Visuelle Fülle

Zu den Bildern von Meta Schillmann

Karin Wendt

Anfang des Jahres stellte der Kunstverein Rotenburg unter der kuratorischen Leitung von Martin Voßwinkel in einer Einzelausstellung die Künstlerin Meta Schillmann (*1945) vor, die seit 2015 in den Bildnerischen Ateliers der Rotenburger Werke arbeitet.

Die Finissage hatte im März aufgrund von Corona leider abgesagt werden müssen. Begleitend ist jedoch ein schöner Katalog[1] entstanden, der die Arbeiten gut dokumentiert.

Die Bilder von Meta Schillmann zeigen uns die schiere Fülle. Wie aus einer nicht versiegenden Quelle ergießen sich vor unseren Augen Formen und Farben, verwebt zu lichten Strukturen oder verdichtet zu satt leuchtenden Feldern – abstrakte Landschaften, die entfernt an so unterschiedliche Erscheinungen wie fallende oder sanft sprudelnde Wasser, wogende Gräser, Leuchtorganismen, Blütenregen oder Blütenmeere erinnern.

Verstehbar wird solche Fülle aber erst, wenn wir auch das Gegenteil vergegenwärtigen, wie etwa der biblische Prophet Joel in einer Rede an sein Volk. Er führt ihnen vor Augen, wie es ist, wenn alles, was die Erde uns zum Leben bietet, versiegt:

„Hört dies, Älteste, gebraucht eure Ohren, alle, die ihr im Lande wohnt! Ist dergleichen je in euren Tagen geschehen? Oder in den Tagen eurer Vorfahren? Erzählt davon euren Kindern … und der folgenden Generation.  ... Das Feld ist verwüstet. Die Ackererde trauert … Der Most ist ausgetrocknet, verkümmert ist das Öl. Ihr Bauersleute verschweigt euer Elend nicht, die ihr Wein anbaut, heult über Weizen und Gerste, denn die Ernte des Feldes ist hin. Der Weinstock ist verdorrt, der Feigenbaum verwelkt, der Granatapfel, ja selbst die Dattelpalme, der Apfelbaum und alle Bäume des Feldes sind vertrocknet, ja, die Quelle der Freude ist den Menschen versiegt. … Wurde nicht vor unseren Augen die Nahrung vernichtet, Freude und Jubel dem Hause unseres Gottes entrissen?  … Wie stöhnt das Vieh! … Auch die Tiere des Feldes schreien zu dir, denn die Wasserbäche sind ausgetrocknet und Feuer frisst die Weideplätze der Wüste.“ (Joel 2-19)

Wie anders als „wüst und leer" (Gen 1,2) erscheinen nun die Bilder von Meta Schillmann. Sie schenken uns einen visuellen Reichtum, der sich nicht erschöpft. Beim Betrachten gerät das Sehen in einen Fluss, der nicht abreißt. Sie zeigen lebendige Texturen, organisch aufgebaut aus kreiselnden oder strichelnden Gesten, die enger oder weiter werden und so die Bildfläche, oft von einem dezentral im Bildfeld liegenden Punkt aus, nach und nach vernetzen. Man vollzieht sehend die kreisenden, zitternden, tupfenden, schraffierenden und wischenden Bewegungen der Hand nach, die Pinsel oder Stift in rhythmischer Wiederholung über die Leinwand oder den Karton geführt haben: von innen nach außen, von oben nach unten, von einer Ecke zur anderen, Schicht über Schicht. Aus den wolkigen oder knäuelförmigen Verdichtungen und dem Lichten einzelner Bereiche ergibt sich eine spezifische Strömung mit teils gegenläufigen Binnenströmungen: jedes Bild entwickelt so einen Grundsog, den wir mal als Auftrieb, mal als Fliehen und dann wieder als Herabregnen von Formen und Farbe wahrnehmen. Je länger man schaut, um so mehr überlässt man sich der verbindenden Wahrnehmung von kompositorischen und erzählerischen Momenten.

Jedes Bild hat einen Grundton, der sich in Abstufungen aufhellt oder abdunkelt und manchmal prismatisch gebrochen wird. Die Künstlerin vertraut den unterschiedlichen Materialien, wenn sie Aquarellfarben durchscheinend laviert und Acrylfarben malerisch verwischt, wenn sie mit Acrylstiften dichte Schraffuren und skripturale Muster zeichnet. Bisweilen erscheinen die ornamentalen Linien noch einmal in Weiß auf dunklerem Grund und bilden so für das Auge Höhungen aus. So ergeben sich unterschiedliche Lagerungsqualitäten, vergleichbar dem Schweben und Gleiten von einzelnen Partikeln, die das Bild auch in axialer Richtung in eine pulsierende Schwingung versetzen. In einigen Arbeiten variiert sie ihre Technik, indem sie in die bemalte Oberfläche kratzt und tieferliegende Schichten freilegt, die wie feine vibrierende Fäden im Dunklen leuchten.

Wenn man will, lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: die allover-Strukturen, die den Blick nahe an die Erscheinungen heranzoomen, und die perspektivischen Darstellungen, bei denen sich durch den Richtungswechsel in der Linienführung angedeutet Wege ergeben, die in den Bildraum hineinführen. Der Eindruck belebter offener Räume ergibt sich jeweils aus der Fülle der ornamentalen und malerischen Gesten, die nie zu begrenzten Formen geschlossen werden, sondern skizzenhaft, wie Schlaufen, Fäden oder Felder den Blick zugleich ‚verstricken‘, leiten und entgrenzen – zart und verhalten im Detail, aber kraftvoll im Verbund: nichts verläuft gerade, alles erscheint flexibel und ‚schubst‘ das Benachbarte an.

So wird eine Sehbewegung erfahrbar, die keine Hierarchien zwischen Figur und Grund entstehen lässt, sondern den Übergängen von lichthafter Öffnung bis hin zur völligen Verdichtung nachgeht, ohne dass diese Bewegung an irgendeinem Punkt abbricht. Solche Bilder können wir nicht analytisch erschließen. Wenn wir versuchen, sie zu zergliedern, zerfallen sie. Wir müssen uns verschiedenen Eindrücken gegenüber gleichzeitig öffnen, um das Bild als Ereignis zu vergegenwärtigen. Die Qualität dieser Malerei liegt darin, dass sie den Blick immer wieder auf die konkrete Zeichnung und die reine Farbe zurücklenkt und so das Entstehen des Bildes offen legt.

Der Kunsthistoriker Erich Franz schrieb 1998 zur Kunst von Mark Tobey (1890-1976), einem Wegbereiter des Abstrakten Expressionismus:

„Tobeys Bilder sensibilisieren die Augen und Sinne für das Besondere. Man sieht um so mehr, je länger man sie betrachtet. Doch alles, was wir sehen, ist unfixierbar; es entsteht aus dem Ganzen und bindet sich ein in Ganzes, und dieses Ganze bleibt selbst nie das gleiche. Das Ganze jedes Bildes ist das, was beim Betrachten zwischen all seinen Einzelheiten zusammenwächst. Es ist ein atmendes, bewegliches, werdendes Ganzes, das nicht bereits im Bild fixiert ist, sondern das, von ihm ausgehend, immer neu und lebendig im Betrachter entsteht.“

Das Gleiche gilt für die Bilder von Meta Schillmann.

Anmerkungen


[1]    Ausst.Kat Meta Schillmann. Formwille und Tumult, Kunstverein Rotenburg, 14. Februar bis 19. März 2020, Berlin Druck: Achim 2020. Dieser Text erschien etwas verändert zuerst a.a.O., S. 29-30.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/125/kw088.htm
© Karin Wendt, 2020