Zwischen erinnern (זכר) und vergessen (שׁכח)

Gedanken zur Anonymisierung von Attentätern

Andreas Mertin

„Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.“[1]

Anlass der folgenden Überlegungen war ein kleiner Disput, der im Vorfeld der Publikation meines Textes „Der irre Post des Tages“ beim Eule-Magazin entstand. Ich hatte im ersten Entwurf des Textes die Namen des Attentäters von Hanau und der Attentäter der diversen Terroranschläge der letzten Jahre genannt – ganz bewusst, so wie auch in der Fassung, die in dieser Ausgabe des Magazins publiziert wird. Im Gegenzug hatte ich den Verfasser des von mir kritisch in den Blick genommenen Textes der Wochenzeitung „Die Tagespost“ nicht genannt – weil es mir nicht um dessen persönliche Haltung, sondern um die Struktur derartiger Argumentationen ging. Auch dem mochte die Redaktion des Eule-Magazins nicht folgen und setzte daher den Namen des Autors in den Text ein.

Derlei Diskussionen über ethische Standards und die Formen ihrer Umsetzung sind journalistischer Alltag. Tatsächlich gibt es ja keinen Common Sense darüber, wie in diesen Fragen zu verfahren wäre. Regelmäßig begründen Redaktionen diverser Zeitschriften bei all den vielen Terrorakten der letzten Jahre, warum sie die jeweiligen Täter beim Namen nennen oder es konsequent unterlassen. Sie sind im Zirkel des Erinnerns und Vergessens gefangen.

Zwei Motive bestimmen im Wesentlichen die Debatte, die um die Nicht-Nennung des (Nach-) Namens des jeweiligen Attentäters kreisen: Erstens müsse man den Täter dem Vergessen überantworten und die Menschlichkeit der Opfer wahren. Zweitens dürfe man möglichen Nachahmungstätern kein Vorbild präsentieren. Aber gibt es dafür überzeugende Argumente?


Nicht gedacht soll seiner werden

Das eine Motiv ist der geäußerte, heutzutage meines Erachtens aber geradezu archaische Wunsch, den Täter dem Vergessen zu überantworten. Bündig ist dieses Motiv im nachgelassenen Gedicht „Nicht gedacht soll seiner werden“[2] von Heinrich Heine zusammengefasst:

»Nicht gedacht soll seiner werden!« / aus dem Mund der armen alten
Esther Wolf hört ich die Worte, / Die ich treu im Sinn behalten.


Ausgelöscht sein aus der Menschen / Angedenken hier auf Erden,
Ist die Blume der Verwünschung - / Nicht gedacht soll seiner werden!

Herz, mein Herz, ström aus die Fluten / Deiner Klagen und Beschwerden,
Doch von ihm sei nie die Rede -/ Nicht gedacht soll seiner werden!

Nicht gedacht soll seiner werden, / Nicht im Liede, nicht im Buche -
Dunkler Hund im dunkeln Grabe, / Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage, / Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen / Zum Gericht die Totenscharen,

Und alldort der Engel abliest / Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladnen - / Nicht gedacht soll seiner werden!

Dieses Klagelied wird von Heine zunächst in eine gewisse Distanz zu den Leser*innen gesetzt. Nicht der Dichter verflucht den Ungenannten, er hört den Fluch nur und gibt ihn weiter, zitiert ihn: Aus dem Mund der armen alten Esther Wolf hört ich die Worte, die ich treu im Sinn behalten. Erkennbar bezieht sich die „arme alte Esther Wolf“ auf die apokalyptischen Traditionen der hebräischen Bibel (Jes 2,4; Ez 7; Dan 7,10) und ihrer neutestamentlichen Ausformung. Aber sie überbietet diese religiösen Vorstellungen in ihrem Fluch noch: während in den biblischen Texten die Verbrecher beim letzten Gericht zur Rechenschaft gezogen werden [davon handelt Dantes 'Inferno'], soll „ihm“ nicht einmal das widerfahren: Selbst am Auferstehungstage, nicht gedacht soll seiner werden! In einer Erinnerungskultur wie der jüdischen ist die Verdammung dazu, nicht erinnert zu werden, die schlimmste Strafe. Es ist die absolute Inversion des biblischen „Zachor: Erinnere Dich!“[3]

Deutlich ist aber, und so wird es von Heine auch vorgestellt, indem er das Gedicht in seinem Gesamtwerk unter Lamentationen einordnet, dass wir es hier mit einem Klagelied eines Opfers zu tun haben. Das festzuhalten ist für das Weitere wichtig. Es ist keine abstrakte Lehre, keine ethische Kategorie, kein ethischer Imperativ, sonders das von keinem anderen substituierbare Recht eines Opfers, darauf zu beharren, dass der Täter dem Vergessen anheimgegeben werden solle. Letztlich ist es ein Ausdruck der „Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge" (Max Horkheimer). Aber es ist kein Rechtssatz der so formuliert wird, sondern es ist ein Ausdruck einer Klage. Und hier gilt: „Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen“ (Theodor W. Adorno).

Nun stellt sich die Frage, ob daraus ein Prinzip für die gemacht werden kann, die nicht Opfer sind, sondern allenfalls die Perspektive der Opfer einnehmen bzw. das Geschehen kommentierend begleiten wollen. Denn sie müssen nun gnadenloser sein, als es Gott nach der religiösen Überlieferung im Jüngsten Gericht ist. Wenn „der Mensch ein essentiell forensisches Wesen“ ist, wenn „es jedem Menschen darum [geht], sich, vor welcher Instanz auch immer (Mitmenschen, eigenem Ich, Gott), zu rechtfertigen“,[4] dann ist die Verweigerung eben inhuman. Wer meint, er gebe den Opfern Menschlichkeit, indem er dem Täter seine nimmt, macht sich in letzter Instanz dem Täter gleich, der mit dem Leben auch die Namen seiner Opfer auslöschen wollte.


Josef K.

Um das forensische Wesen Mensch kreist Franz Kafkas nachgelassener fragmentarischer Roman „Der Prozess“.[5] Theodor W. Adorno hat den Prozessroman in seinen Aufzeichnungen zu Kafka einen „Prozess über den Prozess“ genannt.[6] Das ist nicht unplausibel. Im Grunde ratifiziert sich hier ein Satz aus den Aphorismen von Kafka:

Nur unser Zeitbegriff lässt uns das Jüngste Gericht
so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht
.[7]

Bereits der erste Satz des Romans stimmt die Leser*innen darauf ein, dass hier einem Menschen alles genommen werden wird, was ihm wichtig ist, am Ende auch das Leben – er stirbt „wie ein Hund“. Der erste Schritt ist aber die Reduktion des Betreffenden auf ein Namens-Kürzel:

Jemand musste Josef K. verleumdet haben,
denn ohne dass er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet.

Eigentlich ist dieser Vorgang paradox, denn im Recht spielen vollständige Namen eine besonders wichtige Rolle. Wir dürfen vor Gericht als Angeklagte die Aussage zur Sache verweigern (Aussageverweigerungsrecht), was wir nicht verweigern dürfen, sind die Angaben zur Identität (Identitätsfeststellung). Jeder Betroffene muss wahrheitsgemäß Name, Vorname, Geburtsdatum und Geburtsort sowie den aktuellen Wohnort nennen. Die Kürzung des vollen Namens auf den Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens dient dagegen dem vorläufigen Schutz des Beschuldigten, der ja noch nicht verurteilt ist und dem durch die Nennung des vollen Namens im Falle seiner Unschuld immenser Schaden entstehen könnte. Es gehört zu den Widerwärtigkeiten der Gegenwart, dass einige Presseorgane bei Verbrechen nicht schnell genug den vollen Namen der mutmaßlichen Täter*innen nennen können – ohne Rücksicht auf die noch nicht erwiesene Schuld des Täters. Medien erweisen sich hier als Ankläger, Richter und Vollstrecker zugleich.

Darum geht es aber im aktuellen Fall gerade nicht. Denn wir beobachten neben der insbesondere aus der BILD-Zeitung vertrauten Praxis, den Beschuldigten von Anfang an mit vollem Namen zu benennen und damit ihn und sein Umfeld identifizierbar zu machen, die gegenläufige Tendenz, also dem als Täter Beschuldigten absichtsvoll den Namen zu nehmen, nicht um ihn zu schützen, sondern um ihn zu strafen. Auch das hat historische Vorbilder. Ein berühmtes Beispiel ist der Versuch des nationalsozialistischen Staates, den Juden ihre konkrete Identität zu nehmen, indem sie auch per Namen „als Juden“ kenntlich gemacht wurden. Die Namensänderungsverordnung von 1939 zwang Deutsche Juden, die bislang andere als eindeutig ‚jüdische‘ Vornamen getragen hatten, zusätzlich Israel bzw. Sara als Vornamen zu führen. Im Rechts- und Geschäftsverkehr mussten sie einen Namen tragen, der sie als ‚jüdisch‘ kennzeichnete. Ihre Individualität und Vielfalt wurden unter eine Chiffre subsumiert. Auch die Häftlingsnummern in den Konzentrationslagern und die Tätowierungen in Auschwitz haben eine analoge Funktion: Die Häftlingsnummer ersetzte im Lager den Namen der gefangenen Personen. Wo Menschen als Individuen keine Rolle mehr spielen (sollen), reichen auch Chiffren und Nummern.

All dies dient der De-Humanisierung. In diesem Sinne haben Klaus Mann und Theodor W. Adorno auf die Vorwegnahme des Dritten Reiches in den Schriften von Kafka verwiesen: „Kafkas Prophezeiung von Terror und Folter ward erfüllt.“[8] In Kafkas „Der Prozess“ spielt das insofern eine Rolle, als dass das inkriminierte Subjekt, eben jener Josef K., systematisch über Anklage, Gericht und Richter im Unklaren gelassen wird. Er ist bzw. fühlt sich umstellt von einem alles umgreifenden System. Adorno beschreibt unter Aufnahme der Vorstellung des Lebensbuches, in das alle Taten eines Menschen eingezeichnet sind, wie fatal die Eingriffe der Macht in diese religiöse Vorstellung sind:

Kafka nimmt die Schmutzspuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht in der Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Denn keine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende, die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zusammenpresst; geschlossen logisch durch und durch und des Sinnes bar wie jegliches System.[9]

Und diese De-Humanisierung setzt bereits da ein, wo dem Einzelnen nicht mehr sein Namensrecht zugestanden wird. Das aber ist nicht zuletzt der theologische Kern von Jesaja 43, 1:

Hab keine Angst, denn ich habe dich befreit,
ich habe deinen Namen gerufen, zu mir gehörst du.

Über den Entzug von Namen entscheidet keine Gesetzesmaschinerie, keine anonyme Macht, keine Zivilgesellschaft. Es ist das Schlimmste, was im Blick auf das gebotene „Erinnere Dich“ einem Menschen oder einem Volk oder einem Geschehen geschehen kann.[10]

Wer einen Menschen unkenntlich machen (und damit ent-subjektivieren) will, dürfte konsequenterweise aber auch nicht mehr von Thomas R. schreiben, sondern müsste – wie im ersten Teil des Wikipedia-Artikels zum Anschlag in Hanau 2020 – immer nur vom Täter sprechen. Es wäre keine damnatio memoriae im klassischen Sinne, sondern eine Konvention, auf die man sich einigt. Wenn man aber weiterhin von Thomas R. schreibt, gleicht man den Täter den Opfern an, deren Nachnamen aus Opferschutzgründen oft eben auch abgekürzt werden.

In Wirklichkeit geht es aber um etwas anderes, nämlich um ein mythisches Relikt in aufgeklärten Zeiten. Wer den Namen des Attentäters nicht nennt, möchte ihn mit einem Bann belegen. Bann hier verstanden als „die juristische oder religiös aufgeladene Sanktion des Ausschlusses eines abweichlerischen Individuums oder einer Gruppe zum Zwecke der Aufrechterhaltung einer als legitim angesehenen Ordnung.“[11] Es geht m.a.W. um einen gesellschaftlichen Exorzismus.


Der, dessen Name nicht genannt werden darf

In den Romanen rund um Harry Potter von Joanne K. Rowling[12] gibt es zur Freude und zum Schauer der jugendlichen Leser*innen jene Figur, deren Name nicht genannt werden darf, und die dennoch als der geheime Motor der meisten Geschehnisse angesehen werden kann. Und schon die zweite Umschreibung für diese Figur führt ziemlich genau ins Zentrum des Problems. Sie lautet: Du-weißt-schon-wer. Schon die Differenzierung zwischen diesen beiden Umschreibungen ist interessant. Da gibt es die vielen, die ahnen, dass es da einen Namen gibt, der sich mit dem Bösen und dem Schrecken verbindet, aber sie kennen diesen Namen nicht und sollen ihn möglichst auch nicht kennenlernen. Und dann gibt es da die Gruppe jener, die durchaus den Namen des Unholds kennen, es aber nicht für angebracht halten, ihn laut auszusprechen und deshalb mit einer Chiffre reagieren. Darin spiegelt sich nicht zuletzt die Diskussion um Attentäter und deren Benamung in den westlichen Ländern. Da gibt es auch die Gruppe derer, die durchaus den Namen des jeweiligen Attentäters kennen, aber sich untereinander in ‚volkspädagogischer‘ Absicht verabreden, Du-weißt-schon-wen in der Öffentlichkeit nicht namentlich zu nennen. Und es gibt die große Gruppe jener, die sich normalerweise nicht die Mühe machen, dem Namen des – sie durchaus interessierenden – Attentäters nachzuforschen, und die sich mit dem Urteil begnügen müssen, aus therapeutischen Gründen sich von jener Figur fernzuhalten, deren Name nicht genannt werden darf. Beides sind mythische Figuren.

Du-weißt-schon-wer indiziert zudem, dass es mit dem Vergessen und Verdrängen nicht weit her ist, ja, dass die Tabuisierung der Namensnennung für den Ruhm des Betreffenden wirksamer ist als jedes direkte Aussprechen des Namens. Im ersten Harry-Potter-Roman ist noch kein Hauptprotagonist aufgetreten, da wird Du-weißt-schon-wer ins Bewusstsein der Leser*innen gehoben.

Freuen wir uns, denn Du-weißt-schon-wer ist endlich von uns gegangen!

flüstert ein kleiner alter Mann und verschwindet wieder von der Bildfläche. Aber bereits das erste Gespräch zwischen zwei Zauberern offenbart dann den wahren Namen des Gefürchteten: Voldemort. 50 Seiten später erfahren dann die Leser*innen den genaueren Kontext des Tabuisierten, weil Harry Potter seine eigene Geschichte erst vermittelt werden muss.

Der Journalist und Schriftsteller Yassin Musharbash hat in der ZEIT Bemerkenswertes zur Debatte um die Nicht-Nennung der Namen von Terroristen geschrieben und Harry Potter aufgreifend vor der Voldemortisierung der Debatte gewarnt:

Erst die Voldemortisierung von Terroristen lässt uns machtlos erscheinen.[13]

Die fortdauernde Mystifizierung des Bösen (der, dessen Name nicht genannt werden darf) benennt präzise den nicht gebrochenen Bann. Plötzlich geht es nicht mehr um „Die Banalität des Bösen“[14], sondern ganz im Gegenteil, um das Erzeugen eines Mythos. Und die Frage ist, wem hilft das?


Adolf H. und Adolf E.

Die Frage, die sich darüber hinaus angesichts der deutschen Geschichte verschärft stellt, lautet: Warum werden nur die ‚kleinen‘ Massenmörder tabuisiert, die ‚großen‘ aber nicht? Niemand käme auf die Idee, künftig den für bis zu 100 Millionen Tote verantwortlichen Adolf H. nicht mehr beim Namen zu nennen. Es ist jener Mann, der schon 1919 meinte:

„Mit den Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder.
Ich aber beschloss, Politiker zu werden.“ [Mein Kampf, S. 225]

Und dennoch unterhalten wir in Deutschland einen Fernsehsender namens ZDFinfo, der gefühlt rund um die Uhr über Adolf H. berichtet: „Hitlers Reich privat“ – „Hitlers Ende“ – „Hitler privat“ – „Das Leben des Diktators“ – „Geheimnisse des Dritten Reiches: Hitlers Familie“ – „Hitlers Ende“ – „Hitler und das Geld“ – Hitler, wie ich ihn sah“ usw. usf. In der Wikipedia hat selbst Blondie, der Hund von Adolf H. einen eigenen Artikel. Und die ganze Welt ist voll von Menschen, die ihm nacheifern wollen, nicht nur jene dummen Verblendeten, die sich mit der Zahl 88 etikettieren. Dennoch findet man in der Literatur nur selten Versuche, hier eine Damnatio Memoriae zu vollziehen. Selbst Brecht, der ab und an den Spottnamen „Der Anstreicher“ verwendet, geht im gleichnamigen Gedicht anders vor:

Der Anstreicher Hitler
Sagte: Liebe Leute, lasst mich ran!
Und er nahm einen Kübel frische Tünche
Und strich das deutsche Haus neu an.
Das ganze deutsche Haus neu an.[15]

Auch beim Buchhalter des Massenmordes, Adolf E., machen wir es nicht anders. Wir sprechen nicht von „E. in Jerusalem“[16], sondern benennen konkret den Verantwortlichen mit Namen: Adolf Eichmann. In Frage steht nur, wie wir ihn einordnen, ob wir ihn mystifizieren oder nicht.

Von [Hannah Arendt] stammt in diesem Zusammenhang der Begriff der „Banalität des Bösen“ … Arendt betonte, dass … die mögliche Banalität des Bösen nur auf der Ebene des Tatsächlichen liege. Eichmann sei einer der „größten Verbrecher“ seiner Zeit gewesen. Sie beschrieb Eichmann als „Hanswurst“, „schier gedankenlos“, „realitätsfern“ und ohne Fantasie, dem man „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen“ könne. Die Lektion des Prozesses sei, dass ein solcher Mensch derart viel Unheil angerichtet habe. Hinzu kam die Art des Verbrechens, die nicht einfach kategorisierbar sei. Was in Auschwitz geschah, sei ein beispielloser „industrieller Massenmord“ gewesen.[17]

Und da könnte man fragen: Sind die Benennung und konkrete Analyse des Täters nicht viel entlarvender als seine mythische Bannung?


Damnatio memoriae

Ich möchte noch einmal einen Schritt zurückgehen, und zwar zur antiken Tradition der Damnatio memoriae, die eine Fortsetzung bis in die Gegenwart gefunden hat. In Ägypten ist die Damnatio memoriae zunächst einmal ein Akt der Herrschaftssicherung bzw. Volksbefriedung. Nach den revolutionären Veränderungen durch Echnaton und seinem Nachkommen wird nach dem Scheitern seiner Bewegung die Erinnerung an dieser Zeit ausgelöscht. Es hat aber nicht verhindern können, dass Echnaton und Tutanchamun heute eher zu den berühmtesten Pharaonen der ägyptischen Geschichte zählen. In Rom ließ der Senat die Kaiser Caligula, Nero, Domitian, Commodus, Geta sowie Elagabal und Maximinus Thrax mit einer Damnatio memoriae bestrafen. Die Bildnisse dieser Kaiser wurden zerstört oder beschädigt, mitunter aber auch in Bildnisse anderer Personen umgearbeitet. Gebracht hat es nicht viel:

Die moderne Forschung schätzt den Sinn der damnatio memoriae vor allem in Rom dabei heute meist anders ein als früher: Die Maßnahmen sollten demnach keineswegs wirklich zu einem Vergessen des Betroffenen führen, vielmehr wurde die Erinnerung an ihn durch die Verfluchung seines Namens bewusst wachgehalten – nicht zufällig kennt man fast jeden, der in Rom der damnatio verfiel, mit Namen. Oft lässt sich sogar zeigen, dass die Tilgung von Namen und Bildern der Betroffenen absichtlich unvollkommen blieb: Es sollte erkennbar bleiben, dass etwas entfernt wurde. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erinnerung an das Vergessen“.[18]

Gleiches gilt für den berühmtesten griechischen Fall: der des Herostratos. Er ist der Ahnherr all jener, die nur deshalb einen Anschlag begehen, um sich einen Namen zu machen. Herostrat will berühmt und unvergessen sein und setzt deshalb 356 v.Chr. den Tempel der Artemis in Ephesus in Brand, eines der sieben Weltwunder. Die Griechen beschließen daraufhin, das Verbrechen selbst und vor allem den Verbrecher aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Und daran halten sich auch viele Historiker der Zeit. Dennoch wissen wir von ihm, weil u.a. Valerius Maximus (1. Jh. n.Chr.) in seinen „Neun Bücher erinnernswerter (sic!) Taten und Aussprüche“ davon berichtet – auch wenn er den Namen nicht nennt.[19] Andere tun es aber doch. Auch hier triumphiert die Erinnerung über das angezielte Vergessen.


Vaporisiert

Die moderne Form der Damnatio memoriae, die sich dann freilich nicht mehr gegen Herrschende oder Verbrecher, sondern gegen die Unterdrückten wendet, ist die in George Orwells Roman 1984 beschriebene Vaporisierung von Menschen und der Erinnerung an sie. Vaporisierung (verdampfen) ist dabei der euphemistische Ausdruck für die Ermordung.

Immer war es nachts - die Verhaftungen fanden unabänderlich nachts statt. Das plötzliche Hochfahren aus dem Schlaf, die derbe Hand, die einen an der Schulter packte, die Lichter, die einem die Augen blendeten, der Kreis harter Gesichter um das Bett. In der überragenden Mehrzahl der Fälle fand keine Gerichtsverhandlung statt, kein Bericht meldete die Verhaftung. Die Menschen verschwanden einfach, immer mitten in der Nacht. Der Name wurde aus den Listen gestrichen, jede Aufzeichnung von allem, was einer je getan hatte, wurde vernichtet; dass man jemals gelebt hatte, wurde erst geleugnet und dann vergessen. Man war ausgelöscht, zu nichts geworden; man wurde vaporisiert, wie das gebräuchliche Wort dafür lautete.[20]

Er wusste, dass in der Nische neben ihm die kleine Frau mit dem aschblonden Haar tagein, tagaus damit beschäftigt war, aus der Presse die Namen von Menschen herauszusuchen und zu streichen, die vaporisiert worden waren und die man infolgedessen so behandelte, als hätten sie niemals existiert.[21]

So ergeht es beispielsweise Syme, einem Arbeitskollegen des zentralen Protagonisten des Romans, der eigentlich für die Neusprech-Abteilung arbeitet und eines Tages verschwindet und schließlich offiziell nie existiert hat.

In den Diskussionen um das Verbrechen von Hanau spielt die Vaporisierung keine Rolle, denn es gibt ja keine staatlichen Interventionen, die verlangen, die Erinnerung an das Geschehen oder den Täter zu löschen, um die Bevölkerung kontrollieren zu können.

Vergleichbar ist nur die Intention einiger Medienethiker, „aus der Presse die Namen von Menschen herauszusuchen und zu streichen“. Das geschieht natürlich mit besten Absichten, etwa um Nachfolgetaten zu verhindern. Man muss aber sehen, wie auch das dazu beiträgt, den Täter zu entmenschlichen. Und da gilt es dann doch, den Satz von Yassin Musharbash zu bedenken, den dieser im Kontext des Anschlags von Christchurch geschrieben hat: „Der Mörder war ein Mensch – kein Ungeheuer.“ So werde der Täter zu „jemandem, dem mehr Macht zugeschrieben wird, als er in Wahrheit hat.“[22] Stattdessen geht es darum, ihn zu entmythologisieren.


Das Mem von der Nicht-Nennung des Namens

Auffällig beim Blick auf die Berichterstattung in der Nachbetrachtung der verschiedenen Terroranschläge der letzten Jahre ist das Narrativ, man habe in der Zeitungsredaktion lange darüber diskutiert, ob man den Attentäter beim Namen nennen solle und sich schließlich entschieden, ihn nicht zu nennen. Angesichts der Fülle dieser sich wiederholender Artikel[23] ist man geneigt, es sowohl als ethische Herausforderung für Journalisten wie auch als sich ausbildendes Mem zu verstehen. Das Mem lautet nicht: wir verzichten auf die Nennung des Namens, sondern: wir ringen darum, ob wir den Namen nennen sollen, also: wir sind Journalisten im Gewissenskonflikt. Wenn es tatsächlich ein solcher Konflikt ist, müsste man nachvollziehbare, vernünftige Argumente lesen. Dafür ist die Argumentationslage aber ziemlich dürftig, empirische Untersuchungen liegen bisher nicht vor, spekulative Motive und willkürliche Thesen bestimmen das Feld.

Einleuchten würde der Gewissenskonflikt ja, wenn es darum ginge, ob man nicht nahezu vollständig darauf verzichten solle, über Terroranschläge zu berichten. Das hätte Parallelen im präziser erforschten Werther-Effekt und der grundsätzlichen Frage, ob man bei Suiziden berichten soll. Denn erkennbar bietet die Berichterstattung bei Suiziden jenen, die selbst überlegen, sich umzubringen, mögliche Inszenierungsmuster. Da ist es jedoch gleich, wer sich umbringt, sondern wichtig, wie sich jemand umbringt. So gesehen bildet die Berichterstattung von Attentaten mit PKWs oder LKWs eventuell für Terroristen ein Muster aus, das sie sich aneignen könnten. So hatten ja auch die Propagandazeitschriften der Daesch bestimmte Inszenierungsstrategien für Nachahmungstäter vorgestellt. Und es wäre eine Anfrage an den Journalismus, dessen Aufgabe es ja ist, über Geschehnisse zu berichten, ob er im konkreten Fall darauf verzichtet. Das Mem mit dem Verzicht auf die Nennung des Namens ermöglicht dem Journalismus nun, vom heroischen Konflikt um die Berichterstattung zu erzählen und dennoch mit einer kleinen marginalen Einschränkung die Geschehnisse ausführlich darzustellen. Mich überzeugt das nicht.

Rationalisiert wird das Vorgehen der entsprechenden Presseorgane mit dem zweiten Argument, das ich eingangs nannte: dass man verhindern wolle, dass der Attentäter sich mit der Tat einen Namen macht, auf den dann andere sich berufen können. Dafür gibt es aber zum Beispiel beim Attentäter von Hanau keine Indizien. Nur indirekt kann man schlussfolgern, dass er sich selbst auf Anders Breivik bezieht oder vielleicht auch Äußerungen von Björn Höcke gelesen hat. Explizit wird das in seinem Text nicht. Und warum sollte sich ein Nachfolgetäter auf einen geistesgestörten Attentäter berufen, der rechter Propaganda erlegen ist und gezielt Nicht-Bio-Deutsche tötet? Die Nachahmungsdebatte kann sich daher erkennbar nur auf die Tat und nicht auf den Täter beziehen. Und genau das erörtert der Journalismus nicht. Tatsächlich gilt es zu überlegen, wie die Berichterstattung über die Anschläge eingehegt werden kann. Verhindern kann man sie nicht. Aber vielleicht lässt sich das Framing ändern. Die zu erörternde Frage für die Zukunft lautet: Wie kann die für eine Gesellschaft wichtige Erinnerungskultur gegen das Vergessen, die wir nicht zuletzt den Opfern schulden, mit der Vermeidung von Nachfolgetaten in Einklang gebracht werden? Die Antwort darauf kann jedenfalls nicht in der De-Humanisierung der Täter liegen.


Anmerkungen


[1]    Ehregott Andreas Christoph Wasianski: Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beitrag zur Kenntniß seines Charakters und seines häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm. Nicolovius, Königsberg 1804, Seite 36.

[2]    Heine, Heinrich: Nicht gdacht soll ihrer werden. In: Heinrich Heine: Sämtliche Werke. In vier Bänden ; [nach dem Text der Ausgaben letzter Hand], 1 - Gedichte (Winkler Weltliteratur : Dünndruck-Ausgabe), S. 840–841.

[3]    Yerushalmi, Yosef Hayim (1988): Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin: Wagenbach.

[4]    Art. Rechtfertigung, Fahlbusch, Erwin (Hg.) (1986): Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie. 3. Aufl., Neufass. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[5]    Kafka, Franz (1976): Der Prozeß. Roman. 597.-621. Tsd. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer-Taschenbücher, 676).

[6]    Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka GS 10.1, S. 283

[7]    Franz Kafka, Aphorismen. Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg

[8]    Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka GS 10.1, S. S. 272.

[9]    Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka GS 10.1, S. 268.

[10]   Die ambivalent formulierte Geschichte Israels mit den Amalekitern (Wenn es so weit ist, lösche jede Erinnerung an das amalekitische Volk unter dem Himmel aus. Vergiss das nie!) ist die einzige Geschichte, bei der es um das intendierte Vergessen geht, aber auch sie steht unter dem Imperativ des „Erinnere Dich!“.

[11]   Art. Bann (Recht) in der Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Bann_(Recht)

[12]   Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und der Stein der Weisen (Harry Potter, 1). Hamburg. Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und die Kammer des Schreckens (Harry Potter, 2). Hamburg. Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und der Gefangene von Askaban (Harry Potter, 3). Hamburg. Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und der Feuerkelch (Harry Potter, 4). Hamburg. Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und der Orden des Phönix (Harry Potter, 5). Hamburg. Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und der Halbblutprinz (Harry Potter, 6). Hamburg. Rowling, J. K. (2018): Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (Harry Potter, 7). Hamburg.

[13]   Musharbash, Yassin (2019): Terror in Christchurch. Der Mörder war ein Mensch – kein Ungeheuer. Hamburg. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/politik/2019-03/kommentar-darf-man-den-namen-nennen, zuletzt aktualisiert am 22.03.2019.

[14]   Arendt, Hannah; Mommsen, Hans (2017): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Erweiterte Taschenbuchausgabe, 14. Auflage. München, Berlin, Zürich: Piper (Piper, 6478).

[15]   Brecht, Bertolt (1976): Gesammelte Werke in 20 Bänden. 101. - 112. Tsd. Hg. v. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Werkausgabe). Band 9, S. 444f.

[16]   Arendt, Hannah; Mommsen, Hans (2017): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. A.a.O.

[19]   Herder merkt in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität kritisch an: „Der Gemeingeist (public spirit) vermindert sich außerordentlich, kommt je mehr und mehr aus der Mode und wird noch mehr abnehmen, wenn er aufhört, von einer guten Moral und der wahren Religion, wie selbst die gesunde Vernunft sie uns lehrt, unterstützt zu werden. Sogar die Bessern von der entgegengesetzten Seite nehmen kein andres Principium mehr als die Ehre an. Bei ihnen aber heißt ein Mann von Ehre schon der, der nichts tut, was sie für niederträchtig halten. Und wenn sogar einer aus Laune, oder um seine Ehrsucht zu befriedigen. Ströme Blutes vergießen und alles übereinander werfen würde, so wäre ihnen das alles nichts, und selbst ein Herostrat würde ihnen ein Held sein.“

[20]   Orwell, George (Hg.) (2013): 1984. Roman. Unter Mitarbeit von Michael Walter und Herbert W. Franke. 36. Aufl. München: Ullstein (Ullstein-Taschenbuch, 23410). S. 23.

[21]   Ebd., S. 50

[22]   Musharbash, Yassin (2019): Terror in Christchurch. Der Mörder war ein Mensch – kein Ungeheuer. Hamburg, a.a.O.

[23]   Vgl. MainpostTagesspiegelFAZZEITSPIEGELtaz

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/am690.htm
© Andreas Mertin, 2020