Blow up

Oder: Mein digitales Eckfenster

Andreas Mertin

Das ist ein Screenshot der Webcam an der Piazza di Spagna unterhalb der Spanischen Treppe in Rom. Angefertigt habe ich den Screenshot am Abend des 22. März 2020. Ich verfolge seit Tagen die Aktivitäten auf dem Platz vor der Webcam, weil ich sie für eine der interessantesten Webcams während der Corona-Krise halte. Ich nutze die Webcam sozusagen als digitale Form des Eckfensters aus der berühmten späten Erzählung von E.T.A. Hoffmann „Des Vetters Eckfenster“. Wie dieser bin ich zwangsweise auf mein Büro beschränkt und statt aus dem Fenster auf die PKW-umsäumte Grünfläche vor meiner Wohnung zu schauen, nutze ich die digitalen Möglichkeiten der Gegenwart und schaue in Italien „aus dem Fenster“, genauer aus dem ‚Webcam‘ genannten digitalen Eckfenster auf die Piazza di Spagna. Der Blick entspricht dem eines berühmten Bildes von Piranesi.


Piranesi


Giambattista Piranesi (1720-1778), Veduta di Piazza di Spagna (um 1748)

Piranesi hat natürlich ein Interesse daran, einen mit Menschen belebten Platz zu zeigen, einen Platz zudem, der als Schnittstelle diverser politischer Interessen verstanden werden kann. Als Piranesi seinen Stich anfertigt, ist der Platz gerade einmal 25 Jahre alt. Seinen Namen verdankt er der spanischen Botschaft am Heiligen Stuhl, die bis heute (quasi im Rücken des Betrachters) an der Piazza Mignanelli liegt. Politisch hatte der französische König ein Interesse an einer städtebaulichen Gestaltung der Fläche, weil oberhalb der heutigen spanischen Treppe die von Frankreich finanzierte Kirche Trinità dei Monti liegt. Dem Wunsch, die Treppe als französisches Monument in Rom zu gestalten, konnte und wollte der Papst nicht entsprechen. Und so musste man sich auf einen Kompromiss einigen.

Die Fontana della Barcaccia mitten auf dem Platz, die 1629 von Pietro Bernini gestaltet wurde, geht auf eine mythische Geschichte zurück.

Angeblich wurde durch eine Tiber-Überschwemmung 1598 ein Kahn bis an diese Stelle getragen und blieb dort liegen. Und so hat Bernini den Brunnen auch gestaltet. Auf einer Radierung von 1691 kann man nicht nur den Brunnen, sondern auch die vormalige Platzgestaltung gut erkennen.


Interessen

Heute ist der Platz – gerade aus der Sicht mit der Webcam - nicht zuletzt deshalb ästhetisch interessant, weil im Laufe eines Tages das Sonnenlicht ganz unterschiedliche Farben der Häuser rund um den Platz zum Vorschein bringt; von der Verschattung der Häuser am Morgen, über ihre grelle Überblendung am Mittag, zu den Ockertönen des Nachmittags und zur toskanischen Strenge und Illumination am Abend. [Wer das nachvollziehen will, kann sich die Webcam im Zeitraffer eines Tages anschauen - eindrücklicher geht es kaum.]

Er ist soziologisch inspirierend, weil man hier – wenn auch aus der Ferne – das Verhalten der momentan auf ihre Häuser und deren engsten Umkreis mit gelegentlichen Ausflügen zum Einkaufen und zum Hunde Ausführen beschränkten Bevölkerung studieren kann; aber man sieht auch das komplexe Verhältnis der städtischen Polizei zur Bevölkerung in einer zugespitzten Krise, aber vor allem zu den Carabinieri.  

Kulturgeschichtlich ist das von der Webcam Beobachtete interessant, weil es jenen Ort einfängt, an dem vor 210 Jahren die Schriftsteller John Keats und Percy Shelley sowie der Maler Joseph Severn und vor 80 Jahren Giorgio de Chirico gelebt haben. Und wenn man am Brunnen links abbiegt, kommt man nach nur wenigen Schritten zu der Wohnung, in der Ingeborg Bachmann in Rom gelebt hat (Via Bocca di Leone 60).

Den Screenshot habe ich aber angefertigt, weil mich schlicht interessierte, was man alles auf so einer Momentaufnahme entdecken und „lesen“ kann. Was steckt im Bild, was man auf den ersten Blick gar nicht sieht? Ich lebe immerhin 1222 Kilometer Luftlinie entfernt vom beobachteten Ort, kann also nur über das spekulieren, was ich da sehe.

Auf der anderen Seite verfüge ich über die Mittel des 21. Jahrhunderts, die alles was wir tun, durchschaubar machen, also über zahlreiche Möglichkeiten, etwas, was sich dem betrachteten Bild nur ansatzweise entnehmen lässt, dennoch anschaulich werden lässt. Wie sehen die Zimmer rund um den Platz von innen aus, was gibt es in den Läden zu konsumieren?

Und wo ist eigentlich die Webcam angebracht, die es mir ermöglicht, dies alles zu beobachten? Hier müssten mir doch die zahlreichen Fotos, die Touristen, aber eben auch die von Google produzierten Streetview-Fahrten, Hinweise geben können. Und tatsächlich entdecke ich die Webcam am Geländer eines Balkons über dem aktuell „vorübergehend geschlossenen“ Restaurant Cucina & Vista. Die Lage der Webcam erklärt auch, warum man einen so guten Blick auf den Platz hat, sie thront nicht oben auf einem Hausdach, sondern ist nur wenige Meter hoch angebracht.


Literarische Konstruktionen

Im Spielfilm „Blow up“ von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966 geht es darum, dass ein Szenefotograf eher zufällig in einem Park ein Foto aufnimmt, auf dem er beim Entwickeln im Labor dann einen vollzogenen Mord zu erkennen meint. So etwas Dramatisches kann ich den Leser*innen im Folgenden (Gott sei Dank) nicht bieten. Ich habe nur einen Screenshot gemacht und schaue, was ich daraus lesen kann.

Entstanden ist die Idee zu diesem Impuls aus einem Telefon-Gespräch mit einer Freundin, bei dem wir beide (sie in der Schweiz, ich im Ruhrgebiet) auf das Bild der Webcam schauten, und uns darüber unterhielten, wie viel die Gefilmten eigentlich von der Webcam, die unnachsichtig ihr Verhalten aufzeichnet, mitbekommen. Zwar gehen normalerweise die einzelnen Handlungen in der Fülle der Individuen, die so eine Webcam festhält, unter. Das Verhalten des Einzelnen ist kontingent. Das ändert sich, wenn im Rahmen einer Krise wie der aktuellen Corona-Krise nur noch einzelne Subjekte vor das Auge die Kamera geraten. Sie werden sozusagen lesbar. Ich kann plötzlich sehen, wie sich Bürger während des Ausgehverbots zur Polizei verhalten, ob und wie sie untereinander kommunizieren und was ein Hotelier am Platz bedenken muss, der zwar keine Gäste mehr haben darf, dennoch sein Hotel aber in Schuss halten muss.

Bevor ich mich den Details zuwende, noch etwas zur „literarischen Konstruktion“. Das Blow-Up des Titels bezieht sich ja nicht nur auf den Spielfilm von Michelangelo Antonioni, sondern auch auf die fotografische Technik der extremen Vergrößerung von Bildern, um bisher nicht wahrgenommene Details zu studieren. Eine Webcam hat natürlich eine geringere Auflösung als eine professionelle Kamera, weshalb Blow-ups schnell zu schrecklichen Artefakten führen, die der Deutung im Wege stehen. Anders als zum Beispiel ein Bild, das Google von Hans Holbeins Werk „Die Gesandten“ mit 216 MB Daten und entsprechende Auflösung im Netz anbietet, umfasst so ein Screenshot einer Webcam-Aufnahme vielleicht 70 kb und 1920x1080 Pixel Auflösung. Blow-Ups im klassischen Sinne sind da allenfalls mit viel Phantasie möglich.

Des Vetters Eckfenster“ von E.T.A. Hoffmann aus dem Jahr 1822 gibt damit das zweite Stichwort für die narrative Ausgestaltung von Wahrnehmungen des Geschehens auf einem Platz. Der Vetter ist – wie die Betrachter*innen der Webcam auch – gefesselt an seinen Raum. Er kann nicht wie der Protagonist in Edgar Allan Poes Erzählung „Der Mann in der Menge“ einfach im Café aufstehen und dem Objekt, das in interessiert, hinterherlaufen. Wenn ein Mensch aus dem Blickfeld des Vetters gerät, ist er für ihn verschwunden und wenn ein Mensch aus dem Blickfeld der Webcam gerät, muss man schon viel Glück haben, um ihn auf einer anderen Webcam wiederzufinden. Aber eigentlich ist er verschwunden.

Was bleibt, ist die genaue Beobachtung dessen, was wir im Auge der Kamera der Webcam sehen, ganz so wie es uns der Vetter von seinem Eckfenster, die Kamera in „Blow up“ und nicht zuletzt natürlich auch James Stewart als kamerabewehrter Voyeur in „Das Fenster zum Hof“ vormachen.


Schauen wir also, was uns die Webcam-Aufnahme zeigt.


Was Bilder erzählen

Permanentes

Deutbares

1 – Das Museum
2 – Der Brunnen
3 – Der Tea-Room
4 – Das Hotel
5 – Das Design-Hotel

6 – Die dunkle Gestalt
7 – Das Fenster zum Platz
8 – Die Polizei in Aktion
9 – Das Fotoshooting der Carabinieri


Detail 1

Beginnen wir mit dem ersten Detail. Am rechten Rand des Screenshots sehen wir über einem Hauseingang ein Plakat, auf dem drei Figuren abgebildet sind, dazu der Titel „Keats-Shelly-House-Museum“. Leicht zu klären ist mit Hilfe des Internets, dass dies das Haus ist, in dem der britische Dichter John Keats (1795-1821) seit 1820 lebte und dort auch verstarb. Er liegt auf dem Protestantischen Friedhof in Rom begraben.

Auf dem Plakat sehen wir ihn im Vordergrund der Figurengruppe. Eingeladen hatte ihn nach Rom der britische Schriftstelle Percy Bysshe Shelly (1792-1822). Wir sehen ihn links hinten auf dem Plakat. Wer aber ist der Dritte im Bunde? Nun, es ist der britische Dichter George Gordon Byron (1788-1824), bekannt als Lord Byron.

Bemerkenswerterweise ist Mary Shelly (1797-1851), die populärkulturell sicherlich erfolgreichste Bewohnerin des Hauses, nicht auf dem Plakat abgebildet. Das mag daran liegen, dass das Plakat nur für eine aktuelle Ausstellung dort hängt, vielleicht ist Mary Shelly mit ihrem 1818 erschienenem Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ aber auch zu sehr Mainstream. 1826 wird sie einen apokalyptischen Science-Fiction-Roman veröffentlichen, der im Kontext unserer Betrachtung durchaus relevant ist. The Last Man „erzählt von einer futuristischen Welt, in der eine Seuche verheerende Schäden angerichtet hat“ (wikipedia). Der Roman ist aber nicht nur eine Erzählung einer europäischen Seuche (der Pest), die zu bewaffneten Konflikten führt, sondern auch eine Charakter-Studie der britischen Romantiker. Corona-Zeiten bieten ja vielleicht die Gelegenheit, einmal die Lektüre des Buches nachzuholen. 2018 erschien die erste ungekürzte deutsche Ausgabe unter dem Titel Der Letzte Mensch.


Detail 2

Das zweite Detail des Webcambildes, die Fontana della Barcaccia, habe ich schon kurz vorgestellt. Bei Heinrich Wölfflin (Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien) wird der Brunnen als Beispiel für einen Trend im Brunnenbau aufgeführt, diesen immer tiefer anzulegen.

Die Brunnen werden dann immer breiter und niedriger, das Becken später gar nicht mehr vom Boden abgehoben, sondern als Bassin in den Boden hineinverlegt (Berninis „Barcaccia“ auf der Piazza di Spagna).

Während die Webcam meine Tage begleitete, hört ich die ganze Zeit das Rauschen des Wassers des Brunnens. Dazu schreibt Wölfflin:

Das Wasser ist das Lieblingselement des Jahrhunderts. Der Stil verlangt nach dem Rauschenden. Rauschende Laubmassen, rauschende Ströme Wassers. Es wird ein gewaltiger Aufwand getrieben, um das Wasser möglichst reichlich und mit starker Kraft zu gewinnen.

Was ich darüber hinaus beobachten konnte, waren die Möwen auf dem Platz. Allgemein gelten sie als Plage in Rom. Es gibt einen bezeichnenden Vorgang, der im Gedächtnis haften geblieben ist: Im Januar 2014 fielen eine Möwe und eine Krähe über zwei Tauben her, die Papst Franziskus anlässlich des Angelus-Gebets gerade freigelassen hatte. Der Tagesspiegel schrieb seinerzeit:

Römer sind es gewohnt, auf der Piazza Navona oder dem Campo dei Fiori zuweilen eine Möwe zu erblicken, die eine Taube mit ein paar Schnabelhieben tötet, ihre Innereien vor den erschreckten Touristen verspeist und das Gefieder auf dem Kopfsteinpflaster zurücklässt.

Möwen bevölkern auch die Szenerie rund um die Piazza di Spagna und es wird berichtet, dass sie nicht nur die Krümel vom Boden aufpicken, sondern auch den Touristen die Sandwiches aus der Hand reißen. Diese Möwen sind nun durch die Ausgangsperre um ihr Brot gebracht. Ab und an sieht man eine durch das Bild der Webcam segeln, aber abgreifen können sie hier nichts mehr. Zu abendlicher Stunde, das konnte ich über mehrere Tage beobachten, treffen sich einige Möwen unter lautem Geschrei am Brunnen. Eine setzt sich jedes Mal auf das Heck des Kahns im Brunnen, während die anderen über den Platz stolzieren.


Detail 3

Ich wende mich nun dem Haus links der Spanischen Treppe zu, meinem dritten Detail. Auf dem Bild der Webcam ist selbst beim Blow Up wenig zu erkennen, ein Eingang mit kleinem Vordach, ein Schaufenster und eine Steintafel mit Bronzelettern an der Wand. Offenkundig ist das hier nicht irgendein Laden, sondern ein Kult-Ort. Hier hilft mir Google Maps weiter. Es handele sich, so werde ich informiert, um Babington’s Tea Rooms. Und tatsächlich hat dieser Laden einen eigenen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag. Danach wurde diese Institution 1894 von den Engländerinnen Isabel Cargil und Anna Maria Babington eröffnet mit dem festen Willen, der römischen Gesellschaft die englische Tradition des Afternoon Teas beizubringen. Und dieses Ansinnen war überaus erfolgreich. Es ist ein Kultort. Bis in die Gegenwart tragen die Kellnerinnen viktorianische Bedienstetenkleidung, wie man im Wikipedia-Artikel schön sehen kann. Und dort kann man auch lesen:

Während ihrer Dreharbeiten in den Filmstudios Cinecittà waren Filmstars wie u. a. Richard Burton und Elizabeth Taylor, Peter Ustinov und Claudia Cardinale im Tearoom zu Gast. Bekannt aus dieser Zeit ist die für Audrey Hepburn, die Babingtons Tearoom häufig besuchte, kreierte Schokoladentorte.

Was mich aber geradezu umgehauen hat, und was der Screenshot der Webcam belegt, ist der Umstand, dass diese Institution zum ersten Mal in ihrer Geschichte für längere Zeit geschlossen hat:

In der gesamten Geschichte Babingtons war der Tea Room nur ein einziges Mal für wenige Stunden geschlossen: in der Zeit, als die Alliierten Rom erreichten.

Man muss sich das vorstellen. Weder der Krieg noch der ja gegen die Engländer eingestellte italienische Faschismus konnte dieses Geschäft an seiner „Mission“ hindern. Es bedurfte einer globalen Seuche, um die Tür zu Babingtons Tea Rooms zu schließen.


Detail 4

Das vierte interessante Detail ist auf dem Screenshot nur ansatzweise zu erkennen, es handelt sich um ein erst vor wenigen Jahrzehnten eröffnetes Hotel mit einer interessanten Vorgeschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn 100 Jahre nach der Fertigstellung des Gebäudes eröffnete dort der Goldschmied Ernesto Pierret sein Geschäft. In Reiseführern der damaligen Zeit wird er als zweite Adresse nach dem Juwelier Castellani bezeichnet. Eine Spezialität war offenbar das Einfassen historischer Münzen und Fundstücke in zeitgenössischen Schmuck. Arbeiten aus seiner Hand finden sich heute auch im British Museum. Die Nachfahren von Pierret schreiben zur jetzigen Nutzung:  

Die Geschichte des Relais Pierret begann Ende des letzten Jahrhunderts mit dem Wunsch der Familie Micheli Gigotti, den Besitz des Palazzo Pierret auf der Piazza di Spagna aufrechtzuerhalten. Die Familie war seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Palast verbunden, als ihr Vorfahr, der Goldschmied Ernesto Pierret, aus Frankreich kam und den kleinen Palast auf der Piazza di Spagna kaufte. In diesen Jahren verlegte Pierret sein Geschäft nach Italien und der Palast trägt noch heute seinen Namen an seiner Fassade.

Die Familie Micheli Gigotti lebte seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Räumen des Palastes und trug dank der Werke des berühmten Malers Lorenzo Gigotti, des Vaters der heutigen Besitzer, zu seiner Bereicherung bei. Das Haus des Malers wurde zu einem Bezugspunkt für die internationale Kultur, und unter den Freunden, die den Salon von Micheli Gigotti belebten, wäre es leicht gewesen, Künstler wie de Chirico, Chagall und Guttuso zu treffen.

Die Nachkommen Laura, Carlo und Stefano Micheli Gigotti, die in diesem historischen Palast geboren wurden und viele Jahre lebten, beschlossen Mitte der 90er Jahre, eine Vision zu verfolgen: dieses geliebte Gebäude zu sanieren und es in Zimmer und Suiten für Touristen aus aller Welt  zu verwandeln. Ihr Ziel war es, eine ausgewogene Mischung aus Alt und Neu für einen exklusiven Tourismus auf der Suche nach Kunst, Kultur und Geschichte zu schaffen, verbunden mit allem Komfort.

Jetzt aber ist alles geschlossen, das Hotel ist still und unbelebt. Die Fensterläden der Zimmer mit Blick auf die Spanische Treppe sind verschlossen, abends flimmert kein Licht auf den Zimmern, kein Tourist betritt oder verlässt das Hotel. Es ist schlicht menschenleer, seines Zwecks enthoben.


Detail 5

Das fünfte Detail habe ich herausgegriffen, weil ich anfangs dachte, es handele sich um ein während der Corona-Epidemie geschlossenes Restaurant. Aber das war ein Irrtum, es ist ein während der Corona-Epidemie geschlossenes Design-Hotel und darüber hinaus eine während der Corona-Epidemie geschlossene Galerie.

piazzadispagna9 heißt das Ganze und Vogue Living meint, es sei „one of the 7 Luxury Hotels to visit in your life“. Das Haus selbst meint:

„Piazzadispagna9 is not an Art Hotel but an Art and Design Gallery which guests people in six all different in style suites”.

Mir hat es zu viel Coolness und Design und zu wenig Kunst, aber da hat ja jeder seinen eigenen Geschmack. Zumindest hat die Idee, in einem Artroom zu wohnen, etwas Faszinierendes. Und auf Tripadvisor gibt es sogar ein Nutzerfoto aus einem der Hotelzimmer in Richtung der Webcam, von der aus ich das Ganze betrachte.

Den stärksten nur denkbaren Kontrast bildet nun der folgende Bildausschnitt auf meiner Liste.


Detail 6

Wenn sich eine dunkle in einen Parker vermummte Gestalt wie auf dem sechsten Detail direkt neben einem Mülleimer bückt und etwas aufhebt, dann kann das vieles bedeuten. Man kann dann wie der Vetter in Hoffmanns Erzählung sich in die Person einfühlen und wilde Geschichten konstruieren, die aber dennoch angeblich der reinen Beobachtung entspringen. Oder man kann es runterbrechen auf einen Spaziergänger, dem bei der Abfallentsorgung etwas neben den Beutel gefallen ist. Spannender wäre natürlich das erste. Zumindest ist die Assoziation der aufgehobenen Pflastersteine in revolutionären Prozessen nicht sehr fernliegend. So steht im Handbuch der politischen Ikonographie:

„Dass sich das Volk bei Revolutionen Pflastersteine zu eigen machte, verdankte sich nicht nur ihrer nahezu ubiquitären Verfügbarkeit auf städtischen Straßen. Das Herauslösen der in Reihen verlegten Pflastersteine aus ihrer Ordnung bedeutete auch einen Angriff auf die herrschende politische Ordnung“.


Detail 7

Das siebte Detail führt uns direkt zum Film „Das Fenster zum Hof“. Dieses Bilddetail war der eigentliche Anlass, warum ich den Screenshot angefertigt hatte. Denn nachdem ich einige Tage und Abende die Webcam auf einem der Monitore auf meinen Schreibtisch hatte laufen lassen, bemerkte ich, dass mich ein Mann und eine Frau aus Fenstern vom gegenüberliegenden Haus beobachteten. Nicht wirklich natürlich, aber für einen Moment erschien es mir so.

Und tatsächlich waren die Fenster erleuchtet und man konnte zwei Personen sehen, die aus zwei benachbart liegenden Fenstern auf den Platz schauten. Für einen Moment invertierte sich das Beobachtungsverhältnis. Saßen dort L.B. „Jeff“ Jefferies (James Stewart) und Lisa Carol Fremont (Grace Kelly) und beobachteten mich? Aber musste ich dann nicht notwendig zu Lars Thorwald (Raymond Burr) werden, der gerade dabei beobachtet wird, wie er seine ermordete Frau wegschafft? Und hat die Figur im rechten Fenster nicht tatsächlich eine Kamera in der Hand? Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie selbst nur klassische Beispiele für Hoffmanns Vetter am Eckfenster, die daran gewöhnt sind, den Trouble auf dem Platz zu studieren und an dieser Gewohnheit auch dann festhalten, wenn es nur noch wenig – und doch so viel – zu sehen gibt.


Detail 8

Das achte Detail gibt eigentlich nur den Alltag der Polizia Roma Capitale während der Corona-Krise 2020 in der italienischen Hauptstadt wieder. Wann immer jemand die Piazza di Spagna durchschreitet, wird er von den diensthabenden Polizist*innen angehalten und um die Vorlage der Bescheinigung gebeten, die ihm diese konkrete Handlung auch erlaubt. Das ist ein komplexes Ritual. Nicht jeder wird angehalten, ältere Menschen mit einem Hund an der Leine oder einem Einkaufskorb am Arm bleiben in der Regel verschont, aber die meisten erwischt es doch. Und dann werden sie durch einen Zuruf angehalten und müssen in gebotenem Abstand zu den Polizist*innen ihren Zettel herauskramen. Dann werden sie gebeten, den Polizist*innen zum Auto zu folgen, die Heckklappe wird geöffnet und die auf der Schrift eingetragenen Daten werden abgeglichen. Ich weiß nicht, was genau kontrolliert wird, aber danach müssen einige umkehren, die meisten dürfen ihren Weg fortsetzen.


Detail 9

Das letzte und neunte Detail ist irgendwie nicht nur ein abschließendes Aperçu. Mir war vorher die Differenzierung der Polizeieinheiten in Italien kaum bekannt. Alle drei Formen treten auf der Piazza di Spagna auf, sie lassen sich gut an der Farbe und Gestaltung ihrer Autos unterscheiden. Die kommunale Polizia Roma Capitale mit ihren weißen Autos hatten wir ja schon in der Betrachtung des achten Details kennengelernt. Sie kümmert sich vor allem um die Regelung des Straßenverkehrs und die wie es heißt „kleineren Belange der Bevölkerung“. Daneben gibt es noch die Polizia di Strato (Staatspolizei) mit hellblauen Autos. Sie untersteht dem Innenministerium. Und schließlich gibt es noch die Carabinieri, die wir auf dem neunten Detail mit ihrem dunkelblauen Auto sehen. Sie unterstehen dem Verteidigungsministerium und versehen nach dessen Weisung Polizeidienst. Diese Aufteilung soll nicht zuletzt die Machtkonzentration in einer Hand bzw. einem Ministerium verhindern. Und tatsächlich verhalten sich die drei Einheiten ganz unterschiedlich. Und ich konnte auch beobachten, dass sie bei ihren Aufenthalten auf dem Platz kaum miteinander sprechen. Sie bildeten jeweils eigene Grüppchen.

Das Detail zeigt nun, wie eine Gruppe von Carabinieri ihre eigene Fotografin mitgebracht hatten, die – während die Polizia Roma Capitale gerade römische Bürger kontrolliert – unverdrossen professionelle Fotos von den Carabinieri vor der menschenleeren Spanischen Treppe während der weltweiten Corona-Krise anfertigte. Mehrfach wurde der Wagen umgeparkt und neu inszeniert. Die Carabinieri im Dienst des Staates während der Krise.

Es hat ein surrealistisches Moment. Zusammen mit den Autos des Militärs, die auch ab und an über den Platz fuhren, zeigt es aber auch den Moment an, bei dem die reine Beobachtung der Bewältigung einer Krise in die politische Machtübernahme umschlägt. Der Ausnahmezustand als Inszenierung mit fatalen Konsequenzen. Walter Benjamin schreibt im Ursprung des Trauerspiels:

Wer herrscht ist schon im vorhinein dafür bestimmt, Inhaber diktatorischer Gewalt im Ausnahmezustand zu sein, wenn Krieg, Revolte oder andere Katastrophen ihn heraufführen. Diese Setzung ist gegenreformatorisch. Aus dem reichen Lebensgefühl der Renaissance emanzipiert sich ihr Weltlich-Despotisches, um das Ideal einer völligen Stabilisierung, einer ebenso sehr kirchlichen als staatlichen Restauration in allen Konsequenzen zu entfalten.

Das ist dem betrachteten Screenshot eines Ausnahmezustands im Rom des Jahres 2020 noch nicht abzulesen, aber als Möglichkeit in ihm angelegt. Dem Faschismus war es immer mehr daran gelegen, sich zu inszenieren, als die Probleme der Menschen zu lösen. Das muss man noch nicht in diesem Bild sehen, es ist aber mitzudenken. Walter Benjamin warnt uns:

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/am694.htm
© Andreas Mertin, 2020