Sakralraumtransformation

Über die Verortung und das Relationale des Sakralen:
auf der Suche nach einem progressiven Begriff von Ort des Sakralen

Robert J.J.M. Plum, Kim de Wildt & Albert Gerhards

Einleitung

Dass die Wertschätzung von Sakralräumen und das Festhalten an ihnen in unserer Gesellschaft weitaus verbreiteter sind, als die gegenwärtigen Schrumpfungsprozesse in den institutionellen Kirchen dies erwarten lassen, gibt zu denken. Auch die Medien zeigen, dass viele Menschen – ob man sie als religiös betrachtet oder nicht - im Alltag Sakralräume als besondere und wertvolle Räume bzw. Freiräume empfinden. So können wir feststellen, dass die gesellschaftliche Bedeutung von solchen Räumen nicht zu unterschätzen ist, und dass die Grenzen zwischen sakral und profan anscheinend fließender sind, als man bisher vermutete.

Sakralräume haben offensichtlich auch für die breitere Bevölkerung eine Orientierungsfunktion und einen Identifikationswert (z.B. Kölner Dom, Aachener Dom, Dresdner Frauenkirche, Leipziger Universitätskirche St. Pauli oder Leipziger Nikolaikirche). Nicht nur für diese berühmten Beispiele gilt, dass sie Identifikationsorte sind. Für die Menschen in manchen Dörfern oder Stadtvierteln kann die eigene größere oder kleinere Kirche wesentlich sein für den Ortskern und vielleicht sogar für das Zusammenleben. Es ist also anscheinend nicht der Fall, dass die fortgesetzte Entkirchlichung zwangsläufig die gesellschaftliche Bedeutung von Kirchengebäuden verringert. Vielleicht ist es eher so, dass die Signaturen unserer Zeit wie Pluralisierung, Enttraditionalisierung, Individualisierung, Globalisierung und Glokalisierung Menschen mit der Herausforderung konfrontieren, die eigene Identität ständig neu konstruieren zu müssen. Dabei spielen offensichtlich auch Sakralräume eine bestimmte oder sogar bestimmende Rolle.

Sakralräume bieten jedoch nicht nur Halt und Orientierung, sie enthalten auch Konfliktpotenzial. Umnutzung oder Abriss von Kirchenbauten sind nicht selten mit heftigen Emotionen verbunden, nicht anders der Neubau repräsentativer Moscheen.[1] Und selbst der (Ein)bau eines Raumes der Stille kann heftige Konflikte hervorrufen, wie die Beispiele der Schließung einiger Räume der Stille an deutschen Universitäten belegen.[2] Dass sakrale Räume die Gesellschaft sowohl spalten als auch einen können, hat z.B. die Diskussion um den Wiederaufbau der Leipziger Universitätskirche gezeigt.[3]

In diesem Beitrag werden wir anhand der Begriffe „space“ und „place“ verdeutlichen, dass ein dynamisches und relationales Konzept von Sakralraum notwendig ist, um das Wesen des Phänomens Sakralraumtransformation verstehen und fruchtbar aufgreifen zu können. Hierzu verhilft eine dynamische und relationale Auffassung des „place“-Begriffs, die dadurch am besten erreicht wird, dass beide Begriffe nicht gegeneinander ausgespielt werden.[4]

Das von der DFG bewilligte inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt „Sakralraumtransformation. Funktion und Nutzung religiöser Orte in Deutschland“ (FOR 2733), das am 1. März 2020 an vier deutschen Universitäten (Bonn, Köln, Leipzig, Wuppertal) begonnen hat, entstand aus dem Krisenbewusstsein, dass die mit Verkauf, Abriss oder Umnutzung von Kirchen einhergehenden Transformationsprozesse nicht selten unstrukturiert verlaufen und dass dabei nicht immer alle Facetten der Entscheidungssituation berücksichtigt werden. Und überdies: Die Bestimmung, was ein Sakralraum eigentlich ist, welche Bedürfnisse Sakralräume befriedigen (sollen) und wie sie ein Zeichen dafür sind, wie Zusammenleben in unserer Gesellschaft ausgehandelt wird – alles das sind Themen, die weder nur im akademischen, noch nur im theologischen oder kirchlichen Diskurs, sondern gesamtgesellschaftlich relevant sind. Ziel des Projektes ist es, durch die Zusammenführung unterschiedlicher, und das heißt konkret: architektonischer, architekturhistorischer, immobilienwirtschaftlicher, kunsthistorischer, liturgiewissenschaftlicher, religionswissenschaftlicher und pastoraltheologischer Forschungsansätze und durch ausdrückliche Einbeziehung der an diesen Prozessen beteiligten Aktoren (wie z.B. Immobilienmakler, Gemeinden, Denkmalschutz usw.) eine „praxisrelevante Theorie des sakralen Raumes“ im 21. Jahrhundert zu erarbeiten. Die Praxisrelevanz zeigt sich dabei verschärft in Fragen des Zusammenlebens und Versammelns. Die Last des sakralen Gebäudebestandes ohne Nutzung, der fragliche Umgang mit transformierten Objekten (Umnutzung, Teilabriss, Abriss), die unklare Definition zukünftiger Bauaufgaben und die Suche nach Grenzen von Anpassung und Weiterentwicklung sakraler Orte sind vor dem Hintergrund der dargelegten Entwicklungen zu einem Schlüsselthema nicht nur für die Kirchen, sondern auch für Wissenschaft und Gesellschaft geworden.


Space and Place: Raum und Ort

Damit die am Transformationsprozess Beteiligten oder Interessierten von der gesellschaftlichen Relevanz der Qualität solcher Prozesse überzeugt werden können, bedarf es der Entwicklung und Vermittlung einer breiten gesellschaftlichen und religiösen Sensibilität dafür, dass Sakralräume nicht auf eine einzige Dimension zu reduzieren sind. Was man als Religionsgemeinschaft, als Wissenschaft und als Zivilgesellschaft darüber zu sagen hat, geht in keiner einzigen Perspektive restlos auf, kann nicht mit einem einzigen Blickwinkel ausgeschöpft werden, also auch nicht mit dem der einstigen Eigentümer. Zu einer ersten Annäherung an eine Sensibilisierung, Ausweitung und Diversifizierung der Denkweisen über Sakralräume und in Anlehnung an das Thema dieser Sonderausgabe wird hier diejenige Gedankenentwicklung aus den Kulturwissenschaften und der Philosophie skizziert, die seit einigen Jahrzehnten schon breite Anerkennung in Hinblick auf die Thematik des „Raumes“ in vielen Wissenschaften gefunden hat.[5]

Die ehemalige Dominanz der Zeitperspektive z.B. in Theologie und Philosophie – der Phänomenologe Edward S. Casey nennt das „Temporozentrismus“[6] – wird seit der räumlichen Wende zunehmend ergänzt durch eine Aufmerksamkeit für Raum und/oder Ort (die sogenannten „spatial“ und „topological“ turns). Wir lassen uns in diesem Aufsatz von den Geographen Doreen Massey und Tim Cresswell und vom Philosophen Edward Casey leiten, die der Meinung sind, dass „Raum“ („space“) und „Ort“ („place“) aufeinander bezogen werden müssen, da nur so einseitig universalistische Assoziationen von Raum einerseits und provinzialistische wie reaktionäre Assoziationen von Ort andererseits unterbunden werden können. Und obwohl es Casey in seinem Buch „The Fate of Place“ darum geht, den Ortsbegriff aus der Verborgenheit zurückzuholen, hebt auch er (in einem anderen Aufsatz) hervor, dass „Raum“ und „Ort“ „co-constitutive“ und „co-ordinate“ sind, und dass wir jetzt, nach der Rehabilitierung der Ortskategorie, nicht einer neuen Verführung zum Opfer fallen sollten, nämlich der drohenden Absorption der Raum- in der Ortskategorie.[7]

Die englischen Begriffe „space“ und „place“ sind kaum eins zu eins in die deutsche Sprache zu übersetzen. Historisch deutete „space“ einen eher abstrakten Aspekt von Raum an, mit „place“ war eher ein bestimmter Ort oder Platz gemeint. Tim Cresswell versteht unter „place“ „eine bedeutsame Handlung“ („a meaningful action“). Traditionell wurde unter „space“ etwas Abstrakteres verstanden: Man denke z.B. an Ausdrücke wie „outer space“, den „unendlichen Raum“ oder an die Räume der Geometrie. Raum war „ein Bereich ohne Bedeutung“ („a realm without meaning“), „ein Faktum des Lebens, das, genau wie die Zeit, die Basiskoordinaten für unser Leben produziert“, also ein leerer Raum, etwas, das immer zur Verfügung steht, das selbst aber nicht lokalisiert ist.[8] Nicht selten werden beide Begriffe aber auch synonym verwendet. Der Landschaftsgeograph Kenneth R. Olwig beschreibt die Komplexität des Begriffs „space“ anhand seiner Relation zu dem deutschen Wort „Raum“. Nach ihm sind „space“ und „place“ unterschiedliche Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen, und der deutsche Begriff „Raum“ enthält ursprünglich Elemente sowohl von „space“ als auch von „place“. Die beschränkte Gültigkeit des Erkenntniswerts der Etymologie wird auch darin deutlich, dass der eine die Geographie als die „Erforschung von „places““ beschreibt, der andere sie als die Wissenschaft von „space“ definiert.[9] Wir haben uns hier festgelegt auf „Raum“ als Übersetzung vom englischen „space“ und „Ort“ als Übersetzung von „place“.

Casey versucht zu zeigen, dass der Ortsbegriff („place“) über lange Zeit dem als viel wichtiger eingeschätzten, als neutral und gegeben betrachteten „Raum“ („space“) untergeordnet wurde. Vor allem im Mittelalter und in der Moderne kristallisierte sich die Meinung heraus, dass es sich beim „Raum“ um etwas Unendliches, Leeres, Erstes und um ein Apriori handelt, und dass Orte nur die nachträglichen Absonderungen, die Konkretisierungen dieses immer präsenten absoluten Raumes seien. Die Geschichte vom Raum als eine Geschichte der Vernachlässigung vom Ort ist zugleich eine Geschichte von der starken Neigung, das Universelle gegen das Partikuläre auszuspielen und das Partikuläre, den Ort, als zweitrangig anzusehen, als ein nur nachträgliches Ausfüllen einer Leere. In dieser „Verdunkelung vom Ort“ nimmt Casey Zeichen des modernen abendländischen Universalismus und der universalistischen Aspirationen des Christentums wahr.[10] Und hiermit schließt er an die schon längst gängige Tendenz in vielen Wissenschaften und Politiken an, die „place“ begünstigen wollen zugunsten von „space“. Massey warnt aber davor, „space“ und „place“ gegeneinander auszuspielen. Sie deutet darauf hin, dass „place“ zugunsten von „space“ verstanden wird als etwas, das bedeutsamer ist, authentischer. Sie hebt hervor, dass „place“ nicht immer so bedeutsam ist und sogar Gegenstand (konflikthafter) Verhandlungen sein kann.[11] Das zeigen auch die schon erwähnten Beispiele von Kirchenumnutzung und Räumen der Stille. Massey weist auf das Werk von Bruno Latour hin, um deutlich zu machen, dass das Lokale und das Globale, „space“ und „place“, untrennbare Größen sind, da auch das Globale verortet ist, wie das Beispiel der Eisenbahn, die auch lokal verortet ist in Form von Bahnhöfen, Gleisen, usw.[12]

Casey weist darauf hin, dass die nukleare Bedrohung der Weltvernichtung zu einer verschärften Aufmerksamkeit für die Unersetzlichkeit von Orten geführt hat und dass das „Fortschreiten einer weltweiten indifferenten Gleichheit von Ort dazu geführt hat, dass Menschen wieder nach einer Vielheit, Diversität von Orten verlangen, nach einer Ort-Vielfalt, die in der weltweiten Monokultur verloren gegangen ist“. Vielleicht ist es genau das, was jetzt mit Blick auf die zunehmende Diversität an Sakralraumkonzeptionen und Sakralräumen überhaupt geschieht. Casey meint, dass hier die Rede ist von einem „aktiven Verlangen nach der Besonderheit von Orten“, nach dem „Lokalen“ oder „Regionalen“. „Ort bringt genau diese Elemente mit sich, die man mittels der „Planbarkeit vom Ort“ unterdrücken, ausschalten wollte: Identität, Charakter, Nuancen und Geschichte“.[13]


Space und Vielfalt

Mit Doreen Massey schlagen wir vor, „Raum“ zu verstehen als die „Sphäre der Möglichkeit der Existenz einer Vielfalt im Sinne der gleichzeitigen Pluralität“, als die „Sphäre der gleichzeitig existierenden Heterogenität“.[14] Erst diese neue Raumperspektive ermöglicht Vielfalt. Warum ist das so wichtig, könnte man fragen, sich für einen solchen Raumbegriff zu entscheiden, der sich so ausdrücklich zu Vielfalt, Pluralität und Heterogenität bekennt?[15] In den neueren Forschungen zum Ortsbegriff, zum Beispiel bei Edward Casey, wird immer wieder hervorgehoben, dass ein im späten Mittelalter und der Moderne üblich gewordener leerer Raumbegriff ein unilineares Zeitdenken ermöglicht hat. Die vielleicht beim ersten Hinblick nur theoretisch interessant erscheinende Diagnose der „supremacy of space“ verliert dann ihre ausschließlich akademische Relevanz, wenn man sich dessen bewusst wird, wie sehr diese eine Beschreibung der Welt ermöglicht hat, wonach Orte eigentlich ziemlich willkürlich abgegrenzte Gebiete sind, oder sogar nur Punkte. Das allzu selbstverständliche Denken über den Raum als etwas Homogenes, Leeres, Planbares, hat dazu beigetragen, die Identität, den eigenen Charakter, die Nuancen, die eigene Geschichte von Orten zu vergessen.[16] Wenn wir, mit Hilfe von Doreen Massey, für einen Raumbegriff plädieren, der Vielfalt ermöglicht, steht die ethische Frage auf dem Spiel, wie der Eigenart von Orten Rechnung zu tragen ist. Wenn wir hierbei an die Bedeutung der Kirchbauten für spezifische Orte denken, wird deutlich, dass diese Fragen nicht abstrakte Fragen sind, sondern konkrete Folgen haben für unseren Umgang mit „obsoleten“ Kirchenbauten.

Wie würde unser Sakralraumverständnis sich also ändern, wenn wir Raum nicht mehr homogen als „Oberfläche“ auffassen, als etwas, das es einfach gibt, und zwar in einem Kontinuum, das man demzufolge einfach bereisen, durchqueren und erobern kann?[17]


Festhalten am Vergangenen?

Man kann sich aber noch nicht damit begnügen, Ort im positiven Sinne als Verortung zu verstehen. Massey hat den Versuch unternommen, Verortung relational und dynamisch zu verstehen, über konkrete Orte nachzudenken im Sinne von Orten, worin Nutzer sich bewegen und zu denen man sich verhält. Statt sich von der anscheinend unwiderstehlichen Dynamik unseres globalisierenden Zeitalters gezwungen zu fühlen, Ort zwar zu rehabilitieren, aber doch nur noch mit „Rückständigkeit“ zu assoziieren, gilt es, so Massey, einen „progressiven Begriff von Ort“ zu entwickeln. Plädoyers für die Erhaltung von Sakralräumen werden öfter mit reaktionären Vorwürfen konfrontiert, umso mehr, wenn sie mit heftigen Emotionen verbunden sind: Wenn jemand an einem Sakralraum „festhält“, nennt man ihn rückständig, ihm wird vorgeworfen, sich nicht auf den weiteren, größeren Kontext einzulassen, nicht bereit zu sein, den allgemeinen Entwicklungen zu folgen.[18] Schon Massey hat folgende Assoziationen festgestellt: Es stimmt, dass in einer Welt, in der die Menschen zunehmend und immer schneller miteinander verbunden sind, der Ortsbegriff oft „totemistische Resonanzen“ bekommt. Man spricht in diesen Fällen gerne vom „Sich-Zurückziehen am Ort“, was sich u.a. in einem „Aufrichten von Mauern gegen neue Invasionen“ manifestiert. Dann können Orte zu Orten des Ignorierens degenerieren, in die man sich behaglich zurückziehen kann. Politisch gesprochen können diese Orte „ein konservativer Hafen“ werden, ein „essentialisierendes Fundament für eine Art von Antworten, die aber nicht in der Lage sind, den fundamentalen Kräften, die in unserer Welt am Werk sind, adäquat zu begegnen“.[19] Vielleicht spielt dieses Denken eine Rolle, wenn man allzu einfach bereit ist, einzelne Kirchen aufzugeben zugunsten der „universalen“ Kirche. Dass Verortung und das Festhalten am Lokalen mit Xenophobie einhergehen können, sehen u.a. Massey und Cresswell ein, ist aber nicht notwendig. Die Identität des Lokalen ist nicht notwendig statisch und introvertiert aufzufassen.

Statt Raum als eine abstrakte Kategorie zu sehen, hebt Massey das Relationale hervor: Auch „space“ ist verortet und hybrid und, diesem Gedankengang folgend, die Summe der Beziehungen und Handlungen, die auch „place“ zugeschrieben werden. Mehr noch weist sie darauf hin, dass das Lokale kein Opfer des Globalen ist, ein Ausgangspunkt, der auch politische Folgen hat. Das Lokale braucht nicht den Zwängen des Globalen ausgeliefert zu sein, es hat auch selbst Widerstandsmöglichkeiten.[20] Und anstatt über Orte nachzudenken im Sinne von klar abgegrenzten Gebieten, könnte man sie als „artikulierte Momente in Netzwerken von sozialen Beziehungen“ auffassen. Einen Ort könnte man “extrovertiert“ auffassen als einen Ort, zu dem das Bewusstsein seiner Beziehungen zur Umwelt mit dazu gehört, so wie Doreen Massey das Londoner Stadtviertel Kilburn, wo sie lebte, beschrieben hatte, und Tim Cresswell Maxwell Street.[21] Bei der Entscheidung, eine Kirche einer anderen Bestimmung zuzuführen, sollte aber die „Politik des Heiligen“ nicht vergessen werden: Wer fällt wozu und aus welchen Gründen diese Entscheidung? Da, wie Philip Sheldrake formuliert hat, „etablierte Sakralräume oft mit etablierten religiösen Vermittlern einhergehen“, die darüber „entscheiden, was heilig ist und wer Zugang zu diesem Heiligen bekommt“, ist hier eine Attitüde des Verdachts erfordert. Ob die Entscheidung, eine Kirche zu transformieren zugunsten einer anderen Bestimmung zutiefst motiviert ist von der Botschaft Jesu, der, laut John Dominic Crossan, die Exklusivität eines bestimmten sakralen Ortes stark ablehnte und immer an anderen, unerwarteten Stellen nach dem „verlorenen Schaf“ gesucht hat, oder eher vom Wunsch für andere entscheiden zu können, was heilig ist und was nicht, verlangt die Entwicklung einer „Politik des Sakralraums“, die dafür sensibel macht, dass eine „Ortshierarchie“ auch zu einer Hierarchie von Menschen führen kann.[22]


Sacred Space

In diesem Aufsatz spitzen wir den Begriff „space“, Raum, auf den Begriff „Sakralraum“ zu, auf „sacred space“. Unter Sakralräumen verstehen wir Gebäude und Räumlichkeiten, die ursprünglich für den religiösen Gebrauch errichtet worden sind. Schnell werden hier Bauten wie Synagogen, Kirchen und Moscheen in den Sinn kommen, Räume, deren primäre Funktion eine liturgische oder religiöse ist. Im Lauf  der Geschichte wurden Sakralräume oft aber nicht nur für liturgische oder auch nur religiöse Zwecke verwendet.[23] Das Aufkommen von sogenannten „Räumen der Stille“ seit einigen Jahrzehnten, einem neuen Sakralraum-Typus, der oft auch nicht-religiöse Menschen ansprechen soll, bedeutet nochmals eine Herausforderung an alle Versuche einer genauen Beschreibung, was ein Sakralraum ist. Das Phänomen der Sakralraumtransformation im Sinne von Kirchenumnutzung trägt zusätzlich in beträchtlicher Form zu dieser Verwirrung bei. Dadurch kommen Fragen auf wie: Ist eine transformierte Kirche ein Sakralraum, oder ist er es nicht mehr? Und wer entscheidet darüber? Wann wird das bestimmt, zum Beispiel wenn eine Kirche profaniert bzw. entwidmet wird? Und wie steht es damit, dass selbst dann, wenn eine Kirche einem säkularen Gebrauch zugeführt wird, sie in ihrer Formensprache noch immer ausdrückt, eine Kirche zu sein? In der heutigen Zeit ist der Sakralraum nämlich kein Fixum mehr, sondern ein Raum, der etwas anderes sein kann, als er vorgibt zu sein. Ein Kirchenbau kann zwar in jeder Hinsicht ausdrücken: Ich bin Kirche! – aber gleichzeitig etwas völlig anderes in sich beherbergen. Genau das Umgekehrte scheint zu gelten für Räume der Stille, die so unterschiedliche Formen annehmen können, dass überhaupt nicht mehr klar ist, ob hier die Rede sein kann von einem Sakralraum oder einem säkularen Raum. Auch die Frage, wer die Nutzer und/oder Wertschätzer solcher Räume sind, ist nicht mehr eindeutig zu beantworten. Es können religiös geprägte Menschen sein, müssen es aber nicht sein. Die Antworten auf solchen Fragen, haben oftmals schwerwiegende Folgen: Hier kommen Aspekte von Macht zum Tragen. Wer hat das wirkliche Sagen darüber, was mit Kirchenbauten geschieht, wenn die Zahl der Kirchgänger immer mehr abnimmt? Ist das der Kirchenvorstand? Sind es die Gemeindemitglieder? Ist es der Pfarrer? Oder das Bistum? Die Denkmalpflege? Sind es die Anwohner? Nicht nur ein gelungener Kirchenneubau hat viele „Eltern“ - Bauherren, Architekten, Glaubensgemeinschaft - auch bedrohte Kirchenbauten haben nicht selten viele „Eltern“, die alle ein Wort zu sagen haben über „ihre“ Kirche. Und genau hier kommt es darauf an, die Kommunikation zu optimieren. Rein wirtschaftliche, denkmalpflegerische, oder kirchenrechtliche Argumente führen oftmals zu gegenseitigem Unverständnis und zu Konflikten, besonders, weil unterschiedliche Interessenten sich als „Eigentümer“ des Objektes verstehen.

Dass Sakralräume nicht nur Objekte, konkret und materiell, sondern auch verortet sind, zwingt zu einer politischen Sichtweise auf die Zukunft von Sakralräume. In der vom Casey geschilderten Geschichte vom „Schicksal vom Ort“ geht es nicht nur um eine Korrektur des üblichen Narrativs der Geschichte der Philosophie, sondern um eine andere, kritische Sichtweise auf unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Was ist der Sakralraum der Zukunft und welche Bedürfnisse sind in Bezug auf ihn führend? Sind es vielleicht zunehmend umgenutzte Kirchen, Hybridräume, und/oder sind es Räume der Stille? Und, angesichts der Pluralität der Räume der Stille: Sind es diejenigen Räume der Stille, die sich einer symbollosen, areligiösen Formensprache bedienen, sogenannte „leere“ Räume? Oder sind es vielmehr diejenigen, die versuchen, alle Symbole in sich zu vereinen? Oder ist es eine Vielfalt an Sakralbauformen, da die zunehmend individualisierte Gesellschaft für jeden den passenden Sakralraum bereithält?[24] Und schließlich: Wie verhalten sich die neuen Sakralbauformen zu den traditionellen? Werden diese möglicherweise durch die Dynamik der Pluralisierung und Individualisierung ebenfalls transformiert? Und was bedeutet dies für ihre Besitzer und Nutzer?

Anmerkungen


[1]    De Wildt, Kim; Radermacher, Martin; Krech, Volkhard; Löffler, Beate & Sonne, Wolfgang: Transformations of ‘Sacredness in Stone’: Religious Architecture in Urban Space in 21st Century Germany—New Perspectives in the Study of Religious Architecture. In: Religions 10 (2019), no. 11: 602,  https://www.mdpi.com/2077-1444/10/11/602

[3]    Ratzmann, Wolfgang: Universitätsaula und Universitätskirche. Stationen und Positionen in einem spektakulären Leipziger Bauprojekt. In: Pastoraltheologie 98/2009, S. 282-298; Deeg, Alexander: Zwischen Aula und Kirche. Kulturwissenschaftliche und theologische Perspektiven zum neu entstandenen Bindestrich-Gebäude und Konsequenzen für die Nutzung. In: Peter Zimmerling (Hg.): Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Leipzig 2017, S. 275-282.

[4]    Vgl. Massey, Doreen: Geographies of responsibility. Geografiska Annaler: Series B, Human Geography, S. 5-18, hier: S. 7ff. 2004/86(1), S. 5-18.

[5]    Siehe dazu auch: Plum, Robert: Zwischen Funktionalisierung und Resakralisierung. Systematisch-theologische Reflexionen über die Relevanz von Kirchgebäuden für Glaube und Theologie. In: Gerhards, Albert & de Wildt, Kim (Hg.): Der sakrale Ort im Wandel. Würzburg 2015, S. 283-297.

[6]    Casey, Edward S.: The Fate of Place. Berkeley 1997, S. x.

[7]    Casey, Edward. S.: Space. In: Luff, Sebastian & Overgaard, Søren (Hg.): The Routledge Companion to Phenomenology, Routledge 2012, S. 202-210, hier: S. 208: “It remains that place and space are – in the end as in the beginning – co-constitutive and co-ordinate.”

[8]    Cresswell, Tim: Place. A Short Introduction. Oxford 2004, S. 8-10; siehe auch: Casey, Edward S.: How to Get from Space to Place in a Fairly Short Stretch of Time. Phenomenological Prolegomena. In: Feld, Steven & Basso, Keith H. (Hg.): Senses of Place, University of Washington Press 1996, S. 13-52, hier: S. 14.

[9]    Cresswell, wie Fn. 8, S. 1: “Human geography is the study of places.” Demgegenüber: Olwig, Kenneth R.: The Duplicity of Space. Germanic “Raum“ and Swedisch „Rum“ in English Language Geographical Discourse. In: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, vol. 84, no. 1 (2002), S. 1-17, hier: S. 1: „The modern definition of geography as the science of „space” (…)”.

[10]   Casey, wie Fn. 6, S. xii.

[11]   Massey, wie Fn. 4, S. 7ff.

[12]   Massey, wie Fn. 4, S. 8.

[13]   Casey, wie Fn. 6, S. xiii.

[14]   Massey, Doreen: For Space. London 2005, S. 9.

[15]   Siehe für Ansätze zu einer „lokalen“ Theologie: Plum, Robert: Lokale Europäische Theologie. In: Lebendige Seelsorge 67, 2016/2, S. 93-100.

[16]   Casey, wie Fn. 6, S. 131; Casey schreibt: “Place brings with it the very elements sheared off in the planiformity of site: identity, character, nuance, history.” (S. xiii)

[17]   Vgl. Massey, wie Fn. 14, s: 4: spricht über: “crossing and conquering space”, über Raum als ein „expanse we travel across”, “as something to be crossed, and maybe conquered” und als “a surface; continuous and given”.

[18]   De Wildt, Kim: Synagogues and Churches. The Transformation of the Religious Cityscape in Germany since 1990. In: bfo - Journal 5.2019, S. 40–60, hier: S. 52-54. Stable URL: http://bauforschungonline.ch/sites/default/files/publikationen/bfojournal_5.2019_de-wildt.pdf   

[19]   Massey, wie Fn 14, S. 6.

[20]   Massey, wie Fn. 4, S. 5-18.

[21]   Massey, Doreen. A Global Sense of Place. In: Marxism Today, 38/1991, S. 24-29.

[22]   Sheldrake, Philip: Placing the Sacred. Transcendence and the City. In: Literature & Theology 21/3 2007, S. 243-258, hier: S. 243-244.

[23]   Davies, John G.: The Secular Use of Church Buildings. London 1968.

[24]   De Wildt, Kim: Raum für Religion. Die Zukunftsfähigkeit von Religion anhand von Modellen und Überlegungen über den Religionsunterricht und Räume der Stille. In: Gerhards, Albert & de Wildt, Kim (Hg.): Wandel und Wertschätzung. Synergien für die Zukunft von Kirchenräumen. Regensburg 2017, S. 335-351.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/pwg01.htm
©
Robert J.J.M. Plum, Kim de Wildt & Albert Gerhards, 2020