Hinterm Vorhang

Entweder-Oder: Die Kunst in den Händen ihrer Tugend-Wächter*innen

Andreas Mertin

Ein absurdes Theater spielt sich aktuell in der Kultur ab. Auf der Suche nach anstößigen Kultur­objekten, Bildern, Sätzen, Wörtern und Klängen durchsuchen Blockwarte Ausstellungen und Museen, Zeitschriften und Zeitungen, Literatur und Theater, beseelt vom Wunsch nach Säuberung oder Verhüllung. Wem das bekannt vorkommt, täuscht sich nicht. Es ist ein seit Jahrhunderten vertrautes Setting reaktionärer Kulturfeindschaft. Ästhetik und Kultur, so ist deren Grundannahme, muss sich der politischen Ethik unterordnen. Und alles, was der je aktuell zugrunde gelegten Ethik [Moral] nicht entspricht, muss gereinigt, sprich: entfernt oder verhüllt werden.

Im 19. Jahrhundert war es nach der vorherrschenden Moral das Nackte, das aus der Kunst und Kultur entfernt werden musste. Dieser Diskurs ebbte zwischenzeitlich ab, ist aber weiterhin virulent. Im 20. Jahrhundert war es das „Jüdische“ und „Kommunistische“ in der Kunst, das auf den Widerstand der kleinbürgerlich-nationalsozialistischen Kunstwächter stieß und gereinigt werden musste. In den 60er und 70er Jahren war es die Blasphemie in der Kunst, die auf den Widerspruch der religiös Verletzten stieß und deshalb entfernt werden sollte. Dieser Angriff auf die Kunst und Kultur konnte abgewehrt werden, blieb aber auf der Agenda religiös Empörter.

Das Gemeinsame all dieser Angriffe ist, dass sie nicht willens sind, die grundlegende Autonomie der Kunst anzuerkennen. Sie ordnen die Kunst jeweils anderen Diskursen unter. Nun gibt es selbstverständlich Grenzen der Kunst, die von den staatlichen Gesetzen festgelegt werden. Aber nicht einzelne Gruppen oder der Mainstream der Gesellschaft urteilen darüber, sondern Gesetzgeber und später Gerichte, die sich an Gesetzen und Grundwerten orientieren. Keinesfalls können und dürfen Einzelne oder Gruppen über die Legitimität von Kunstwerken entscheiden.

Und doch erleben wir zurzeit die ganz selbstverständlich erhobene Forderung, allein die Betroffenen dürften über die von ihnen als verletzend empfundene Kunst entscheiden.

Das finde ich bemerkenswert. Lassen wir uns in einem Gedankenexperiment einmal darauf ein. Vor einigen Jahren tobte weltweit ein heftiger Streit, weil Muslime dagegen protestierten, dass in fast allen Ausgaben der Online-Enzyklopädie Wikipedia Abbildungen veröffentlicht wurden, die ihren Glauben und das, was ihnen heilig ist, zutiefst verletzten. Sie beharrten darauf, dass es für Muslime ein konstitutives Bilderverbot gibt und deshalb Abbildungen des Propheten, aber auch der anderen Gesandten Gottes (also etwa von Isa = Jesus) ein Verbrechen gegen ihren Glauben seien. In der gleichen Zeit erregte ein an ein Kreuz genagelter Frosch die fromme christliche Welt Europas, die in diesem Kunstobjekt eine zutiefst verletzende Herabwürdigung ihres Glaubens sahen.

Wenn nun nicht mehr die liberale Gesamtgesellschaft in einem offenen Diskurs und die Gerichte nach den Gesetzen, sondern nur noch die sich für betroffen Erklärenden über die Legitimität und Öffentlichkeit dieser kulturellen Objekte entscheiden dürften, was wäre dann? Wenn also nur Muslime darüber entscheiden dürfen, ob Mohammed, Isa oder Maryam weltweit dargestellt werden dürfen (und wenn ja, von wem). Und wenn nur noch Christen darüber entscheiden dürften, ob ein Kunstobjekt eine derartige Verletzung ihrer religiösen Gefühle wäre, dass es abgehängt werden müsste. Die Zeitschrift Charlie Hebdo hätte es dann bereits nach der ersten Ausgabe nicht mehr gegeben, zu einig wären sich die „Verletzten dieser Welt“, dass man Derartiges nicht dulden dürfe. Das wäre eine Logik des Arguments.

Nun gibt es einige Plausibilität, Martin Kippenbergers gekreuzigten Frosch, Georg Herolds „Ziegelneger“ und die Zeitschrift Charlie Hebdo auf einer Linie zu sehen. Ja, alle drei verletzen Minoritäten, Gläubige und Andersdenkende zutiefst und in einem ethischen Diskurs könnte man alle Bedenken versammeln, die gegen eine Kultur der Verletzung und satirischen Herabsetzung von Gruppen, Minoritäten zumal, sprechen. Dieser Diskurs wird seit mehr als 200 Jahren in der Kultur offen und kontrovers geführt. Aber bisher war die Kultur sich darin einig, dass dies ein ethischer Diskurs ist und der ästhetische, der künstlerische Diskurs davon nur insoweit betroffen ist, als dass er sich die Argumente des ethischen Diskurses selbst zu Eigen machen kann, aber nicht muss. Das ist seine Autonomie. Künstler können ethische Diskurse führen – wenn sie das wollen. Banksy ist ein gutes Beispiel dafür. Aber das ist seine eigene künstlerische Entscheidung.

Als religiöser Mensch wird man seit Jahrzehnten nahezu täglich mit Bildern konfrontiert, die den religiösen Überzeugungen widersprechen und bewusst die religiösen Gefühle verletzen. So what? Das ist ein Teil der liberalen Kultur, in der man lebt und in der jeder sich ausdrücken kann, wie er möchte. Der SPIEGEL hat diese liberale Kultur gefeiert, solange er sich mindestens zwei Mal im Jahr über das Christentum lustig machen konnte. Da war ihm keine Pointe zu primitiv, um es den Christen mal so richtig zu geben. Und wenn man dann gesagt hätte, nicht die säkulare Mehrheitsgesellschaft, nicht der SPIEGEL, sondern die betroffenen Religiösen sollten darüber befinden, ob die Weihnachts- oder Osterausgabe des SPIEGEL erscheinen darf, wäre die Kacke aber am Dampfen gewesen. Man sucht sich seine Argumente eben danach aus, welchen Interessen sie dienen sollen.

Im aktuellen Fall behauptet man, Gerold Herolds Gemälde „Ziegelneger“ aus dem Jahr 1981 würde objektiv Menschen verletzen – was den SPIEGEL natürlich nicht daran hindert, das Bild dennoch großformatig abzudrucken. Über so viel Doppelmoral muss man erst mal verfügen. Es erinnert einen an Jan Böhmermanns Gedicht über den türkischen Präsidenten, der ja auch nur zeigen wollte, was man nicht sagen darf. Und der SPIEGEL (aber auch andere sich empörende Presseorgane) zeigen nur, was man ihrer Meinung nach nicht zeigen sollte.

Nun kann man diese Äußerung aber auch so lesen, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht anstelle der Betroffenen feststellen kann, ob sie von Herolds Gemälde verletzt werden oder nicht. Sie muss erkennen, dass einige sich von dem Gemälde verletzt fühlen. Alles andere wäre tatsächlich ignorant. Die säkulare Mehrheitsgesellschaft kann aber eben auch nicht darüber entscheiden, ob Martin Kippenbergers gekreuzigter Frosch fromme Menschen verletzt. Sondern sie wird akzeptieren müssen, dass einige sich von dem Objekt verletzt fühlen. Ich glaube das ist jedem einsichtig. Sonst unterliegt man einer Doppelmoral. Und auch im Blick auf die Zeitschrift Charlie Hebdo wird man die Verletzungen zahlreicher Menschen mit ihren Ansichten und Überzeugungen konstatieren müssen. Die Frage ist, was daraus folgt.

Denn die empfundene Verletzung sagt über das gesellschaftliche Handeln, also darüber, ob wir Herolds oder Kippenbergers Werke in Museen ausstellen, noch wenig aus. Bisher hat sich das „Betriebssystem Kunst“ zumindest seit 1945 weitgehend geweigert, derartige außerästhetische Kriterien zu Ausstellungskriterien von Kunst zu machen. Das scheinen einige ändern zu wollen.

Ich bin mir fast sicher, Opfer werden am Ende die gleichen Künstler sein, die schon 1933 bis 1945 der nationalsozialistischen Kunstsäuberung zum Opfer fielen, weil sie Kunstwerke schufen, die sich den damaligen (und oft auch heutigen) politischen, moralischen und schein-ästhetischen Vorgaben nicht fügten. Massenweise malten weiße Männer nackte Frauen, weiße Männer Schwarze Menschen, eigneten sich weiße Männer afrikanische Kunst an und integrierten sie in die eigene, weiße Kunst. Wer also heute die Kunst säubern möchte, kann sich beim fanatischen Nationalsozialisten Wolfgang Willrich („Die Säuberung des Kunsttempels - Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art“, 1937) einige Anregungen holen. Seine nebenstehende Collage lässt erkennen, wie hoch die Schnittmenge der Objekte seinerzeitiger und heutiger Kunst-Reiniger sein dürfte. Man muss nur die Form mit dem Inhalt und dem Titel verwechseln.

Und vielleicht wird man in künftigen Ausstellungen ausgerechnet zu jenen ‚Gottbegnadeten‘ zurückfinden, die immer schon als weiße Männer nur weiße Männer und weiße Frauen gemalt haben (sozusagen der Trumpschen protektionistischen Ästhetik gefolgt sind) und Maria und Jesus gegebenenfalls mit der „richtigen“ vorderasiatischen Hautfarbe ausgestattet haben.

Ob dann freilich das folgende Bild noch eine Chance hat? Der Künstler gehört zu den von den Nationalsozialisten Verfemten, 357 seiner Werke wurden beschlagnahmt, 13 davon in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Das wird ihn nicht davor bewahren, dass seine „Zigeunermadonna“ von 1926 zukünftig auf ihre Ausstellungstauglichkeit untersucht wird. Allein der Titel dürfte dem schon entgegenstehen, die Aneignung und Darstellung fremder Ethnizität ebenso.

Auch der „Große Kopf“ bzw. der von den Nazis so genannte „Neue Mensch“ von Otto Freundlich, der 1937 den Ausstellungsführer der Schandausstellung zierte, dürfte den neuen Kunst-Reinigern des Jahres 2020 als ‚Übernahme fremder Kultur‘ nicht gefallen.

Die Freunde der Hotelbildmalerei, wie Theodor W. Adorno sie in seinem „Vorschlag zur Ungüte“ einmal nannte, werden künftig triumphieren. Nur das nicht Anstößige, das Korrekte und den moralischen Vorgaben Folgende, wird ausstellungswürdig sein. Alles andere muss ins Depot.

Meine Vermutung ist, dass, wenn die Logik des Einspruchs gegen diverse Kunstwerke so weitergeht, künftig der Besuch der Museumsdepots interessanter sein dürfte, als der Besuch der offiziellen, nun von allem Anstößigen gereinigten Ausstellungen.

Da bleibe ich doch lieber angesichts all der inkriminierten Kunst bei jener ins Johannesevangelium eingetragenen Stelle, nach der Jesus gesagt haben soll:

»Welche unter euch ohne Unrecht sind,
mögen als Erste einen Stein auf sie werfen.«

Denn dann werden die Bilder hängen bleiben.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/am705.htm
© Andreas Mertin, 2020