deux mit dem rechten Rand unserer Gesellschaft einlassen. Es liegt kein Segen im Spiel mit dem Feuer. Sollte es einmal in einem deutschen Bundesland einen Kultusminister der AfD geben, dann Gnade Gott den Kirchen. Sie sagen es unverblümt. Man muss es nur lesen.


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Eine leicht kürzere Version dieses Textes erschien zuerst als Gastkommentar im Magazin Die Eule

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/am682.htm
© Andreas Mertin, 2020