„Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit“

Was wir bei den Hiobs Freunden lernen können

Andreas Mertin

Corona

Ich weiß nicht, wie es den Leser*innen des Magazins ergangen ist, aber mir ging nach kurzer Zeit die ungehörige Geschwätzigkeit der Unbetroffenen und Zuschauer*innen der Corona-Epidemie ziemlich auf die Nerven. Aus gefühlt nahezu jedem HomeOffice wird live berichtet, wie es einem geht, was man so macht und was die besten Tipps in der Krise sind. Es ist nur scheinbar eine reale Gegenwart, auf die man dabei stößt. Eher sind es digital gefilterte und zudem künstlich stilisierte Home-Stories, die man schon in normalen Zeiten in den Hochglanz-Broschüren der Yellow-Press nicht ertragen kann.

In den Krankenhäusern und ihren Intensivstationen sterben oder sagen wir es genauer: ersticken zeitgleich Menschen, alte Menschen vor allem. Und im Fernsehen zeigt mir die dritte Sendung nacheinander, wie man Yoga mit Hilfe von Skype erfolgreich online und zu Hause betreiben kann und damit sogar Geld verdient. Als wenn wir keine anderen Probleme hätten. Auffällig nicht zuletzt die so genannten Comedians, die nicht einmal in dieser Situation an sich halten können und nun im bewusst schlicht gestalteten Heimarbeitsplatz ihre Witze über den Virus und seine Folgen machen. Nein, sie sind nicht lustig, sie sind nicht komisch, nicht einmal unfreiwillig, eigentlich sind sie zum Verzweifeln. Es scheint ein letztes Aufbäumen der Kulturindustrie, die nur zu genau merkt, dass die von ihr gepflegte Oberflächlichkeit nun als solche kenntlich wird. Ihre Hoffnung ist, dass es irgendwann so wie vorher weitergeht, dass – wie in der Rahmenerzählung des Buches Hiob – am Ende eine Art Restitution (ihrer Finanzen vor allem) steht. Aber auch im Buch Hiob ist das positive Ende keine Lösung für die Opfer aus der einleitenden Erzählung. Mit Walter Benjamin: „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“.

Was mich darüber hinaus gestört hat, waren jene kirchlichen Stimmen, die im Ausbruch der Krise die ultimative Chance sahen, ihre aktuelle Mission, die Digitalisierung der Kirche, voranzutreiben. Endlich: Nun könne der Gottesdienst auf Online-Übertragungen umgestellt werden, man könne im Internet Verkündigung betreiben und die Krise als Chance begreifen. Nun sei God to go angesagt. Aber einerseits war Gott ja immer schon unterwegs, ist immer schon bei den Menschen und bedarf deshalb keiner Epidemie, um Menschen nahezukommen. Andererseits ist „God to go“ religionsökologisch ebenso problematisch wie das als Analogie dienende Kaffee-Produkt.


Hiobs Freunde

Mich erinnerte der Gedanke, dass man nun die Gläubigen online mit der Frohen Botschaft an-streamen bzw. beglücken könne, an die Freunde Hiobs, die nach einer Phase des Mitleids einfach ihre Theologie abspulten – ohne dem Leidenden in seiner Klage und seiner Not noch zuzuhören.

Wie diese sorgt man sich um die Logik der Theologie, und wenig um die Klage derer, die im Elend sind. Es geht um das Funktionieren der Kirche, der Theologie, des Weltbildes, der Theodizee. Und dazu werden Klischees und Formeln reproduziert. Social Media ist ja so state of art.

Dabei sind die Freunde Hiobs besser als ihr Ruf. Denn etwas unterscheidet sie grundlegend von den geschwätzigen theologischen Zeitgenossen dieser Tage, die vor allem eine Chance zur digitalen Verkündigung wittern. Hiobs Freunde zeigen zumindest am Anfang der Geschichte eine elementare Kultur der Compassion, des Mitleidens. Sie machen sich auf den Weg zu dem leidenden Hiob, nachdem sie von dessen Nöten gehört hatten. Und dann leiden sie mit ihm.

In Hiob 2, 11 - 3, 3 können wir lesen:

Es hörten aber die Freunde Hiobs von dem ganzen Unheil, das über ihn gekommen war. Da kamen sie, jeder von seinem Ort: Elifas, der Temaniter, Bildad, der Schuachiter, und Zofar, der Naamatiter. Die verabredeten sich hinzugehen, ihm zuzunicken und ihm Trost zu geben. Sie erhoben von ferne ihre Augen und erkannten ihn nicht wieder. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Aschenstaub auf ihr Haupt zum Himmel hin.

    Dann setzten sie sich zu Ihm auf die Erde – sieben Tage lang und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.

Das ist eine Kultur des Mitleidens, die man sich aktuell durchaus gewünscht hätte:


Sieben Tage solidarisches Schweigen


Ganz in diesem Sinne hatte Katharina Scholl auf zeitzeichen.net vom Schweigen als Auftrag. Wider den kirchlichen Aktionismus in der Coronakrise geschrieben. Und ich kann ihr da nur aus vollstem Herzen zustimmen – genau das wäre geboten gewesen, wenn man dem Buch Hiob folgt. Aber es blieb nicht aus, dass ihr widersprochen wurde. Versemmelte Gemeinde. Warum die Kirche gerade jetzt nicht schweigen darf entgegnete Wolfgang Thielmann und meinte:

„Eine Kirche macht sich unwichtig, die sich in ihrer Not aufs Schweigen verlegt, die sich dem Stress verweigert, in den ihre Mitglieder jetzt geraten sind.“

Dem kann ich nicht zustimmen. Für mich ist nicht primär die Kirche (als Institution) wichtig, sondern zunächst das Leben und die Leiden der Menschen. Und dazu gehört die Compassion, die gegenwärtig erst einmal ein schweigendes „Hören auf“ heißen kann. Und dann, aber erst dann kann man Lehren ziehen – und nicht Sentenzen aus dem Fundus religiöser Trivial-Poesie.

Danach öffnete Hiob seinen Mund und verfluchte seinen Tag. Und Hiob reagierte und sprach:  »Es verschwinde der Tag, an dem ich geboren wurde, und die Nacht, die sprach: Ein Mann wurde empfangen!

Und Hiob wünscht sich nicht, dass seine Freunde nun gleich sagen, so schlimm wird das schon nicht, Gott wird schon seinen Grund für all das haben, vielleicht hast Du ihm doch Anlass gegeben, aber wahrscheinlich hat Gott gar nichts damit zu tun. Aber Hiob möchte, dass sie hören, was ihn umtreibt, warum sein Weltbild des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zerbrochen ist. Er sucht Gesprächspartner. Und keineswegs solche Gesprächspartner, bei denen von vorneherein schon feststeht, wie die Antwort auszusehen hat.

Zum Beispiel: regionaler Exkurs
Zu Ostern schickte mir meine Kirchengemeinde zum ersten Mal nach 25 Jahren eine Postkarte. Sie will mit mir in Verbindung bleiben, weil ja aktuell keine Gottesdienste stattfinden. Das Design der Postkarte war dieses kitschige Farben-Gemisch, das sich auf so vielen Postkarten von Verlagen findet, die ‚Anlasskarten‘ vertreiben. Auf dem bunten Bild prangte ein Spruch von Papst Paul VI: „Das Ostergeheimnis bestimmt unser letztes Ziel“. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Was ist unser letztes Ziel? Hätte es nicht gereicht, Lukas 24, 34 zu zitieren: „Der, dem wir gehören, der ist wirklich auferweckt worden“? Das wird zwar auch auf der Rückseite der Postkarte geschrieben, aber nur als Insider-Formel. Den Hauptteil der Postkarte füllt dann ein Witz, den man vielleicht in normalen Zeiten erzählen kann, der mir aber aktuell völlig unpassend erscheint. In Sachen Osterlachen bin ich eher ein Anhänger des Reformators Johannes Oekolampad. Was nun nicht auf der Postkarte stand, war die Frage, wie es mir geht, ob ich Hilfe bräuchte oder Hilfe leisten könne. Also genau das, was ich erwartet hätte, wenn mir meine Gemeinde einmal in 25 Jahren eine Postkarte schickt. Als Postskriptum finde ich eine Telefonnummer – nicht die meiner Pfarrerinnen, sondern eine, hinter der sich ein Tonband verbirgt, das mir tagesaktuelle Andachten rund um Ostern aus meiner Gemeinde vorspielt. Si tacuisses, theologus mansisses. Schweigen kann eine Kunst des Zuhörens sein, wie uns die Freunde Hiobs eindrücklich zeigen.


Hiobs Freunde in der Kunstgeschichte


Die Bilder der Kunstgeschichte, die ich mir unter diesem Aspekt dann angeschaut habe, sind durchaus beredt. Sie erzählen alle vom Social Distancing, zugleich aber auch von solidarischer Verzweiflung, Betroffenheit, Erschütterung. Es sind Bilder des Nach-Denkens.

9. Jh. - Codex Gr. 749

Der Codex 749 aus der Vatikanischen Bibliothek (Teil I / Teil II) datiert ins 9. Jahrhundert und hat eine Fülle interessanter Illustrationen zu Hiob und seinen Freunden. Es wird Bild für Bild gezeigt, wie sie aus ihrer Heimatstadt aufbrechen, sich auf den Weg zum Leidenden machen. Entsprechend der nachbiblischen Legende sind sie als Könige dargestellt.

Als sie auf Hiob treffen, legen sie ihre Kronen ab, sie verzweifeln angesichts des Elends ihres Freundes, sie zerreißen ihr Hemd, fallen auf die Knie und streuen sich Asche aufs Haupt und halten sich die Hand vor den Mund.

Hiob sitzt auf dem Schutthaufen und stellt in seinem Leiden und seinen Geschwüren einen deutlichen Kontrast zu seinen Freunden dar, was von der optischen Trennlinie verstärkt wird. Was aber klar ist, ist die deutliche Leidensorientierung auf dem Bild.

Eine andere Bildlösung wird einige Seiten weiter im Codex gewählt, dort nämlich, wo es um die kontroverse Erörterung dogmatischer Fragen geht. Hier kann man geradezu physisch eine Abkehr der Freunde vom konkreten Leiden Hiobs beobachten.

Wo vorher der Blick noch auf ihn gerichtet war und eine gewisse Nachdenklichkeit vorherrschte, ist nun vor goldglänzendem Hintergrund das doktrinale Gespräch getreten, während Hiob selbst mit abgewandtem Gesicht die vom Leiden gekennzeichneten Hände abwehrend hebt. Hiobs ‚Weltbild‘ ist vom dem seiner Freunde klar abgegrenzt.

Wie in einem Comic entfaltet sich nun über zahlreiche Bilder die erregte Diskussion zwischen Hiob und seinen Freunden. Dabei stehen den Illustratoren wenig inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, sie müssen auf die Gestik und die Anordnung der Figuren setzen. Diese unterschiedlichen Zuordnungen muss man nun – in Relation zum Text – zu lesen versuchen.

Man meint den Bildern ebenso die Divergenzen zwischen den Freunden wie Momente der Übereinstimmung entnehmen zu können. Mal kommen die Freunde zumindest in der Gestik Hiob (bis auf Fingerlänge) nahe, am Ende offenbart sich jedoch eine unüberbrückbare Differenz der Perspektiven, sie werden wieder zu Funktionsträgern, Könige im Dialog mit einem Erkrankten. Es ist eben doch ein großer Unterschied, ob man etwas erleidet oder über Leiden redet.


12. Jh. - Große Admont Bibel

Die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene Admonter Riesenbibel ist eines der Hauptwerke der romanischen Salzburger Buchkunst. Mit ihren 46 zum Teil ganzseitigen, leuchtend kolorierten Miniaturen und mehr als 100 vorwiegend in Gold und Silber ausgeführten Rankeninitialen ist die Bibel ein herausragendes Beispiel dieser Art von Handschriften. Charakterisiert sind sie durch ihren ostentativen Charakter. Aus moderner Sicht sind sie reaktionär durch und durch:

Codices der Hl. Schrift in überdimensionalem Format und prachtvoller Ausstattung sind vor allem zur Zeit der Kirchenreformation (11. Jh.) und zuerst in Italien entstanden, als man die Überlegenheit der Kirche über die weltl. Macht beweisen, den Einfluss der Laien auf den Klerus zurückdrängen und den Zustand der Urkirche wiederherstellen wollte. Zu diesem Zweck ließ man prachtvolle Kultgeräte schaffen, die auf die Herrlichkeit Gottes verwiesen. Waren die Hl. Schriften bis dahin als einzelne Bücher erschienen – Schriften des Alten und Neuen Testamentes, Psalter, Evangelien, Apostelgeschichte -, so waren in den Riesenbibeln alle Teile in einem Band zusammengefasst. Derartig überproportionale Exem­plare waren naturgemäß immens teuer und entstanden als Stiftung vermögender Geldgeber zu deren Totengedenken. [Lexikon des Mittelalters]

Die Bibel widmet auch dem Buch Hiob ein Blatt. Was mich an dieser Illustration beeindruckt hat, ist zum einen die Nähe zu mittelalterlichen Pestbildern wie auch – zumindest was die Darstellung des Hiob betrifft – zu expressionistischen Bildern des 20. Jahrhunderts. Auch an die Darstellung Christi auf dem Isenheimer Altar könnte man denken. In der Riesenbibel fokussiert sich alles auf Hiob, er dominiert das Bild. Seine Freunde schwanken zwischen Selbstbezüglichkeit und Verzweiflung. Hiob gibt durch seine Haltung zum Ausdruck, dass die theoretischen Erörterungen seiner Freunde ihn nicht mehr betreffen. Aber zumindest einer der Freunde bleibt ganz Hiob zugewandt.


15. Jh. – Stundenbücher

Das Stundenbuch des Étienne Chevalier, gemalt 1458 von Jean Fouquet, bringt noch einmal einen besonderen Aspekt in die Konstellation von Hiob und seinen Freunden. Denn hier geht es weniger um das Schweigen der Freunde oder ihre vorgetragene dogmatische Deutung des Leidens von Hiob, sondern darum, dass sie in dessen Elend ein potentielles Schicksal für sich selbst erblicken. Jeder Reiche kann, wenn es einen Reichen wie Hiob trifft, auch getroffen werden. Die französische Nationalbibliothek hat dem Blatt in ihrer Ausstellung freilich eine andere Deutung gegeben:

Mit einem Lappen bedeckt und auf dem Misthaufen zusammengesunken, fügt sich der alte Hiob im Schatten nahtlos in die Umgebung ein. Es kehrt zum Staub zurück. Seine Freunde verraten ihre Abneigung (répugnance), indem sie ihre großen Mäntel anziehen. Im Hintergrund reproduzierte Fouquet den Turm (donjon) des Château de Vincennes und wollte wahrscheinlich an die 'Tour de Force' erinnern, eines der Wahrzeichen dieser Kardinaltugend.

Ich glaube jedoch nicht, dass die Freunde Hiobs ostentativ höfische Kleidung tragen, ganz im Gegenteil. Das Bild wendet sich an seinen höfischen Besitzer und mahnt ihn, dass auch er vor dem Unbill Hiobs nie sicher sein kann, dass sein Chateau und sein Reichtum ihn nicht schützen. Insofern die drei Freunde seine Repräsentanten / Avatare im Bild sind, ist die Lehre des Bildes die, dass Krankheit, Seuchen, Katastrophen (fast) alle Menschen gleich machen.

Und mein Argument dafür ist, dass im Stundenbuch des Herzogs von Berry das Hiob-Bild der Totenmesse gewidmet ist. Ich kann hier keinen Spott, sondern nur eine Mahnung im Sinne des Memento Mori erkennen:

„Verspottung“ mag hier das ikonographische Sujet sein, aber der Inhalt ist die Einsicht in die Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen. Unverkennbar ist aber hier die Solidarität der Hörenden in die Belehrung der Dogmatiker umgeschlagen. Aber die bildliche Gestaltung macht deutlich, dass die Freunde auf der linken Seite sich vor dem Schicksal Hiobs auf der rechten Seite fürchten.


19. Jh. – Gustav Doré

Die letzten beiden Bilder in dieser Reihe stammen von Gustave Doré (1832-1883), dessen Illustrationen der biblischen Erzählungen von einem deutlich erkennbaren zeittypischen Orientalismus charakterisiert sind. Der Vorteil seiner Bilder ist, dass sie wenigstens den regionalen Kontext mitbedenken, der Nachteil ist, dass auch dies im Wesentlichen eine eurozentristische und vor allem auch romantische Projektion darstellt.

Dennoch sehen wir hier zum ersten Mal so etwas wie eine Ebenbürtigkeit der Gesprächspartner gespiegelt, die einer Diskussion in einer altorientalischen Welt näher kommt, als die Illustrationen der Jahrhunderte vorher: „Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit“.

Und die Schwierigkeit scheint in der über-medialisierten Gegenwart darin zu bestehen, zu wissen, wann die Zeit für das Schweigen und wann die Zeit für das Reden angebracht ist. Man muss angesichts des Leidens nicht verstummen, man kann es eine Kultur des Zuhörens und zur Sprache Bringens nennen.


Summa

Im Hiob-Artikel der Wikipedia gibt es eine schöne bündige Zusammenfassung der Argumente der Freunde Hiobs. Die Freunde interpretieren Hiobs Leiden:

  • als Folge seiner individuellen Schuld mit dem Ziel, diese zu bestrafen und zu sühnen, um ihn zur Umkehr zu bringen. Sie vertreten den zweiseitigen Vergeltungsglauben, wonach der Gerechte Lohn, der Frevler Strafe zu erwarten habe. Daraus ergab sich der Rückschluss, der Glückliche müsse gerecht und gut, der Unglückliche verwerflich und schlecht gehandelt haben.
  • als unabwendbaren Bestandteil des Menschseins, Folge seines Geschaffenseins, unabhängig vom Verhalten.
  • als pädagogische Zurechtweisung, die die Seele vor dem Untergang bewahrt.
  • als Bewährungsprobe des Gerechten, in der sich die Echtheit seines Glaubens herausstellt.

Viele kirchlichen, aber auch säkulare Äußerungen der letzten Zeit, das ist zumindest meine Wahrnehmung, entsprachen solchen der drei Freunde von Hiob – in ganz unterschiedlichen Abstufungen und Qualitäten. Zwar wird nur selten die Erkrankung mit individueller Schuld im Sinne des Tun-Ergehens-Zusammenhangs erörtert, wenn auch einige Kritiken an den Touristen in Tirol in diese Richtung gingen. Aber es wird so getan, als gäbe es eine kollektive Sünde, für die die Krankheit nun die Folge sei. [Auch Linke argumentieren gerne in ähnlicher Richtung.] Als Zeichen Gottes sehen es allzu viele Religiöse und offenbaren damit ein doch eher archaisches und magisches Gottesbild. Die Mehrzahl aber sorgte sich darum, dass ihre Theologie auch in der Krise irgendwie fungibel (systemrelevant) blieb oder suchten diese Systemrelevanz in ihrer Funktionalität noch digital zu steigern. Im Interesse der Sache natürlich. Viele fragten sich aber auch: (be)trifft es mich? Die wenigsten fragten: was können wir (für Dich/Euch) tun? Bei Peter Dabrock habe ich das im Rahmen seiner Tätigkeit für den Deutschen Ethikrat wahrgenommen, bei Bischof Wilmer auch, bei anderen jedoch nicht. Wenn aber die Christengemeinde im Zentrum der Bürgergemeinde steht, dann müsste deren Wohlergehen doch eigentlich das treibende Motiv sein. Suchet der Stadt Bestes, denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.

Meine Bemerkungen beziehen sich selbstverständlich nur auf die veröffentlichten Stellungnahmen der Theolog*innen und kirchlichen Institutionen. Mir ist durchaus bewusst, dass in einer Vielzahl von Gemeinden und Gemeindegruppen, die von mir erwünschte alltagspraktische Solidarität des „Hören auf“ und des „Helfen bei“ durchaus praktiziert wird. Gerade weil daraus keine Ideologie und missionarische Agitation wird, sondern weil es gelebt wird, ist es natürlich nicht öffentlich kenntlich. Und das ist vielleicht auch gut so. Nicht die Systemrelevanz kann das Kriterium sein, sondern nur – nach Matthäus 25 – das konkrete Eintreten für den Nächsten.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/125/am698.htm
© Andreas Mertin, 2020