Wortstatistische Spielereien

Notizen zum Wortgebrauch von 'heilig'

Andreas Mertin

Im Augenblick arbeite ich an einem Text zur Frage „Was uns heilig ist“. Und dabei stieß ich während der für mich obligaten Suche in der Wortstatistik im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) auf ein paar interessante Phänomene. Meine erste Frage war: hat das Wort „heilig“ überhaupt Konjunktur, ist es in Gebrauch? Dazu greife ich auf den DWDS-Zeitungskopus ab 1945 zu, dessen aggregierte Verlaufskurve mir Folgendes vor Augen führt:

Dabei ist es gleich, ob ich heilig, heiliges oder Heilige eingebe. Letzteres ergibt eine etwas höhere, aber ansonsten parallele Kurve. Wie könnte man die Kurve deuten?  Nun sie bewegt sich auf einem in etwa gleichem Niveau mit einem erkennbaren Ausschlag nach 1988, der bis 2008 anhält und dann wieder auf altes Niveau absinkt. Zwischen 1988 und 2008 hatte das Thema „Heiliges“ in der medialen Reflektion Konjunktur. Das entspricht auch meinem subjektiven Empfinden. Als die evangelische Zeitschrift „das baugerüst“ 2007 eine Ausgabe zum Thema Heilig macht, ist das – rückblickend betrachtet – wie eine Bündelung und ein Abschluss des Themas.

Es schreiben dort Fulbert Steffensky über die „Sphären des Heiligen unter den Bedingungen der entzauberten Welt“, Winfried Gebhardt „Über die Entgrenzung des Heiligen in der Video-Clip Moderne“, Christoph Bizer über „Die Pflege des Heiligen“. Und Manfred Josuttis hält fest, dass das Heilige nicht organisierbar ist. Aber wie wir aus der oben gezeigten Kurve entnehmen können, ist die (sprachliche) Konjunktur des Heiligen da auch schon wieder vorbei.

Man könnte nun einwenden, dass die Debatte um das Heilige sich nicht mehr am konkreten Wort, sondern an einem anderen sich entzündete, etwa sakral. Aber die Verlaufskurve der Nutzung des Wortes sakral ist nicht sehr von der des Wortes heilig unterschieden. Nur zeichnet sich der Einbruch schon etwas früher ab, nach 1998 geht die Kurve zurück.

Nun sind die beiden Kurven nur dann aussagekräftig, wenn man sie miteinander verbindet. Denn der Verlauf sagt ja noch nichts über die Häufigkeit aus, in der in einer Zeit „sakral“ oder „heilig“ geschrieben wird. Und hier zeigt sich sofort, dass die Verwendung des Wortes „sakral“ im Vergleich zu „heilig“ außerordentlich selten ist. „Sakral“ ist ein Fachwort einer bestimmten binnenkirchlichen, theologischen oder architektonischen Debatte, aber kein Wort, das im Allgemeinen verwendet wird.

Bisher haben wir sozusagen den zeitlichen „Mikrokosmos“ des Textkorpus der Zeitungen nach 1945 betrachtet. Er gibt uns Auskunft über die aktuellen Konjunkturen der Wörter. Nun geht aber die heutige Debatte der Soziologen und Religionsphilosophen eher um die Frage, ob es einen längerfristigen Trend zur Säkularisierung gibt – oder eben nicht. Und dazu hilft der Blick auf den begrenzten Mikrokosmos der Jahre nach 1945 nur wenig. Einen größeren Überblick verschafft hier der deutsche Textkorpus ab 1600. Statt einem Dreivierteljahrhundert hat man nun ganze 420 Jahre im Blick:

Und hier sieht man, dass die Frequenz (= Anteil des Wortes am Gesamtgebrauch der Sprache) von „heilig“ auf ein Zehntel seiner ursprünglichen Frequenz im Jahr 1600 zurückgeht, genauer von 784 auf 40. Zwar gibt es heute viel mehr Texte als im Jahr 1600, in denen vom Heiligen gesprochen wird, der Anteil an der Gesamtsprache ist aber dramatisch gesunken. Das Heilige geht quasi in der allgemeinen Kommunikation unter. Auch die Differenzierung nach Textgattungen (Gebrauchsliteratur, Belletristik, Zeitung, Wissenschaft) bringt wenig anderes zu Tage (nur während der Romantik gibt es in der Gebrauchsliteratur noch einmal eine gewisse Erholung):

Die Tendenz spricht eine deutliche Sprache. Es macht daher m.E. wenig Sinn, ostentativ am Gebrauch des Wortes „heilig“ als allgemeinsprachlichen Motiv festzuhalten, zumal es populärkulturell bereits ganz andere Konnotationen bekommen hat, vermittelt vor allem über den angelsächsischen Bereich: holy butt – holy shit – holy craft – holy beef … Auch diese Wortverbindungen leben natürlich parasitär von der ursprünglichen Macht des Wortes „heilig“, aber es handelt sich dann doch mehr um eine Resteverwertung. Genau genommen zeigen sie an, dass der abweichende Gebrauch in der Gesellschaft nicht mehr sanktionsbehaftet ist, sind selber also ein Indiz für die zunehmende Bedeutungslosigkeit des Wortes.

Aber vielleicht ist es ja auch ganz anders und im Laufe der Zeit wurde „heilig“ schlicht durch ein anderes Wort ersetzt. Schüler*innen schlagen zum Beispiel vor, „heilig“ durch „wichtig“ zu ersetzen (so Elke Drewses-Schultz in einem Beitrag für den Deutschlandfunk Kultur). Sie sagen:

     „Mit dem Wort heilig kann ich nichts anfangen, weil ich das Wort mit Gott und Religion in Verbindung bringe. Und wenn ich das Wort heilig höre, dann denk ich an ein Volk und die haben einen Gott und der Gott ist ihnen heilig. Und wenn ich ehrlich bin, gebrauche ich das Wort nicht im Alltag.“
     „Wenn mir etwas heilig ist, dann mein ich damit, dass mir etwas sehr am Herzen liegt und mir äußerst wichtig ist.“
     „Also meine Familie ist mir auf jeden Fall sehr wichtig, weil sie steht immer hinter mir. Sie bietet mir immer Geborgenheit und akzeptiert mich so, wie ich bin. Was auch noch wichtig ist für mich, ist Sport und meine Hobbies. Sie entspannen mich. Da krieg ich den Kopf frei und es lenkt mich von verschiedenen Problemen ab. Freunde sind für mich wie die zweite Familie, weil sie mich auch immer unterstützen und mir zur Seite stehen.“

Tatsächlich lässt sich wortstatistisch beobachten, dass, während „heilig“ immer mehr in der Nutzung zurückgeht, der Gebrauch von „wichtig“ in der deutschen Sprache zunimmt:

Nun ist auf den ersten Blick nicht recht einsichtig, dass „wichtig“ ein angemessenes Substitut für „heilig“ ist. Wenn man die jeweils verbundenen Wörter anschaut, ergeben sich überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Das spricht gegen eine Transformation des Wortes „heilig“ in das Wort „wichtig“. Und es ist m.E. eine unzulässige Verkürzung, „heilig“ auf wichtig zu reduzieren, weil so elementare Momente von „heilig“ unterschlagen werden.

Man muss schon klar sagen, dass „heilig“ nahezu exklusiv an die Geschichte der Religionen gebunden ist und diese Geschichte (des Heiligen) in der Gegenwart an Bedeutung verliert. Im säkularen Sprachgebrauch erscheint allenfalls der „heilige Rasen“ (von Wimbledon) als eine eigenständige Bildung. Dabei ist nicht klar, woher diese Bezeichnung kommt. Im deutschen Wikipedia-Artikel findet sich das Wort, im englischen Artikel nicht. Auch die alternative Formulierung „sacred grass“ wird nicht erwähnt.

Diese Beobachtungen stimmen mit dem überein, was auch Religionswissenschaftler festgestellt haben.

Für den religiösen Menschen, so schreibt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade, war die Welt nicht einheitlich: „Komm nicht näher heran!“ sprach der Herr zu Mose, „Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. „starken“, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind.“ Als Beispiele für bedeutungsvolle Räume nennt Eliade den Kirchenbau und den Hausbau („eine Wohnstatt bauen heißt immer, das Werk der Götter nachzuahmen“). Was Eliade beschreibt, ist seinen eigenen Worten nach aber bereits Vergangenheit geworden. Für den modernen Menschen gibt es keine heiligen Räume im beschriebenen Sinne mehr. Wie Menschen früher Räume als heilig erfahren haben, unterscheidet sich grundlegend von der Raumerfahrung in der Moderne.

Weiterhin bindet sich „heilig“ an die überlieferte Sprache und ihre Erzählungen, aber alltagsweltlich wird es von den heutigen Menschen nur noch mit „ziemlich wichtig“ assoziiert – nicht ohne hinzuzufügen, dass ihnen das, womit das Wort früher verbunden war, heute eben nicht mehr wichtig ist. Der Umkehrschluss, dass das, was ihnen heute wichtig ist, nun dem entspräche, was früher den Menschen heilig war, ist meines Erachtens aber nicht wirklich begründet. Die Heilige Familie und die Familie, die mir wichtig ist, sind eben doch zwei unterschiedliche Dinge.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/125/am696.htm
© Andreas Mertin, 2020