Human (in) space

Einige Gedanken zur Kunst von Alice Aycock

Karin Wendt


Alice Aycock: East River Roundabout adjacent to the Queensboro Bridge New York City. Foto von Roy Googin[1]

Über Raum und Zeit können wir genau genommen nur sprechen, indem wir beides als Voraussetzung unserer Erfahrung begreifen, auf der Welt zu sein. Raum und Zeit, erklärt Kant, sind Anschauungsformen, die aller Erfahrung zugrunde liegen. So lässt sich begründen, inwiefern unsere Möglichkeiten, etwas wirklich zu erkennen, von Anfang an begrenzt sind und bleiben. Das erkenntnistheoretische Nachdenken über Raum und Zeit terminiert also in gewisser Weise in der begrifflichen Unterscheidung von Erkenntnis und Erfahrung. Unser Fragen hört da aber nicht auf. Gegenwärtig erleben wir auch dies auf eine beklemmende und uns ängstigende Weise: die Frage nach Raum und Zeit endet nicht, wenn ich mir ihrer apriorischen Qualität bewusstwerde, in subjektiver und in praktischer Hinsicht beginnt sie dort erst.

In ästhetischer Perspektive stellt sich die Ausgangsfrage nach Raum und Zeit noch einmal anders. Unter den autonomen Voraussetzungen der Kunst fragen wir nach konkreten Weisen raumzeitlicher Erfahrung, um besser zu verstehen, inwiefern Raum und Zeit überhaupt für uns zur Frage werden. Darin liegt die Möglichkeit einer sinnlichen Erkenntnis, die uns über unser raumzeitliches Verhältnis zur Welt aufklären kann.

Der Raum des Ästhetischen ermöglicht die Erfahrung mit Raum und mit Räumen. Er eröffnet einen Zwischenraum, in dem wir unsere immer gegebene Raumbezogenheit und unsere sich stetig ändernden räumlichen Beziehungen erkennen können. In religiöser Perspektive ist es ein lebendiger Spiegel, insofern wir darin etwas vom Menschsein erkennen, weil wir von uns selbst absehen.

Alice Aycock

Ein solcher außerordentlich erkenntnisreicher, lebendiger Spiegel ist das künstlerische Werk von Alice Aycock. Sie wird 1946 in Harrisburg, Pennsylvania, geboren. Zu prägenden und ihren weiteren Lebensweg begleitenden Erfahrungen gehört das Zeichnen von Architekturmodellen, die ihr Vater entwirft, zuerst das vom eigenen Haus. Als Bauunternehmer für große Maschinenanlagen wie Wasserkraftwerke schult er ihr Auge für Konstruktionen und gibt seine Leidenschaft für gigantische, in die Landschaft greifende Industriearchitekturen an sie weiter; und er vermittelt ihr die Achtung vor Büchern und die Freude am Lesen und am Denken. Aycock erfährt aber auch früh, was Bewegungsverlust und Schmerz bedeuten. Ihr jüngerer Bruder ist an Mukoviszidose erkrankt; er begleitet ihren Werdegang; mit 36 Jahren stirbt er.

Die künstlerischen Werke von Aycock verändern sich im Laufe der Jahre stilistisch und formal, ähnlich einem Tanzstil, der auf die jeweils aktuelle Musik, den sich ändernden Rhythmus und das Lebensgefühl, antwortet – ein Bild, das Aycock selbst in Vorträgen über ihre Kunst verwendet und das auch darüber hinaus Analogien zu ihrer Kunst besitzt. Bis heute geht es Aycock in ihrer Kunst um die Ambivalenz von Räumen, um Struktur und Ereignis, um Ordnung und Zufall, und auch um klaustrophile und klaustrophobische Erfahrungen.

Beyond Minimalism: New York um 1970

Von 1964 bis 1968 studiert Aycock freie Kunst und Kunstgeschichte am Douglass College der Rutgers University in New Brunswick NY, wo unter anderen die Fluxus-Künstler Geoff Hendricks, Robert Watts, John Goodyear und Sam Weiner unterrichten. Sie besucht Galerien und Events in New York, sieht und hört, was in der New Yorker Kunstszene angesagt ist: Bilder und Collagen von Robert Rauschenberg, Choreographien von Yvonne Rainer, Musik von John Cage und Philip Glass. 1968 beginnt sie ein dreijähriges Studium am New Yorker Hunter College. Nach Reisen durch Amerika und nach Griechenland schreibt sie 1971 bei Robert Morris ihre Masterarbeit über den amerikanischen Highway: An Incomplete Examination of the Highway Network/User/Perceiver System(s).

Im selben Jahr lernt Aycock den Architekten und Netzwerker der New Yorker Kunstszene, Gordon Matta-Clark, kennen. Als Konzeptkünstler entwickelt Matta-Clark die Idee der Anarchitecture, ein Verfahren zur De-Konstruktion bestehender Architektur. Spektakulär und heute legendär sind seine Arbeiten an den New Yorker Piers, die so genannten Cuttings, bei denen er leer stehende Industrie­lofts mit der Motorsäge von innen zerlegte, so dass durch die Zerstörungen neue, nur noch partiell lesbare Architekturansichten entstanden. In den von Matta-Clark betriebenen Ausstellungsräumen in der 112 Greene Street treffen sich Künstler, Theaterleute, Architekten, Tänzer und Musiker. Die Frage, die im Raum stand, war, in welcher Hinsicht der Minimalismus, die Form der Moderne, die die Kunst und den kulturellen Diskurs bis in die 60er Jahre geprägt hatte, in Theorie und Praxis an ihr Ende gekommen war und wo die Möglichkeiten zu einer Weiterentwicklung oder Überwindung dieser Grenzen liegen könnten. Sie diskutierten strukturalistische Theorien und die politischen Ziele der Situationisten in Frankreich, und sie stellten sich gegenseitig ihre Arbeiten, Ideen und Konzepte vor.

„Der Raum“, sagt Aycock rückblickend, „war ein Schmelztiegel … Ich persönlich denke, dass wir viele andere Dinge hätten machen können; einige von uns hätten in die Finanzwirtschaft gehen können; wir hätten Ärzte, Wissenschaftler und Architekten sein können. Aber wir wollten experimentieren und spielen, und wir betraten diesen Freiraum. Ich habe es früher als einen Ort betrachtet, an dem alle Disziplinen ineinander übergehen und man mit ihnen spielen kann. (…) Man konnte magisch mit Philosophie, Wissenschaft, Architektur – all diesen verschiedenen Ideen oder Disziplinen – spielen und etwas erschaffen. Ich denke, dass wir alle das Außenseitertum geschätzt haben. Die andere Sache ist, dass New York bankrott war; jeder floh aus der Stadt. So konnten wir umherstreifen. Und Gordon konnte die ganze Arbeit an den Piers erledigen. Die Dinge waren dort völlig außer Kontrolle geraten. Vieles stand uns offen, und die Mieten waren günstig. Es war ein großartiger Ort, um jung zu sein und nichts zu verlieren zu haben.“[2]

Aycock nimmt all diese intellektuellen und kreativen Impulse auf. Und sie entwickelt eine starke Intuition für etwas, was man vielleicht das seismische Feld von Ideen nennen könnte. Für ihre eigene Arbeit sind in dieser Zeit die Arbeiten von Richard Serra wichtig, vor allem die Splashings, bei denen er durch das Schleudern von flüssigem Blei in einen Winkel zwischen Wand und Boden Formen schaffte und damit den Minimalismus, so Aycock, „rücksichtslos erweiterte“. Der Blick wurde vom Werk weg auf den anfänglichen Handlungsimpuls gelenkt, um danach im Werk die zur Form geronnene Handlung erkennen zu können. Der darin beschlossene reflektierende Kreislauf wird die Künstlerin in ihrer eigenen Kunst fortan beschäftigen.

Art and Landscape

Prägend für Aycocks künstlerische Anfänge war die damals neue Land Art, die in der von Matta-Clark kuratierten Ausstellung Earth Art 1969 programmatisch vorgestellt worden war. Aycock interessiert sich besonders für die Kunst von Michael Heizer. Sein Projekt Double Negative (s. Foto[3]), das erstmals Landschaft nicht als Umgebung, sondern als Material verwendet, war für ihre Künstlergeneration wegweisend.

Ein intellektueller Marker waren auch die Arbeiten und Schriften von Robert Smithson, vor allem sein Projekt Yukatan. Smithson hatte die nordamerikanische Halbinsel Yucatan bereist, die bekannt ist für ihre unberührte Natur und die architektonischen Ruinen der untergegangen Maya-Kultur; er installierte dort an verschiedenen Stationen unterschiedliche Konfigurationen von quadratischen Spiegelscheiben, in denen sich die jeweilige Umgebung bricht und endlos spiegelt. Die fotografischen Dokumentationen dieser vor Ort entstandenen Installationen vermitteln nun den paradoxen Eindruck von nicht lokalisierbaren Orten, insofern sie die natürliche Umgebung fragmentiert und endlos ineinander gespiegelt zeigen. Mit einem 1969 publizierten Essay[4] zum Projekt prägt Smithson den Begriff des nonsite, des Nicht-Ortes. Yucatan wurde im Theoriebereich der Bildenden Kunst zu dem postmodernen Bild für eine immer schon kulturell vermittelte bzw. gespiegelte Erfahrung.[5] Die Unterscheidung zwischen dem mit Bedeutung aufgeladenen, „metaphysischen“ Ort und dem Raum der Kunst als Nicht-Ort ist auch für Aycocks Kunst hermeneutisch wesentlich.

Im Übergang: transition forms

Aycocks frühe Arbeiten der 70er Jahre thematisieren zweierlei: die Wahrnehmung von Bewegung, d.h. die Situation des Betrachters und die Frage nach dessen Orientierung im Raum, und besondere Formen, die selbst Bewegung verkörpern. Die Künstlerin sucht nach Formen, die Bewegung vergegenwärtigen, nicht im Sinne der Abbildung einer sich bewegenden Form, sondern als generische und transitorische Formen im Sinne der bildhauerischen Notation für Bewegungschoreographien. Dabei lassen sich zwei Werkgruppen unterscheiden: die installativen, skulpturalen Objekte im Galerieraum und die ortsgebundenen und komplexeren Anlagen im Außenraum.

Gleichnischarakter hat die Arbeit The Machine that Makes the World (1979). Es ist ein Holzobjekt in der Form eines schiffsartigen Rumpfes, in dessen Innern wie in einer Art Labyrinth verschiedene Prozessvorrichtungen eingebaut sind: Schleusen, Sortierschächte, ein ringförmiger Transporttunnel. So seziert wird ein Getriebe sichtbar, das die Welt ‚am Laufen" hält, gleichbleibend, machtvoll, aber auch erbarmungslos und grausam. Strukturen, die das Leben verwalten, und den Spielraum für Freiheit begrenzen.

Exemplarisch für die skulpturale Realisierung einer transitorischen Form ist die Arbeit Stairs (These Stairs Can Be Climbed) aus dem Jahr 1974. Eine breite, raumfüllende Treppe, die, gerahmt von zwei kannelierten Säulen, bis fast unter die Decke reicht. Ja, die Treppe lässt sich besteigen, doch dieser quasi natürliche Reflex läuft ins Leere, die Treppe führt nirgendwo hin, sie erlaubt keine Aussicht, führt in keinen weiteren Raum oder erschließt eine neue Ebene. Im Gegenteil, sie führt am Ende in die Enge. Es ist eine Treppe ohne deren vertraute und sinnvolle Funktion. So entsteht im Betrachter das Bild einer Treppe als Form des Übergangs schlechthin. Die Treppe erscheint zudem als Teilstück einer virtuellen Sequenz. Diese Idee einer Isolierung von Elementen, die als Teil einer choreographierten oder komponierten Bewegung erscheinen, taucht in Aycocks Werk immer wieder auf, etwa in dem Project Entitled The Beginning of a Complex aus dem Jahr 1977 für die documenta 6 in Kassel. Die gerüstartige Holzkonstruktion, die als Teilstück einer im Bau befindlichen Gebäudeschalung dienen könnte, erscheint zugleich als ein architektonisches Fragment: singulär und vollkommen.

Eine zentrale Bedeutung im Bereich der semi-architektonischen Werke hat das Projekt Maze (1972). Die kreisförmige Konstruktion besteht aus vertikalen Holzpaneelen, die sich in fünf konzentrischen Kreisen zu einem im Durchmesser etwa zehn Meter großen Labyrinth ausdehnen. Auf dem spiralförmigen Weg führen sie den Betrachter zu sich selbst, erklärt Stella Jaeger, und beschreibt die Erfahrungen dieser Skulptur so:

„Indem dieser Weg ein weites Spektrum widerstreitender Gefühle von Vergnügen, Neugierde, Verunsicherung, Hoffnungen und Ängsten eröffnet, lässt er zugleich verborgene innere wie transzendente Wirklichkeiten präsent werden, in die die vielfältigen Bedeutungen labyrinthischer Strukturen, mit denen sich Aycock intensiv auseinandergesetzt hatte, eingegangen sind."[6]

Ein Hintergrund dieser Arbeit war Aycocks Beschäftigung mit den Publikationen des Kunsthistorikers Vincent Scully, der zur sakralen Architektur Griechenlands geforscht und u.a. kreisförmige Gräber, Rundtempel und das Labyrinth auf der Insel Knossos untersucht hat. Im Vergleich zu den antiken Stätten hat Aycocks Holzbau stärker vergänglichen Charakter und legt seine Struktur offen. Erst aus der Ferne entfaltet er seine archaische Anmutung. Die Vorstellung eines „heiligen Ortes“ taucht im Betrachter nur noch als vage Erinnerung auf und erweist sich in der Nähe als profaner Raum. Diese Ambivalenz interessiert Aycock. Was für eine Zeichenhaftigkeit entfalten Strukturen und Muster in der Fernsicht und was für Direktiven und Leitlinien entwickeln sie, wenn man in sie hineingeht? So erklärt sich, warum sie sich für das Liniennetz der Autobahnen interessiert, das sie beim Blick aus dem Flugzeug wahrnimmt, und fasziniert ist von orienta­li­schen Bazaren, mittelalterlichen Städten oder von singulären Architekturen wie dem Hawa Mahal (Palast der Winde) in Jaipur.

Die ihrer Arbeit zugrundeliegende Vorstellung eines Umwelt und Betrachter interrelierenden „psycho-physischen Raums“ beschreibt Aycock 1974 so:

„Im Allgemeinen spiegelt die … Arbeit die Vorstellung wider, dass ein Organismus sowohl auswählt als auch von der Umwelt ausgewählt wird. Die Strukturen, d.h. Räume und Konstruktionsmaterialien, wirken auf den Betrachter, gleichzeitig aber wirkt der Betrachter auf die Strukturen oder mit ihnen. Die Räume sind psycho-physische Räume. Die Arbeiten sind als erforschende Situationen für den Betrachter angelegt. Sie können nur erkannt werden, wenn man seinen Körper durch sie hindurchbewegt. Sie beinhalten empirische Zeit und Erinnerung. Die Werke sind mit Bezug auf ein bereits vorhandenes Landschaftsmerkmal platziert und wie ein griechischer Tempel aus der Ferne sichtbar. Es handelt sich um zielgerichtete Situationen, die das umfassen, was Peckham als ‚Zeichen eines orientierenden Übergangs‘ bezeichnet.“[7]

Kosmologie und Architektur

Die Idee der Korrespondenz zwischen der Form der Welt, wie wir sie vorfinden, und den Formen, die wir der Welt einzeichnen, indem wir uns in ihr bewegen, gehört zu den ältesten Versuchen, zu verstehen, welchen Ort der Mensch im Kosmos hat. Vieles von dem, was Aycock in ihrer Kunst beschäftigt, hat auch damit zu tun.

1973 entsteht das Projekt Low Building with Dirt Roof (for Mary). Carina Plath schreibt dazu:

„Das flache Gebäude, das nur aus niedrigen Mauern, einer Eingangsöffnung und dem mit Erde bedeckten Satteldach besteht, erscheint wie versunken oder wie ein Schutzgebäude archaischer Kulturen. Es ist in den Boden eingelassen und wenn man es betritt, wird man je nach eigener Disposition Geborgenheit oder Bedrängung empfinden.“[8]

Mich erinnert das Gebäude in frappierender Weise an die Gräberarchitektur der Etrusker, konkret an das Tumulus-Grab in der Banditaccia-Nekropole in Cerveteri.

Zur Bedeutung des Raums in der etruskischen Religion kann man im Artikel von Wikipedia nachlesen:

„Das kosmologische System der etruskischen Religion gehört zu den am stärksten strukturierten der Religionsgeschichte überhaupt und ist in dieser Form mit Sicherheit stark griechisch beeinflusst. Ihre Hauptprinzipien waren die orientatio und die divisio, also die genaue Ausrichtung aller Dinge an der kosmischen Struktur der Welt und deren genaue Unterteilung. … der Raum musste zu diesem Zweck rational ausgerichtet und in Sektoren unterteilt werden.“

Dieser Einteilung durch ein gleichsam unsichtbares Kraftnetz unterlag auch die Anlage von Gräbern, Häusern und Wegen und in der Folge all das, was daraus kulturell entsteht. Auch bei Aycocks Arbeit geht es um die räumliche Visualisierung einer existenziellen Schwellensituation; und es geht um den Versuch eines orientierenden Eingriffes in den zunächst undefinierten Raum, den Kosmos der Wirklichkeit.

Tornado, Wirbelwind, Turbulenzen

… sind Bedeutungen des englischen Wortes „Twister“. Die Twister-Skulptur, die Aycock seit den 90er Jahren in unterschiedlichen Ausführungen erschafft, ist so etwas wie ein Markenzeichen der Künstlerin geworden.


Foto © Christian A. Schröder[9]

In den 80ern erfolgt zunächst ein deutlicher stilistischer und formaler Sprung im Werk von Aycock. Sie entwirft riesige, farbig gefasste Stahlskulpturen, in denen das Formenarsenal von Maschinen und Achterbahnen in Vergnügungsparks auseinandergenommen und mit freien kurvolinearen Formen zu phantasievollen, teils bizarren Arrangements zusammenfügt wird. Es sind erzählerische Arbeiten und Hommagen an die Ingenieurskunst der Konstrukteure. Ich sehe darin auch den Versuch, Tanzdiagramme zu konfigurieren und „unmögliche" Choreographien zu entwerfen. Anders als bei den frühen, teils dystopischen Arbeiten überwiegen nun utopische bzw. utopistische Momente, nie jedoch ohne Ironie.

„I wanted always create generic images that embody energy“, erklärt Aycock in einem wunderbaren Vortrag. Es war daher nur logisch, dass sich aus diesen verspielten Arbeiten erneut eine Form herauskristallisierte, die ein „Destillat“ ihrer bisherigen Arbeiten bildet: das Bild vom Wirbelsturm, „schön aber auch unheimlich" (A. Aycock) wird für sie zum Bild einer generischen Form.

„Aycocks Twister-Skulpturen der letzten Jahre visualisieren die Windbewegung, indem sie eine Mischung aus gegenständlichen und gegenstandlosen Darstellungsformen in Anspruch nehmen. Ihre Gesamtform verweist auf die spektakuläre Tornadoform und ist von hoher Anschaulichkeit und Wiedererkennbarkeit. … Die Komplexität dieser Strukturen kann nur mit rechnerunterstützten Konstruktionsprogrammen (CAD) umgesetzt werden.“[10]

Im städtischen Umfeld platziert, entfalten diese Skulpturen, die leicht wie Papier den Wind einzufangen scheinen, eine ungeheure poetische, gleichsam lichte Kraft, und sie bilden auf fast magische Weise „einen Kontrapunkt zur architektonischen und städtebaulichen Herrschaft des rechten Winkels“.[11] Auf mich wirken die Skulpturen modern, ohne das Pathos einer sich selbst historisierenden Form. Weil sie der Umgebung antworten, ohne Teil der Umgebung zu werden, weil sie Geschichten erzählen, ohne der Geschichte zu vertrauen, sind sie im eigentlichen Sinn des Wortes post-modern. Die Kunst von Alice Aycock ist selbst ein Kosmos.

Zum Schluss sei sie daher mit einem Gedicht von W.S. Merwin zitiert,[12] das man, wie sie selbst nahelegt, als ein poetisches Gleichnis ihrer Kunst lesen könnte:

Äußerung

Über den Worten sitzend
sehr spät habe ich eine Art flüsterndes Seufzen gehört
nicht weit
wie ein Nachtwind in Kiefern oder wie das Meer im Dunkeln
das Echo von allem, was je gesprochen wurde
das immer noch seine eine Silbe dreht
zwischen der Erde und der Stille
               W.S. Merwin

Anmerkungen

[1]    Foto von Roy Googin, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42726888

[2]    Susanne Titz: Ein Gespräch mit Alice Aycock, in: Ausst.Kat. Alice Aycock. Selected Works 1971-2019, Sprengel Museum, Wienand: Hannover 2019 [nachf. zitiert: Aycock, Sprengel Museum 2019], S. 17; 19.

[3]    Foto von Clf23 Wikipedia Englisch, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29875245

[4]    Robert Smithson: Incidents of Mirror-Travelling in Yucatan, in: Artforum, Sept. 1969.

[5]    Ron Graziani: Robert Smithson und the American Landscape, Cambridge University Press 2004, p. 46-48.

[6]    Stella Jaeger: ‚Turbulences‘. Wenn Wind Form wird, in: Aycock, Sprengel Museum 2019, S. 29.

[7]    Alice Acock, in: Aycock, Sprengel Museum 2019, S. 59.

[8]    Carina Plath: Hinunter in den Kaninchenbau. Zu Alice Aycocks frühen Arbeiten, in: Aycock, Sprengel Museum 2019, S. 11.

[9]    Foto Von Christian A. Schröder (ChristianSchd), CC BY-SA 4.0,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43522871 

[10]   Stella Jaeger, a.a.O., S. 39.

[11]   Ebd.

[12]   Alice Aycock: W.S. Merwin: Äußerung, zitiert nach: Sprengel Museum, S. 103.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/kw87.htm
© Karin Wendt, 2020