Zur Renaissance des politischen Ikonoklasmus

Eine Vorbemerkung

Andreas Mertin

"Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten."
[UN-Menschenrechtserklärung]

„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“
[Art. 5 Grundgesetz]

Wer sich kulturell äußert, macht sich notwendig verdächtig

Was sich schon 2017 bei der temporären Abhängung des Bildes „Hylas und die Nymphen“ von John William Waterhouse abzeichnete [vgl. Verf. (2017), Verdammte Erinnerung I. Über das Abhängen von Kunst in Zeiten verquerer Moral, sowie Verf. (2017), Verdammte Erinnerung II. Was ist Sexismus in der Kunst?] ist nun zu einer beinahe täglich erhobenen Forderung und zu einer symbolpolitischen Praxis geworden – zurzeit freilich weniger bei Gemälden, als vielmehr an Statuen von als rassistisch klassifizierten Politikern, Philosophen und Künstlern. Aber auch Gemälde wie Georg Herolds Werk im Frankfurter Städel werden nicht verschont [Vgl. Verf. (2020), Hinterm Vorhang. Entweder-Oder: Die Kunst in den Händen ihrer Tugend-Wächter*innen].

Schon der politische Bildersturz 2003 im Irak war keinesfalls ein befreiender Bildersturm, sondern ein von der Invasionsarmee der USA bewusst im Rahmen einer politischen Strategie inszenierter Akt [Vgl. Verf. (2003), „Destroy the icons“! Zur Renaissance des politischen Ikonoklasmus]. Nur ein die historischen Geschehnisse verklärendes Gedächtnis kann heute darin eine positive politische Geste sehen und sie mit emanzipatorischen Bilderstürmen in Beziehung setzen.

Bilderstreit und Bildersturm hatten ihren Ort zumindest bei den Kirchen in der Neuzeit dort, wo es um die Funktion von Bildern als Bildern und Statuen als Statuen im religiösen Geschehen ging [Vgl. Verf. (1988/2003), Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung]. Nicht der Inhalt der Bilder, nicht ihre Qualität, nicht die Ideologie der Bilder waren fraglich, sondern ihr Einsatz als Mittel zum Heil [Vgl. Verf. (2015), Der reformierte Blick auf die Bilder. Gedanken zu einer theologischen Ästhetik].

Seit dem 19. Jahrhundert geht es aber in den Bilderstreitigkeiten vermehrt um die Inhalte. In den Kirchen, insofern dort der Realismus als Arbeiterkunst abgelehnt wurde oder die romantischen Landschaftsdarstellungen als nicht mit dem Christentum kompatibel angesehen wurden, in der bürgerlichen Welt, insofern dort nun nach der Ideologie und der Ethnie der Künstler (welsche Kunst) gefragt wurde. Einen „Höhepunkt“ erreichte dies in der Kunstverfolgung der Nationalsozialisten – unter Beifall evangelischer Theologen [Vgl. Verf. (2011), Verstrickung oder Komplizenschaft? Die Evangelische Kirche und die Kunstpolitik der Nationalsozialisten im Themenheft 75 Jahre danach: Kunst und Kirche].

Und auch aktuell spielt die künstlerische Qualität der inhaltlich inkriminierten Werke überhaupt keine Rolle. Die Frage nach dem Kunstcharakter wird als bürgerliche Attitüde angesehen und beiseite gewischt. Was zählt, ist der ethisch oder moralisch bewertbare Inhalt, das Sujet der Kunst oder die Haltung des Künstlers.

Man kann sich nun ernsthaft die Frage stellen, ob der Kampf für eine freie autonome Kunst, die sich nicht ethischen Vorgaben unterwerfen muss, nicht bereits verloren ist, und wir so langfristig die interessante Kunst nicht mehr in den Ausstellungen, sondern in den Museumsdepots finden werden. Das ist aber nur ein Teil des Problems. Der ausschlaggebende Punkt ist aber der, dass der Preis, den man für die Teilnahme an diesem Streit gegen die erzwungenen politischen Korrektheiten zahlen muss, ein großer ist. Inzwischen wird sogar diskutiert, ob man als „alter weißer Mann“ am Diskurs überhaupt teilnehmen darf: „braucht es eine offene Diskussion darüber … wer, mit welchen Erfahrungen, an dieser Unterhaltung teilnehmen darf (sic!).“ Ob ein im Museum gezeigtes Bild problematisch ist „sollte nicht die weiße Mehrheitsgesellschaft“ entscheiden. Gemeint ist aber nicht, dass künftig alle am Diskurs teilnehmen sollen, sondern im Gegenteil, dass gezielt bestimmte Gruppen (die in diesem Fall sogar die Mehrheit bilden) ausgeschlossen werden sollen. Und tatsächlich ist es ja bereits so, dass, wer sich für die große Kunst der Vergangenheit interessiert und engagiert, schnell als Weißer, als weißer Mann oder als Rassist (Weiße Wissens­produktion) etikettiert wird und ostentativ Critical Whiteness als vor zu leistendes Schuldeingeständnis eingefordert wird. Vielleicht ist das nur logisch, wenn man die neutestamentliche Erzählung von der Taufe des Äthiopiers in der Kunst nur daraufhin untersucht, was sie an künstlerischen Momenten in die Geschichte eingebracht hat und nicht gleich daraufhin, welche Stereotype sich (angeblich) in ihr spiegeln. Der aktuelle Diskurs über und gegen Kunst ist destruktiv (und eben nicht nur dekonstruktiv) und bevormundend zugleich.

Jedenfalls sollte man sich fragen, ob man diese allumfassende Hermeneutik des Verdachts mitmacht. Wenn wir künftig Kunstwerke im Religions- und Konfirmandenunterricht vorab daraufhin untersuchen sollen, ob sie auch politisch korrekt sind, dann werden wir am Ende nur noch Schund im Unterricht haben. Die große Kunst, Leonardo da Vinci, Dante, Cranach, Caravaggio und all die anderen, war nie politisch korrekt, sondern an den jeweiligen Irrungen und Wirrungen ihrer Zeit beteiligt: Sie zeigen Juden mit Hakennasen (Leonardo), äußern antijüdische Stereotype (Dante), illustrieren die Verwerfung der Juden (Cranach), waren Totschläger (Caravaggio). Aber sie zeigte auch das Leiden der Menschen in den gewaltsamen Auseinandersetzungen (Goya), den Alltag der Menschen bei der Arbeit (Courbet), das Wechselspiel der Natur (Cezanne), das Angesicht der Menschen um uns herum (fast alle Künstler*innen). Das alles kann und muss man im Unterricht aufzeigen. Aber damit wollen die Bilderstürmer der Gegenwart es nicht sein Bewenden haben lassen. Sie wollen die "Säuberung des Kunsttempels" und der Kulturvermittlung. Da gehen sie mit ihren Vorfahren im Geiste, die auch eine politisch korrekte Kunst und Kultur nach ihren Vorstellungen wollten, konform.

Ohne uns.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/am702.htm
© Andreas Mertin, 2020