01. Juni 2020

Liebe Leserinnen und Leser,
nach Ansicht des Wiener Theologen Ulrich Körtner macht die Corona-Krise „einen zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirchen“ deutlich. Zu dieser Erkenntnis hätte man nicht der Corona-Krise bedurft, das war auch schon vorher erkennbar, wie Wolfgang Vögele in seiner Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz in dieser Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik herausarbeitet. Wenn überhaupt, müsste man präziser von einem Bedeutungsverlust aller Religionen und des Religiösen insgesamt sprechen, denn auch die anderen Religionen (einschließlich der sog. Ersatzreligionen wie Fußball) unterlagen und unterwarfen sich den gleichen Restriktionen. Und religiöse Artikulationen jenseits der großen Religionen waren auch nicht auffällig. Jedenfalls dürfte es schwer sein, die Säkularisierung nun einer spezifischen Konfession oder Religion zuzuweisen. In diesem Fall waren alle gebeutelt und nicht nur die Protestanten. Vielleicht ist diese Krise aber auch ungeeignet für derartige Schlussfolgerungen, greift das Virus doch in jene Lebensbereiche fundamental ein, für die wir in der Moderne eigene, höchst spezialisierte Agenturen ausgebildet haben. Frustriert könnte man dann nur sein, wenn man sich noch nicht eingestanden hat, dass für die Gesundheit inzwischen die Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, für psychische Gefährdungen die Psycholog*innen, für die fachlichen Beratungen die Naturwissenschaftler*innen, insbesondere die Virolog*innen und Epidemolog*innen zuständig sind. Auch in Bildungsfragen wenden wir uns nicht mehr an die Religionen, sondern an die Pädagog*innen. Und daran ist ja nichts Schlimmes, es ist das Ergebnis der insbesondere vom Protestantismus unterstützten modernen Ausdifferenzierung. Diese Krise ist eben keine Glaubenskrise, sie stellt Gott im Bewusstsein der Bevölkerung gar nicht infrage. Nur Theolog*innen haben so getan, als ob der begrenzte Zugang zum Gottesdienst eine Gotteskrise bedeute. Das ist aber nicht so. Nach der Wiedereröffnung der Kirchen blieben die Menschen erst einmal weg, weil sie vernünftige Vorsorge betrieben, nicht weil sie mit Gott haderten. Deshalb sollte man die Frage produktiv anders stellen: Wozu noch Kirche? Wozu noch Religion? Die Krise fordert uns heraus, über das Spezifische des Religiösen nachzudenken. Auf welche Fragen gibt Religion, gibt das Christentum, gibt die jeweilige Konfession Antworten? Nur weil Theolog*innen sich immer als Generalist*innen begreifen, sind sie noch lange keine. Es wäre gut, wenn sie sich als Spezialist*innen begreifen und präzise sagen, wofür sie qualifiziert sind und welche Fragen sie beantworten wollen und können. Und in dieser Frage verstörte mich die Sprachlosigkeit der Gläubigen – und nicht die der Kirchenleitungen, das ist eine reaktionäre Haltung. Wenn wir Menschen heute Kuratoren unseres Lebens sind, wie Andreas Reckwitz nahelegt, welche Rolle weisen wir der Religion zu?

SINGULARITÄTEN

Das Magazinthema Singularitäten ist in der aktuellen Diskussion eng verknüpft mit dem Namen des Soziologen und Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz. Im ersten Artikel in der Rubrik VIEW stellt Wolfgang Vögele dessen Ansatz nicht zuletzt im weiteren Kontext der religionssoziologischen Bemühungen der letzte Jahrzehnte vor und fragt nach den Herausforderungen, die sich daraus für die aktuellen Debatten ergeben. Manfred Riegger geht in seinem Artikel dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Krisenlage nach.

In der Rubrik CAUSERIEN finden Sie einen Essay von Jörg Herrmann zur Aktualität der Theodizeefrage. Andreas Mertin fragt, was wir angesichts der Corona-Krise von den Freunden Hiobs und ihren Darstellungen in der Kunstgeschichte lernen können. In einem weiteren Text setzt er sich mit den Sprachbildern auseinander, die im Rahmen der Krise von verschiedenen Kirchenvertretern benutzt wurden.

Unter RE-VIEW macht Karin Wendt Beobachtungen zu Werken der Künstlerin Meta Schillmann und Barbara Wucherer-Staar stellt drei Ausstellungen vor, die aktuell nach den Lockerungen in der Corona-Krise auch noch besucht werden können.

In der Rubrik IMPULS setzt Andreas Mertin seine Überlegungen zur Lehre der leeren Städte vor und schreibt darüber hinaus über Fliegen, Weintrauben und Bilderrahmen und welche Bedeutung sie für das Bildganze und das Verständnis von Kunst haben.

Und in der Rubrik POST gibt es letztmalig die Kolumne der schwarzen Kanäle, die mit diesem Heft eingestellt wird, weil die Kritisierten zu dumm geworden sind. Darüber hinaus unternimmt Andreas Mertin einige wortstatistische Spielereien zum Gebrauch des Wortes „heilig“.

Das nächste Heft 126 des Magazins für Theologie und Ästhetik steht dann unter der Überschrift „SERIE(N)“. Wem dazu etwas einfällt, den laden wir zur Mitarbeit ein.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann, Horst Schwebel, Wolfgang Vögele und Karin Wendt


Heft 126: Serie(n) (1.8.2020; Redaktionsschluss 15. Juli 2020)

Heft 127: Weltbegebenheiten (1.10.2020; Redaktionsschluss 15. September 2020)

Heft 128: Religiöse Kulturhermeneutik (1.12.2020; Redaktionsschluss 15. November 2020)

Leserinnen und Leser, die Beiträge zu einzelnen Heften einreichen wollen oder Vorschläge für Heftthemen haben, werden gebeten, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.

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