Gottes Hautfarbe

Über die Implikationen und Konsequenzen einer ver-rückten Debatte

Andreas Mertin

Müssen wir Eulen aus Athen tragen?

Es war zugegebenermaßen nicht nur der mir etwas zu sehr nach Werkgerechtigkeit klingende Teaser des Artikels von Philipp Greifenstein im Eule-Magazin, der mich irritierte:

Christlicher Rassismus
Wie Antisemitismus und Islamhass hat auch der Rassismus christliche Wurzeln. Die Kirchen müssen ihre rassistische Geschichte aufarbeiten, um an einer gerechten und solidarischen Zukunft zu bauen.

Müssen wir das? Ich bin 1958 geboren und zu der Überzeugung erzogen worden, dass Rassismus und Christentum unvereinbar sind. Apartheid und Rassismus sind für das Christentum eine Häresie. (»Rassismus, eine der schrecklichen Sünden der Menschheit, ist mit dem Evangelium Jesu Christi unvereinbar. Er manifestiert sich nicht nur in individuellen Vorurteilen, sondern ist in den Strukturen und Institutionen der Gesellschaft verankert«; so die 7. Vollversammlung des ÖRK). Leider gibt es weiterhin Christen, die ihre rassistische Ideologie religiös bemänteln, aber es gibt einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen christlicher Lehre und Rassismus. Wenn man aus falschen naturrechtlichen Überlegungen und unzutreffenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableitet, dass es so etwas wie Rassen gibt und Gott sie daher auch geschaffen haben müsse, so ist das eine unzulässige religiöse Verbrämung scheinbar naturwissenschaftlicher Beobachtungen. Deshalb schmerzt es mich, wenn in einer Überschrift „christlich“ und „Rassismus“ ohne Anführungszeichen zusammengebunden werden. Nein, für mich gibt es das nicht: einen sich zu Recht auf Christus berufenden Rassismus, es gibt nur sich als „christlich“ etikettierende Rassisten. Rassismus ist für das Christentum ein erklärter status confessionis (LWB 1977) und eine Häresie (Ref. Weltbund 1981), christlicher Rassismus eine contradictio in adjecto.

Die Mehrzahl der Christen auf dieser Erde dürfte zudem gerade nicht aus der europäischen Tradition stammen, sondern selbst Opfer auf rassistischen Vorurteilen basierender Strukturen sein. Von den knapp zwei Milliarden Christen stammt nur ein Viertel aus Europa. Schon deshalb ist es verzerrend, dem Christentum als solchem Rassismus zu unterstellen, wenn man europäische Christen meint. Ja, es gibt Menschen, die ihren Rassismus religiös und eben auch christlich bzw. protestantisch begründen. Nein, der kosmopolitische Charakter des Christentums verhindert, dass diese rassistischen Verzerrungen sozusagen in der DNA des Christentums angelegt sind.

Die Rassenlehre wurzelt zunächst einmal im sich fortentwickelnden naturwissenschaftlichen Denken der Neuzeit und der Moderne. Nicht zufällig sind es gerade die mit der Aufklärung verbundenen Denker (von Kant über Hegel bis Fichte, jedoch nicht Herder), die hier auffällig werden. Wo alles typisiert, vermessen, kategorisiert und gewertet werden musste, wurden auch Menschen typisiert, vermessen, kategorisiert und gewertet. Es ist wichtig, sich diese fürchterliche „Dialektik der Aufklärung“ immer wieder in Erinnerung zu rufen.

Historisch zeigte das Christentum ein tiefes Misstrauen gegenüber jenen, die ihren tradierten Glauben (ob Judentum oder Islam) verließen und zum Christentum übertraten. Aber es begründete das nicht mit der ‚Rasse‘, sondern aus der Vermutung, dass die von ihm gewaltsam erzwungenen Konversionen keine aus Überzeugung waren. Erst die Aufklärung und der Fortschritt der Naturwissenschaften ermöglichten ein Denken, das Menschen für ihre angebliche ‚Rasse‘ bzw. ihre ‚Anlagen‘ verantwortlich machte. Man konnte sich noch so sehr assimilieren, man blieb als Abkömmling fassbar. Die digitalen Möglichkeiten, die IBM den Nazis zur Verfügung stellte, ermöglichte es, mehrere Generationen zu verfolgen, so dass eine höhere Zahl an „Jüdisch-Stämmigen“ im Deutschen Reich erfasst und später vernichtet werden konnte.

Ob wir das jedoch zunächst aufarbeiten müssen, um an einer besseren Gesellschaft zu bauen, wie Greifenstein meint, weiß ich nicht. Ich bin zwar kein Anhänger des Satzes von Erich Kästner „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“, aber noch weniger überzeugt mich der Gedanke, man müsse erst alles aufgearbeitet haben, bevor es besser werden kann. Das erinnert mich zu sehr an die linke Selbstkritik aus Studienzeiten, bei der mir schnell klar wurde, dass nach der Selbstkritik nichts besser wurde, sondern nur andere Machtverhältnisse etabliert waren. Die Mächtigen waren nun jene, die Aufarbeitung fordern und durchsetzen konnten. Aber besser wurde dadurch nichts. Das hat mir zu viel von einer erzwungenen Beichte, die mir schon religionsbiographisch fremd ist. Dem Zwang zur Selbstkritik vor der konkreten gesellschaftlichen Zusammenarbeit unterwerfe ich mich nicht. Es ist selbst ein Moment der Ausgrenzung. [Nebenbei bemerkt: Auch wer seine Vergangenheit als Ku-Klux-Klan-Mitglied nicht ‚aufarbeitet‘, kann, wie die Geschichte der USA zeigt, antirassistische Gesetze erlassen und wegweisende Urteile fällen. Und auch ein reaktionärer U-Boot-Kommandant kann später fortschrittliche Theologie vertreten. Aus einem Saulus könnte immer noch ein Paulus werden.]


Intermezzo

Ganz anders würde sich die Situation darstellen, wenn tatsächlich in das Christentum und seine Theologie selbst, also quasi in die DNA unseres Glaubens, der Rassismus grundlegend eingeschrieben wäre. Dann wäre es aber auch nicht mehr ausreichend, diesen Tatbestand für eine bessere Zukunft aufzuarbeiten, sondern dann müsste das Christentum konsequenterweise aufgegeben werden, denn dann entkäme man dem Rassismus nicht, insofern man an der Bibel als Offenbarungsschrift festhalten wollte. Dann wäre eine Rassismus-befreite christliche Theologie eben nicht möglich. Sie könnte allenfalls eine sich ihres immanenten Rassismus bewusste Religion sein. Ich wüsste nicht, warum man ihr dann noch folgen sollte.

Die durchaus bekannten Argumente für diesen Ansatz sind ja schnell zusammengetragen. Insofern man geneigt ist, den (nicht nur) für Judentum und Christentum konstitutiven Gedanken eines von Licht und Finsternis bestimmten Geschehens mit dem Gedanken einer darin inhärenten Schwarz-Weiß-Logik zu assoziieren und die entsprechenden theologischen Lehren des Paulus als Schwarz-Weiß-Dualismus auszulegen und die Licht-Finsternis-Metaphorik der Evangelien als Vorbereitung der Welt in ein Schwarz-Weiß-Denken zu sehen, dann entkommt man dem Rassismus nicht.

Paulus markiert in den zitierten Passagen das menschliche, sündhafte Fleisch nicht dezidiert als ‚schwarz‘, über Sünde und Sterblichkeit sind diese farbsymbolischen Codierungen jedoch grundlegend angelegt und werden über die Formulierung der ‚Werke der Finsternis‘ (Eph 5,11) präzisiert. … Die bei Paulus angelegte schwarz-weiß-symbolische Codierung des menschlichen Leibs, die als Gegenüberstellung vom sündigen Fleisch und einem perspektivischen ‚Auferstehungsleib‘ zur Geltung kommt, konkretisiert sich beispielhaft bei Lukas und Matthäus als Rede vom ‚finsteren‘ und ‚lichten‘ Leib. Hier jedoch werden nicht ein Ist-Zustand und ein perspektivisches Erlösungsstadium in zeitlicher Abfolge gegenübergestellt, sondern der diesseitige Leib wird schwarz-weiß-symbolisch ausdifferenziert. [Husmann, Jana (2010): Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ‚Rasse‘; Religion - Wissenschaft - Anthroposophie. Bielefeld: Transcript-Verl., S. 80f.]

Freilich genügt es dann nicht, erst mit Paulus einzusetzen (und so zu tun, als sei er kein Jude), sondern man müsste beide, sowohl Judentum wie Christentum, in den Blick nehmen. Erklärt werden müsste dann auch, warum den People of Color unter den frühen Christen dieser Umstand nicht aufgefallen ist, ja warum sie selbst – wie etwa Augustin – an der Ausformulierung des Licht-und-Finsternis-Paradigmas entscheidend mitgewirkt haben. Erklärungsbedürftig wäre zudem, warum die Apostelgeschichte im Jahr 90 nach Christus so viel Wert darauf legt, dass nicht nur ein Eunuch und Staatsbeamter, sondern zudem ein Kuschit/Äthiopier der erste nicht-jüdische Christ wird. Ich halte es jedenfalls für auffallend, dass Apostelgeschichte 8 in den entsprechenden Büchern überhaupt nicht auftaucht.


Black Lives Matter

In den USA reflektieren viele Christ*innen motiviert durch die #BlackLivesMatter-Proteste verstärkt den Rassismus in ihren Kirchen. Auch die Kirchen in Deutschland haben genügend Anlass dazu. Denn auch Rassismus wird, wie Antisemitismus und Islamhass, religiös begründet und überhöht.

Das ist eine so unpräzise Beschreibung, dass ich doch protestieren möchte. Verstehe ich das richtig: in den beiden deutschen Kirchen werden Antisemitismus, Islamhass und Rassismus religiös begründet und überhöht? Oder ist das eine historische Aussage? Richtig ist zwar: In den Kirchen gibt es Rassisten, Antisemiten und Islamopho­be. Aber sie sind nicht die Kirche und vertreten nicht ihre Lehre! Wo gibt es einen Beschluss der Kirchen nach 1945, in dem Rassismus religiös begründet und überhöht wird? Wo einen, der dies im Blick auf Antisemitismus macht oder im Blick auf den Islam? Das würde ich gerne belegt sehen.

Oder meint der Autor, dass in den Kirchen nicht genug gegen Rassismus, Antisemitismus oder Islamophobie protestiert wird? Das mag sein, ich fände es aber nicht präzise genug benannt. Es gibt einen Bruch in der Theologie nach 1945, es gibt die Theologie nach Auschwitz, auf katholischer (J. Metz) wie evangelischer Seite (D. Sölle). Das ist ein in vielen Theologien und religiösen Biographien ablesbarer Bruch. Dieser Bruch macht sich kenntlich in der Abwendung von kolonialistischen und antijudaistischen Motiven und bewegt sich seit 70 Jahren hin zum interreligiösen Gespräch. Es ist ein mühsamer Weg und man kann sich wünschen, er wäre schon viel weiter gediehen. Aber es gibt keine religiöse Überhöhungen von Antisemitismus, Rassismus oder Islamhass. Gerade weil die ev. Kirche nach 1945 ihre Theologie neu denken musste, stellt sich heute vieles anders dar.


Farbenlehre

Solidarität mit der #BlackLivesMatter-Bewegung muss daher mit der Reflexion der eigenen religiösen Geschichte und Gegenwart beginnen. Jesus war Jude, Nicht-Weiß und wäre, lebte er heute in Europa, rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Selbiges gilt für das gesamte vertraute Personal der Bibel. Trotzdem wurden und werden von Adam und Eva angefangen alle Akteur*innen der biblischen Heilsgeschichte in der europäisch-christlichen Kunst als Weiße dargestellt.

Das war der zweite Punkt, der mich ärgerte, er strotzt mir etwas zu viel von weißer Gewissheit. Dass Gott in Jesus als Jude geboren wurde, ist konstitutiv für den christlichen Glauben. Seine Hautfarbe spielt im Neuen Testament keine Rolle. Oder ist das falsch? Dass Jesus Nicht-Weiß war, hätten ja auch die Nationalsozialisten behauptet – nicht aber die Rassentheoretiker des 19. Jahrhunderts, die Vorderasiaten unter weiße Kaukasier subsumierten. Was also meint der Autor damit? Dass Jesus Christus sich Farbzuschreibungen entzieht (weil seine Gottessohnschaft derartige Etikettierungen als obsolet erweist)? Oder meint er, dass Jesus programmatisch Nicht-Weiß = People of Color war? Wie schon dargelegt, wird im Neuen Testament, sowohl bei Paulus wie in den Evangelien, Jesus Christus ja sehr auffällig dezidiert als helles Licht im Gegenüber zu dunklen Finsternis der Welt dargestellt. Ist der Rassismus also im NT angelegt oder nicht?

Geht es also nur um den Teint, den Jesus als Bürger des Vorderen Orients hatte? Oder geht es doch wieder um die Hautfarbe als angeblich typisches Merkmal? Und was wissen wir darüber, wenn wir von der Inkarnation, also von der Gottessohnschaft Jesu ausgehen? Ist es für die aktuelle theologische Diskussion wirklich konstitutiv, dass Gott programmatisch Nicht-Weiß und Nicht-Schwarz zum Menschen wurde? Dann wären wir wieder bei den theologisch kommentierten Rasselehren des 19. Jahrhunderts. Bisher war für viele post-koloniale Theoretiker klar, dass Juden weiß sind, denn für sie gehören sie ja zu den bösen Unterdrückern und Anwendern von Apartheid [Vgl. dazu aktuell Wuligers Woche: Welche Farben haben Juden?]. In den USA ist es bis heute üblich, alle hellhäutigen Menschen als caucasian zu bezeichnen und Juden darunter zu subsummieren. Im U.S. Census April 2020 mussten Juden erstmals nicht nur darüber Auskunft geben, ob sie Weiß oder Nicht-Weiß seien, sondern auch, wo sie herkommen. Die Jerusalem Post macht sich in einem Artikel darüber lustig (American Jews: Are you white?). Die Mehrzahl der befragten Juden antworteten mit „Weiß“, um zugleich hinzuzufügen, dass jüdisch oder aschkenasisch eigentlich die bessere Antwort wäre.

Der Gassenhauer, dass Jesus, wenn er heute geboren würde, wieder verfolgt würde, begleitet mich seit meiner Kindheit. Er wird mit der hunderttausendsten Wiederholung nicht wahrer. Sein kulturpessimistischer Touch soll die Gegenwart geißeln und als schlecht denunzieren. Vielleicht aber gefiele es Jesus in der heutigen Welt? Würde er sich selbst wirklich als Opfer von Rassismus und nicht seiner Theologie sehen? Das weiß man nicht, er spricht aktuell nicht darüber, aber ich würde daraus auch keine Thesen basteln.

War Jesus in der Zeitenwende Opfer rassistischer Gewalt? Nach moderner Definition sicher, aber es ist kein eigenes Thema der biblischen Schriftsteller. Letztlich wird hier ‚Jesus‘ für die eigene Sicht auf die Welt missbraucht.

Gekünstelt finde ich die Empörung darüber, dass in der Kunstgeschichte Adam und Eva als Weiße dargestellt werden.

Ehrlich gesagt, mir ist überhaupt keine einzige Darstellung von Adam und Eva bekannt, die nach derart veristischen Kriterien nicht problematisch wäre.

Auf muslimischen Illustrationen sind Adam und Eva Araber, auf afrikanischen Schwarzafrikaner, auf lateinamerikanischen Lateinamerikaner. Alles andere würde einen doch auch arg überraschen.

Nur eines sind sie auf diesen Bildern niemals: ockerfarben, also so, wie die ersten Menschen nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Frühzeit ausgesehen haben, bevor sie sich farblich nach heller und dunkler ausdifferenzierten

Die biblischen Schriften datieren Adam und Eva jedoch in die Zeit kurz vor der Sesshaftwerdung, bestimmt von den Konflikten zwischen den Jägern und Sammlern und den Hirten und Ackerbauern (Kain und Abel).

Das wäre um 12.000-10.000 vor heute. Wie müsste man sie also darstellen, wenn es keine ‚rassistische‘ Darstellung sein soll?

Und wie gehen wir mit mythischen Figuren um, die nie existiert haben: Mose etwa oder Hiob? Müssen wir im Stil des Orientalismus des 19. Jahrhunderts schauen, wie Menschen auf der Sinai-Halbinsel 1200 v. Chr. ausgesehen haben oder die Menschen im mythischen Land Uz, um Mose und Hiob entsprechend zu gestalten? Oder dürfen wir sie inkulturieren, so wie es Afrikaner, Asiaten, Europäer und Amerikaner nicht nur mit den biblischen Figuren getan haben?

Wenn in der Merian-Bibel die Schöpfungsgeschichte im Rheintal verortet wird, dann glaubte doch niemand, Gott sei gegenüber der Burg Maus tätig gewesen und Noah sei an der heutigen Loreley gestrandet. Es war eine Form des Aggiornamento, der Annäherung an die Welt, um die Botschaft verständlich zu machen: Gott/Jesus kommt in Eure Welt.


Ikonoklasmus

Was tun?
Rassistisch geprägte christliche Kunst sollte im Religions- und Konfirmandenunterricht sowie in der Erwachsenenbildung in Gemeinden und Akademien kritisch betrachtet werden.

Selbstverständlich soll man immer das Falsche als falsch benennen, aber das sollte gerade im Religions- und Konfirmandenunterricht nach benennbaren und nachvollziehbaren Kriterien erfolgen. Was also ist „rassistisch geprägte christliche Kunst“? Die Selbstverständlichkeit mit der hier bereits im Voraus unterstellt wird, man wisse schon, worum es geht, erschreckt mich. Alle diese Begriffszusammenstellungen sind hoch komplex in sich und seit langem kontrovers.

Kunst – christliche Kunst.
Gibt es das: ‚christliche‘ Kunst? M.E. gibt es das nur in der Alltagssprache, nicht in der Fachsprache. Hans Belting (Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst) würde von christlichen Bildern auf der einen und Kunst auf der anderen Seite sprechen, weil bei ersteren der Inhalt / die Ideologie das Werk bestimmt, bei letzterem das Werk den Inhalt nur zum Anlass der künstlerischen Gestaltung nimmt. Bei Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“ geht es nicht um eine Reflexion der Prostitution, nicht um versteckten Rassismus, sondern um die Reflexion des Malens. Kulturgeschichtlich kann man daraus natürlich auch Informationen über Prostitution und die Aneignung afrikanischer Kultur durch Weiße entnehmen, aber das ist nicht Gegenstand des Kunstwerkes, es ist sein außerästhetisches Substrat.

„Rassistisch geprägte christliche Kunst“.
Es gibt Mörder, die Kunstwerke geschaffen haben, aber das macht die Werke nicht zu mörderisch geprägter Kunst (sonst würde ich das an Benvenuto Cellini gerne einmal vorgeführt bekommen). Es gibt Rassisten, die Kunstwerke geschaffen haben, aber das macht die Werke nicht zu rassistischer Kunst. Es gibt unbestreitbar Rassismus in der Kunst, aber kaum rassistische Kunst, weil sonst auch hier der dargestellte Inhalt zum Kriterium der Kunst wird. Um 1900 ‚wusste‘ die kulturinteressierte deutsche Christenheit, dass es „entartete Kunst“ gibt. Dieses Wissen ist ihr vergangen (von den rechten Rändern einmal abgesehen). Woher kommt nun aber das neue Wissen um die „rassistische Kunst“? Weil man dieses Mal auf der richtigen Seite steht? Erkennbar geht es nicht um Kunst-Urteile aus Kunsterfahrung, sondern um gesellschaftspolitische Urteile über Kunst bzw. deren Inhalte. Angesichts der historischen Erfahrung mit diesem Thema sollte man gerade in Deutschland damit vorsichtig sein.

Rassismus in der Kunst:
Auch das ist ein hoch komplexes Thema, weil die Wahrnehmung von Rassismus in der Kunst ja selbst schon ein interpretativer und oftmals auch gewaltsam interpretativer Akt ist. Schauen wir einmal auf Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“. Wenn man Picassos Bild ansieht, zu welchen Schlussfolgerungen kommt man? Gibt es dort einen objektiv feststellbaren Rassismus? Die Wikipedia gibt einen interessanten Einblick in die seinerzeitige Rezeption:

Eine Ratlosigkeit der Zeitgenossen gegenüber den Arbeiten Picassos in dieser Phase seines Schaffens zeigt sich in den Begriffen, mit denen sie verbunden wurden. „Assyrisch“ kamen die Demoiselles Wilhelm Uhde vor, „ägyptisch“ nannte sie Henri Rousseau. So wurde Picassos Schaffensphase ab dem Sommer 1907 bis 1908 als période nègre (Negerperiode) oder Iberische Periode bezeichnet. [Wikipedia]

Viele Begriffe und wenig Erkenntnis. Das zeigt die Schwierigkeit begrifflicher Etikettierungen a la „rassistisch“. Es macht deshalb den Charme von moralisierenden Interventionen aus, dass sie selten konkret werden. Abstrakt klingt das ja gut, anders wird es, wenn es konkretisiert werden soll. Was wären denn problematische Bildwerke, um die es im Religionsunterricht gehen soll?

Wir können schnell Einigkeit herstellen, was dezidiert hetzerische antijudaistische Bildobjekte wie die Darstellung der Judensau von 1300 an der Wittenberger Kirche betrifft. Offenkundig können sich aber die Christen vor Ort überhaupt nicht darauf einigen, wie hier vorzugehen wäre. Dabei scheint das doch ein ziemlich eindeutiger Fall. Aber engagierte Theo­logen wie Friedrich Schorlemmer plädieren für den Verbleib – wenn auch mit Kommentie­rung. Andere, darunter jüdische Mitbürger, für die Entfernung. Und andere sogar für die Zerstörung.

Wie geht man damit um? Und wie entscheidet man das?

Und was ist mit den Illustrationen der Herrad von Landsberg in ihrem kulturgeschichtlich viel gerühmten Hortus Deliciarum?

Sie ist die erste Frau, die eine christliche Enzyklopädie schreibt, aber ihre Illustrationen sind weitgehend widerwärtig antijudaistisch.

Was machen wir damit?

Was ist mit all den zugespitzt antijudaistischen Darstellungen im Stil des Lebenden Kreuzes im Kontext der Gregorsmesse?

Entfernen wir diese unerträglichen Herabwürdigungen des Judentums, kommentieren wir sie (nur) oder feiern wir sie als herausragende Kunstwerke der Renaissance? Oder feiern wir gar unter ihnen Gottesdienst?

Wie sollen sich also „die Kirchen“ und die (Religions-) Pädagog*innen positionieren, wenn Ende 2020 bis Anfang 2021 in der Berliner Gemäldegalerie das aufwendig restaurierte „Lebende Kreuz von Ferrara“ des Sebastiano Filippi (ca. 1532–1602) aus dem Besitz der Humboldt-Universität präsentiert wird?

Sollen sie auf den Rassismus (nach heutigen Kriterien) im Bild hinweisen, auf seine theologisch eindeutigen antijudaistischen Inhalte? Oder ist all das nur eine Spiegelung seiner Entstehungszeit?

Aber was bedeutet das?

Schnell wird auch klar, dass auch so gut wie kein religiöses Kunstwerk von Lukas Cranach vor der Kritik Bestand haben könnte. Die Burgfräuleins, die er als Judith malte, haben mit der unterstellten Ethnizität der biblischen Figur wenig zu tun. Cranachs Madonnen mit ihrer vornehmen Blässe dürften kaum in Nazareth, Bethlehem oder Jerusalem gelebt haben.

Der Christus am Kreuz in Weimar ist doch recht „nordisch by nature“ (das gilt natürlich auch für den beliebten Christus von Berthel Thorvaldsen).

Die Darstellung von Gesetz und Evangelium auf dem Altar von Wittenberg in ihrer Abwertung des Judentums ist kaum zu halten. Gerade die Bilder vom Lebenden Kreuz machen einem deutlich, dass einige Hauptwerke der Reformation nur Inversionen dieses Motivs sind.

Alle Figuren auf diesem Bild zeigen Menschen, die mit dem Nahen Osten nichts zu tun haben. Es zeigt den Menschen exemplarisch als Mann, die Juden als Vertreter des Gesetzes, die auf der abgestorbenen Seite des Baumes der Hölle und dem Teufel zugewandt bzw. ausgeliefert leben.

Das beschreibt das Dilemma. Verhüllen wir die Werke jetzt? Oder stellen wir sie in Ausstellungen als „nicht artgemäße Kunst“ aus? Man möge mir die böse Anspielung verzeihen, aber darauf läuft es doch hinaus. Wir präsentieren demnächst Ausstellungen mit guter, ethisch zertifizierter Kunst und stellen ihr Schandausstellungen mit ethisch belasteter Kunst gegenüber. Ich habe Zeit meines Lebens gehofft, dass sich das nicht wiederholt. Aber nun halte ich es für denkbar.

Wo käme dann obiges Hauptwerk der Kunstgeschichte zu stehen? Wie es damals in Italien Brauch war, wurden „die Juden“ mit Hakennase dargestellt. Leonardo da Vinci ordnete zwar anders als seine Vorgänger Judas egalitär unter die Jünger ein, charakterisierte diese aber physiognomisch. Von da aus führt durchaus ein Weg zu den Bildern der Nationalsozialisten. Bei Leonardo und seinen Auftraggebern war das antijudaistisch motiviert, später wurde es dann antisemitisch instrumentalisiert. Sollen wir dieses Bild künftig im Religionsunterricht einsetzen und wenn ja, wie? Und was schlagen wir der katholischen Kirche vor, wie sie damit vor Ort in Mailand verfahren soll? Ich bitte um Vorschläge. Noch sind wir nicht daran gewöhnt, die Bilder vor dem 20. Jahrhundert auf ihre Political Correctness zu untersuchen, so wie im Kunstunterricht der Nazis Kunstwerke daraufhin begutachtet wurden, ob sie von Juden oder Kommunisten waren. Ich fürchte, es bliebe wenig übrig, was wir dann noch ohne rahmende Bemerkungen einsetzen können. Die Säuberungsliste würde die der Nationalsozialisten weit über­treffen.

Explizit antisemitisch wird es dort, wo an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Jesus und seine Jünger arisiert, die beobachtenden Juden aber mit Hakennase und Judenhut dargestellt wurden. So wie wir es auf den Bronzetüren des Bremer Domes bis heute vorfinden. Und da hilft es wenig, sie nur kritisch zu betrachten oder zu kommentieren. Sie müssen entfernt und in einem Museum als Exempel für die Verirrungen sich als christlich ausgebender Kunst vorgestellt werden.

Was aber machen wir mit Leonardo da Vinci? Oder mit den antijüdischen Elementen in Dantes Göttlicher Komödie? Ohne Frage sind beide große Künstler. Dem neuerdings erhobenen Ton po­litischer Korrektheit, Derartiges zu verbannen oder zu reinigen, mag ich mich nicht anschließen. Der Preis für diese Form der Tatortreinigung wäre mir zu hoch. Die künstlerische Leistung Leonardo da Vincis dem anti-rassistischen Diskurs schlicht unterzuordnen – darum geht es ja im Kern -, negiert alles, was Kunst als Kunst auszeichnet. Letztlich geht es darum, den ästhetischen Diskurs in einen moralisierenden Diskurs zu überführen. Das alte böse Spiel der Theologen.


Gegen die Malcolm X Perspektive

Auch die universitäre Theologie ist gefragt, wenn es darum geht zu klären, ob und in wie fern die Rezeption Schwarzer Theologien unter rassistischen Vorzeichen geschieht. Was ließe sich durch eine Anwendung des Instrumentariums der critical whiteness auf die Kirchen- und Dogmengeschichte lernen? Was lässt sich aus dieser Perspektive über die Begeisterung gerade deutscher Christ*innen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für Gospelmusik und die Bürgerrechtsbewegungen in den USA oder Südafrika sagen?

Ja gewiss, nichts und niemand ist unverdächtig – das sagt der totale Staat auch zu seinen Bürger*innen. Wer sich für Schwarze Theologie, die Gospelmusik oder für den Bürgerrechtler Martin Luther King interessiert, tut das demnach nicht, weil ihn das aus der Sache heraus interessiert, sondern weil er sich herablassend als Weißer den Schwarzen zuwendet. Diese Hermeneutik des Verdachts ist universal und sie ist erschreckend. Einmal damit infiziert, entkommt man ihr nicht, selbst wenn man Schwarz wäre – Malcolm X Invektiven gegenüber Martin Luther King (Hausneger, Onkel Tom) machen das deutlich. Wo der Staatsanwalt noch argumentieren und das Pro und Contra zusammentragen muss, reicht der Hermeneutik des Verdachts der Verdacht als solcher. Könnte ja rassistisch sein oder den Rassismus verharmlosen.

Die Freiheit universitärer Forschung soll nun mit Floskeln scheinaufklärerischer Topoi wie Critical Whiteness begrenzt werden. Nun ist niemand ist daran gehindert, die Forschungen der Universitäten unter neuen Paradigmen zu betrachten und zu betreiben. Diskursreglementierungen von Forschung sind aber selbst Teil fataler deutscher Unterdrückungsgeschichte. Ich reagiere hier deshalb empfindlich, weil von dieser Hermeneutik des Verdachts eben auch ein Theologe wie Hans-Eckehard Bahr betroffen ist, bei dem ich selbst noch studiert habe, und der in den 60er-Jahren Mitarbeiter Martin Luther Kings in Amerika war und so grundlos unter Verdacht gerät. Die Critical Whiteness weiß es besser als Martin Luther King, warum weiße Theologen mit ihm zusammenarbeiteten. Critical Whiteness scheint mir eine weitere Volte zu sein, mit der Weiße um sich selbst kreisen. Mir persönlich erscheint das als Symptom einer grassierenden Blockwartmentalität aller Schattierungen und Ideologien. Wie gesagt, es spricht nichts dagegen, aufzuzeigen, wie blinde Flecken bei weißen Forschern zu Fehlurteilen oder Falschbeurteilungen führen. Das hilft der Wissenschaft, weiter zu kommen und Fehlurteile zu berichtigen. Das gehört zu den Grundvoraussetzungen auch traditionell hermeneutischer Arbeitsweise. Etwas anderes ist es, weißen Forscher systematische Verzerrung zu unterstellen. Wenn der Staat die Bürger*innen vorab als potentielle Verbrecher*innen einstuft, wie er es verwerflicher Weise im racial profiling, aber auch bei der Rasterfahndung tut, dann protestieren wir. Wenn das Gleiche für die wissenschaftliche Arbeit getan wird, sollen wir applaudieren? Die inquisitorische Gesinnungserfor­schung mag kirchengeschichtlich eine lange Tradition haben, und oft wohl auch als Gewissenserkundung aus hehren Motiven erfolgt sein, aber sympathisch wird sie einem dadurch nicht.

Wir leben in Zeiten, in denen Denker*innen, die sich mit Befreiungstheologie beschäftigen, verdächtigt werden, dass sie das ja nur herablassend als Weiße tun würden. Wir leben in Zeiten, in denen Kunstwerke aus Museen entfernt werden, weil sie dem korrekten Denken der Gegenwart nicht mehr passen. Wir leben in Zeiten, in denen weltweit Statuen von Christoph Kolumbus, Mahatma Gandhi, Immanuel Kant, Bismarck u.a. vandalisiert oder zerstört werden, weil sie alle in der einen oder anderen Weise gegen heute gültige Regeln verstoßen haben.

In effigie, der Vollzug der Vernichtung eines Angeklagten in Abwesenheit durch die Zerstörung seines Bildes, ist ein archaischer Akt – auch wenn er im 20. oder 21. Jahrhundert stattfindet. Ob man 1908 eine Judas-Puppe symbolisch verbrennt oder 2020 ein Denkmal nicht nur entfernt, sondern symbolisch ins Wasser stürzt, scheint mir beides wenig humanistisch inspiriert. Der in Bristol lebende Künstler Banksy hat einen guten Vorschlag gemacht, wie man mit Hilfe der Kunst mit Objekten umgehen kann, die heute als problematisch empfunden werden. Das empfinde ich als im positiven Sinne aufklärerisch.

Mein Vorschlag lautet: Vertrauen wir der Kunst und den Künstler*innen, dass sie die notwendigen selbstkritischen Impulse aus sich heraussetzen, vertrauen wir auf die (evangelische) Theologie und Theolog*innen des 21. Jahrhunderts, dass sie die Theologie nach Auschwitz fortschreiben, aber natürlich auch auf die widerständigen Diskurse, die gegen all das Protest einlegen und so den Diskurs voranbringen. Seien wir misstrauisch gegenüber allen Initiativen, die uns durch Verfahrensvorschläge politische Korrektheit und den rechten Ton beibringen wollen. Sie sind paternalistisch und ich fürchte, historisch betrachtet eher kontraproduktiv. Vielleicht hören Sie stattdessen lieber jüdische Satire: Tom Lehrer - National Brotherhood Week.

“If, after hearing my songs, just one human being is inspired to say something nasty to a friend, or perhaps to strike a loved one, it will all have been worth the while.”


‚Iconic turn‘

Erzbischof Justin Welby der Anglikanischen Kirche Englands schließt sich der Diskussion an und verkündet ebenfalls: „Jesus war kein Weißer.“ Immerhin garniert er seine Aussage mit Abbildungen diverser unterschiedlich farblich akzentuierter Jesus-Darstellungen aus Geschichte und Gegenwart. In seinem Tweet wird dann aber deutlich, wohin er eigentlich zielt:

Jesus war aus dem Nahen Osten, nicht weiß. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern. Aber der Gott, den wir in Christus anbeten, ist universell und die Hoffnung, die er bietet, ist eine gute Nachricht für uns alle. Hier sind einige meiner Lieblingsbilder von Christus aus der ganzen Welt. Was sind deine?

Und er befürchtet, so ist seinem Interview mit der BBC zu entnehmen, dass die Fixierung auf einen bestimmten Hauttyp in einem bestimmten kulturellen Kontext den Eindruck verstärken könnte, Gott sähe so aus: weiß, schwarz, braun. Dem will er, wenn ich es recht verstehe, durch Reflexion und Vielfalt Einhalt gebieten.

Dabei wäre die erste Erkenntnis doch die, dass Jesus als jemand, der dem zweiten Gebot folgt, jegliches Abbild, das der Verehrung und damit der Fixierung (s)einer Ansicht dient, abgelehnt hätte. Jesus Christus ist, um Kurt Marti zu zitieren, die Befreiung der Künste zur Profanität. Wir brauchen keine Jesus-Abbilder mehr, weil Gott selbst in Jesus Christus erschienen ist. Die Lösung ist also kein korrektes Christusbild, sondern kein Christusbild.

Das alttestamentliche „Bilderverbot hat neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Dass man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich.“ (Theodor W. Adorno) Dem mag sich der Erzbischof vermutlich nicht anschließen. Für seine Bischofskirche in Canterbury sagte der Erzbischof zu, dass alle Statuen und Bilder überprüft würden. Da bin ich gespannt, welche Lösung er für die Glasfenster aus dem 12. Jahrhunderts finden wird. Mir jedenfalls erscheint das Personal auf der Kreuzigung sehr weiß. Aber hier kann die Beleuchtungstechnik ja vielleicht weiterhelfen.


Gibt es Lösungen?

Georg Seeßlen hat in der ZEIT versucht, Lösungsstrategien für diese Zeit der angedrohten oder bereits durchgeführten Reinigung zu skizzieren. Zunächst aber skizziert auch er eine Hermeneutik des Verdachts: vom „Rassismus in netter Form“ in Kinderbüchern bis zum „umgekehrte(n) Vorgang einer weißen Inbesitznahme schwarzer Musik, schwarzer Helden, schwarzer Kunst und vielleicht sogar schwarzer Politik durch die rebellischen Kinder des weißen Mittelstandes.“ Ich habe schon geschrieben, dass ich eine solche pauschale Verdächtigung problematisch finde. Meine Vermutung ist, dass es sich um eine höchst einseitige Hermeneutik handelt. Was auf der einen Seite durchaus positiv „Aneignung“ genannt wird, wird auf der anderen Seite kritisch als „Inbesitznahme“ kritisiert. Seeßlen nennt nun fünf mögliche Lösungswege:

  1. Der bedingungslose Liberalismus, der darauf setzt, dass aufgeklärte Menschen mit den problembelasteten Objekten der Vergangenheit auch historisch-kritisch umgehen können. Nur sieht er dazu die gesellschaftlichen Verhältnisse noch nicht erreicht.
  2. Die Kommentierung und Erläuterung historisch belasteter Objekte, also die berühmten Erläuterungstafeln vor Ort. Aber er fragt sich, ob diese Art der Distanzierung wirklich reicht. [Und ich frage mich, ob das den Kunstcharakter der Werke nicht zerstört.]
  3. Die selektive Bearbeitung, sprich die Entfernung problematischer Objekte und ihre Überführung in den Reflexionsdiskurs (Bibliotheken, Museen, Ausstellungen). Der öffentliche Raum wird gereinigt und exemplarisch das Falsche als solches benannt.
  4. Die Perspektive der Opfer, das heißt, der öffentliche Raum muss nicht nur gereinigt, sondern auch gestaltet werden, als Ort für Trauer, Erinnerung und Kritik. In einem gewissen Sinn wird er re-pädagogisiert.
  5. Das rewriting der Kulturgeschichte, das Neuschreiben der Geschichte unter Beteiligung jener, die ihre Opfer geworden sind. Es geht um die Neubildung einer kulturellen Identität.

Nun muss man die skizzierten Lösungen nicht als einander ausschließende verstehen. In einer aufgeklärten Kultur könnten alle fünf in bestimmten Perspektiven zur Geltung kommen. Mal kann man ein Objekt stehen lassen, mal reicht ein Kommentar, mal ist die Überführung ins Museum angebracht. Dafür muss es eine Diskursethik geben, über die in der Gegenwart gerungen wird. Persönlich habe ich viel Sympathie für die erste liberale Lösung, kann aber verstehen, dass dies für viele eine Belastung darstellt. Alle Lösungen sind mit Schmerzen verbunden. Lösung eins mutet den Opfern den Anblick sie belastender und schmerzender Darstellungen zu, alle anderen Lösungen implizieren Eingriffe in den Kernbestand (also nicht nur in den Trash) der Kultur. Die Beispiele, die Seeßlen dann nennt, sind nur die offensichtlichen. Die finde ich gar nicht so problematisch, weil sie doch im zeitbewussten Diskurs schnell problematisiert werden können (Lösung 2). Problematischer finde ich jene Beispiele, auf denen der Rassismus durch unseren Blick erst entsteht. Also solche Werke, bei der die Hermeneutik des Verdachts diese im Nachhinein nicht nur zu rassistischen erklärt, sondern sie zu rassistischen macht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/am701.htm
© Andreas Mertin, 2020