Besuch aus der Vergangenheit

Hermine Müller und Wilhelm Busch besuchen Ausstellungen in NRW

Barbara Wucherer-Staar

… oder sag: Ich will mal sehen! Denk an des Geschickes Walten.
Wie die Schiffer auf den Plänen ihrer Fahrten stets erwähnen:
Wind und Wetter vorbehalten! (Wilhelm Busch, 1832-1908)
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Mehr : Wert

Wuppertal. Joseph Beuys scheint auf den Betrachter zu zu laufen: Rivulatione siamo noi. Ein bleiches, ernstes Mädchen schwenkt eine grüne Fahne (Karl Hofer, Mädchen mit grüner Fahne, 1952), ein riesengroßes Mädchen am Strand (Heike Kati Barath, O.T., 2013) zieht eine Grimasse: alles zur Begrüßung von Mehr : Wert, einer Zusammenschau im von der Heydt-Museum mit Werken aus den Sammlungen der Sparkasse Wuppertal und des von der Heydt-Museums.

Welche Rollen - so das Thema des ersten Raumes - spielen Menschen, wenn sie zur Bank gehen, um einen Kredit auszuhandeln - und betrachten Menschen die Bilder dort dann anders als im Museum?

Die Sparkasse, heißt es, schaffe einen Mehrwert, wenn sie Kunst sammelt, um die Lebensverhältnisse der Menschen in der Stadt zu verbessern. In 50 Jahren wurden von der Sparkasse Wuppertal etwa 7000 Werke von 700 Künstlern aus der Region erworben, die in Ausstellungen, Büroräumen, Schalterhallen - und in einem kurzen virtuellen Rundgang, bei dem die Bilder um den Betrachter herumlaufen - zu sehen sind.

Ja, denkt Hermine Müller, uns inzwischen vertraute Person aus der Kunstgeschichte, die an der Schnittstelle zwischen schaffendem Künstler und schauendem Publikum lebte: Was ist, wenn jetzt Museen nach langer Pause allmählich wieder öffnen und mit immer mehr digitalen Medien virtuell umfassend informieren? Was macht die - im weitesten Sinne - haptische Betrachtung von Kunst mit dem Betrachter, was die virtuelle nicht macht?

Hermine Müller, Ehefrau des Malers Rolf Müller-Landau, dem Begründer der Pfälzischen Sezession 1946, ist eine reale Person der Zeitgeschichte. Über unbefestigte Straßen, durch verschiedene Besatzungszonen durchquerten sie und ihr Mann nach dem Krieg Südwestdeutschland. In Freiburg, Baden-Baden, Mainz, Dresden - in und vor Kunstausstellungen drängten sich die Besucher. Es war eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Mit welchen Werken kann - so die öffentliche allgemeine Fragestellung - nach Jahren nationalsozialistischer Engführung und Isolation (wieder) ein Anschluss an eine internationale Kunst als Weltsprache gelingen?[2]

Sie war mittendrin in der kunsthistorischen Diskussion um „Abstraktion als Weltsprache“ (Willi Baumeister) und „Figuration“ (Karl Hofer), die auf den „Darmstädter Gesprächen“ und der Ausstellung „Darmstädter Sezession“ 1950 entbrannte. International sollte die Kunst sein; bereits in den 1920er Jahren wurden Werke von Willi Baumeister in Paris hoch geschätzt, manchen galt er nach 1945 als „deutscher Picasso“.

Jetzt, 70 Jahre später, besucht Hermine Müller zusammen mit Wilhelm Busch einige Ausstellungen. Herrschte nach 1945 reger Andrang in Ausstellungen, sind jetzt meist die Bilder in der Überzahl. Gebotener Abstand zu Bildern und anderen Betrachtern und Maskenpflicht schaffen Raum und Stille für intensives Schauen. Auch Zeit bekommt einen neuen Wert, wenn Besuche vorab geplant und zeitlich begrenzt werden müssen.

Sind Museen „offene Denkräume“ wie der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866-1929) in seinem Bilderatlas Mnemosyne (Erinnerung) erkundete? Werden sie gerade jetzt zu Orten der Begegnung mit kulturellen, tradierten Werten? Warburg zeigte das Nachleben der Antike in Motiven („Pathosformeln“), die bis in die Renaissance und um 1900 hin in der abendländischen Hoch- und Alltagskultur wandern, verbunden mit wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Umbruchssituationen. Eröffnet das Credo „Kultur für alle“ (Hilmar Hofmann, Joseph Beuys) in diesen freien Denkräumen neue Denkanstöße (Impulse) auch für den Alltag?[3]


„Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden.
Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.
Joseph Beuys
[4]

In Wuppertal eröffnen die beiden „Bürgersammlungen für Bürger“ im Dialog der Bilder neue Perspektiven. Auf Menschen und Masken von Peter Kowald, Dubuffet, Schultze (Almanach eines Migof), A.R. Penck und Nam June Paik folgt Farbe. Den Bauhauspädagogen Josef Albers führte die unaufhörliche Faszination an ihr zur Serie Hommage to the Square. Ein Glühendes Zentrum (1956) wirkt im Raum Rot sehen zusammen im Dialog mit Werken von Otto Piene, Fontana, Franz Erhard Walther und Ruprecht Geiger. Unschärferelationen in Bildern führt zum genauen Hinsehen, etwa ein „verwischtes“ Schaf in einer aktuellen Fotografie von Nicole Aders  und Heinrich von Zügels Brauner Hammel und weißes Schaf (1871). Nur scheinbar „schnell gesehen“ sind Slow day (Andreas Komotzki), Gerhard Richters Scheich mit Frau und Arbeiten von Tony Cragg. Im Raum Architektur finden sich Erwin Heerichs prägnante geometrische Entwürfe für Bauten auf der Insel Hombroich neben Eberhard Bosslets säulenförmiger Hebeeinrichtung Hubwerk, Christos verpacktes LOOK Magazine Empaqueté (1965) und Oskar Schlemmers Zwölfergruppe mit Interieur (1930). Vier Elemente - Feuer, Erde, Wasser, Luft – (Pia Fries, Otto Piene, Walter Dahn) sowie Nähe und Ferne (Anna und Bernhard Blume, Bogomir Ecker) sind weitere von insgesamt acht Themen.

Im Archiv der Bilder so viel - Was hat das Alte mit dem Neuen zu tun?

Im Obergeschoss entdecken Hermine und Wilhelm eine besondere Kunst- und Wunderkammer: Sehweisen und deren Wandel in wichtigen Epochen der letzten 200 Jahre in einem nahezu chronologischen Parcours durch die Schau „An die Schönheit“. Beispielhafte, teils selten oder nie gezeigte Meisterwerke von rund 110 Künstler*innen aus der international hochgeschätzten Sammlung des 1902 gegründeten Museums - „Denkräume“ für Begegnungen mit rund 150 Gemälden und 15 Skulpturen.

Von Francis Bacons Studie für ein Selbstbildnis (1981) bis hin zur hintergründigen Satire von Buschs Zeitgenossen Carl Spitzweg (1808-1885), einem beschaulichen Plausch vor der Storchenapotheke (o. J., zur Zeit der Choleraepidemie) entdecken sie, wie viele Motive („Pathosformeln“), die im kollektiven Gedächtnis verankert und über Jahrhunderte hinweg transportiert wurden. Immer wieder finden sich künstlerische Auseinandersetzungen, um das Alte in die Gegenwart zu holen.

Farbe und Licht

Arbeiten der französischen Impressionisten - Claude Monets Blick auf das Meer - La mer à Antibes (1888), Degas Tänzerinnen im Probensaal, Pierre-Auguste Renoir, Manet - sind ein Schwerpunkt; vielen gelten sie als „letzte Etappe“ der Kunstgeschichte. Monet, Manet, Pissarro wurden in den letzten Jahren Retrospektiven gewidmet. Wilhelm macht Hermine darauf aufmerksam, wie weit Monet in Werke der abstrakte Moderne hineinwirkte.

Paul Cézanne, Toulouse-Lautrec, van Gogh und Gauguin, die deutschen Impressionisten Liebermann, Corinth und der Pfälzer Freilichtmaler Max Slevogt bereiten um 1900 die Moderne vor. Wegweisend werden auch Franz Hodlers Holzfäller (1908/1910), Alexej Jawlenskys Die schwarzen Augen (1912), Paula Modersohn-Beckers Mädchen mit Hut, Brücke-Künstler, Franz Marc, August Macke, Ernst Ludwig Kirchners Frauen auf der Straße (1914) und Oskar Kokoschka.

Roaring Twenties und Neue Sachlichkeit

Dix selbst porträtiert sich in An die Schönheit (1922), dem namengebenden Bild der Schau, ironisch in der Rolle eines Dandys in einem Tanzlokal inmitten von Tanzenden, die wie skurrile Puppen wirken, einer Friseurbüste und einem swingenden Schlagzeuger. Seine Hommage an die krisenreiche, unruhige Weimarer Republik karikiert auch ein übersteigertes Schönheitsideal. Hermine Müller und Wilhelm Busch stehen lange vor sieben Arbeiten Max Beckmanns, darunter ein zertrümmertes Großes Varieté mit Zauberer und Tänzerin. Für beide ist es anschauliches Symbol für 1942, als die ersten Städte in Deutschland bombardiert wurden.

Sie rätseln vor Dalis Das wahre Bild der Toteninsel Arnold Böcklins zur Stunde des Angelus (1932), vor Max Ernst und Yves Tanguy. Vor Picassos großem Liegendem Akt mit Katze halten sie inne: es ist eine solche Fülle an lebendigen Eindrücken, immer wieder entwickeln sich assoziativ neue Sehbezüge. Wilhelm Busch schaut in den Flyer - haben wir schon Adrian Ludwig Richters Mädchen auf der Wiese gesehen? Und wo waren eigentlich Courbet, Couture, Delacroix, die Romantik, das Biedermeier, Gauguin? „Den Spitzweg hast Du doch begrüßt“ sagt Hermine „bevor Du zu Picassos Mann mit Pelerine (1908) gelaufen bist und seine Harlekinfamilie gesucht hast“.

Lass uns hier noch schauen - hier sind Légers in den Bildraum gestaffelte Drei Musikanten (1930), entstanden vor der abrupten Zäsur der Abstraktion durch die Nationalsozialistische Kampagne gegen „Entartete Kunst“.

Abstraktion und „Befreite Moderne“ nach 1945

Von den Künstlern, deren Werke 1946 auf der SüWeGa-Schau in Landau zu sehen waren, hat Hermine Müller vorne in der Schau den Pfälzer Freilichtmaler Max Slevogt, Dix, Heckel und Jawlensky entdeckt. Besonders freut sie sich jetzt über Bilder von Willi Baumeister, den sie von Besuchen im Stuttgarter Atelier kennt. Bereits in den 1920er Jahren war er in Paris hoch geschätzt, während der Kriegsjahre im Wuppertaler Exil entstand das Manuskript über Prähistorie und Moderne - Das Unbekannte in der Kunst (publiziert 1947). Sie sehen Wegbereiter der Abstraktion in Europa - Ernst Wilhelm Nay, Paul Klee und Fritz Winter, Hans Hofmann in den USA. Bis in die 1990er Jahre hinein finden sich Konzept-Kunst, malerische Reduktion und Farbfeldmalerei (Sean Scully), Hard-Edge (Leon Polk Smith). Die Gipsfigur in George Segals Environment Ruth in her kitchen verabredet sich mit ihnen am Küchentisch zu einem Gespräch über Giacometti und Dubuffet beim nächsten Besuch.

Ich habe nicht den Krieg gemalt, weil ich nicht zu der Sorte von Malern gehöre,
die wie ein Fotograf etwas darzustellen suchen. Aber ich bin sicher,
dass der Krieg Eingang genommen hat in die Bilder, die ich geschaffen habe.
(Picasso, 1944)
[5]

Pablo Picasso: gemaltes Tagebuch

Düsseldorf. 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges stellt die Kunstsammlung NRW rund 70 der weniger bekannten Werke Pablo Picassos (1881 – 1973) vor, die im Exil in Royan (ab August 1939) und nach seiner Rückkehr (August 1940) in seinem Pariser Atelier entstehen.

Hermine Müller und Wilhelm Busch sehen Gemälde, Skulpturen, Papiers déchirés und Illustrationen, entsprechend Picassos exakter Datierung tagebuchartig gehängt. Sie entstanden nach seinem monumentalen Protestgemälde Guernica (1936), ausgestellt auf der Pariser Weltausstellung 1937, das weltweit für Aufruhr sorgte. Anlass war die Tötung der Zivilbevölkerung durch die Bombardierung der baskischen Stadt Guernica.

Nach Kriegsende wurde er als widerständiger Held gefeiert, Einzelheiten darüber erfahren die beiden im lesenswerten Katalog. Eine der ersten Ausstellungen im deutschen Südwesten war die mit Bildern Picassos - ohne Guernica, das nach der Weltausstellung im Museum of Modern Art in New York hing.

Während des Krieges konzentrierte sich der „Jahrhundertkünstler“ vor allem, wie es heißt, auf seine Malerei: Es finden sich Akte, Porträts, Kinderbildnisse, Stillleben (Stillleben mit Schädel, Lauch und Krug vor einem Fenster). Ein Mann mit Schaf (1943) gilt als Gegenbild zu den heroischen Helden eines Arno Breker. Eine 1942 gemalte Taube reist als Symbol des Friedens zu allen Friedenskongressen der Kommunistischen Partei.

Zur Ikone geworden sind erschreckende Totenköpfe (Stillleben mit Stierschädel) und die Serie der grotesk verzerrten „Weinenden Frauen“ (Frau im Lehnstuhl) Wie viele sieht Hermine Müller darin zeitbedingt veränderte Formulierungen aus Picassos Guernica das sie an die christliche Passionsikonografie und Grünewalds Isenheimer Altar erinnert. In den weinenden Frauen, Experimenten mit dem en face und en profil zusammengemalten Gesicht der Fotografin und Lebensgefährtin Dora Maar entdeckt sie das Motiv der klagenden Frau aus Guernica.[6]

Serie Warenhaus und Ruhrpott

Aschenputtel Ruhrgebiet? Hermine Müller und Wilhelm Busch entdecken regionale Erinnerung und Kulturgeschichte(n) – den Fotografen Rudolf Holtappel (1923-2013) in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen. Bekannt wurde er mit beeindruckenden schwarz-weiß Aufnahmen aus dem Ruhrgebiet der 1960er und 1970er Jahre, die das Wirtschaftswunder in der Region dokumentieren. Ironisch notiert Holtappel allerdings auf die Rückseite einer Fotografie mit fünf gerupften Gänsen, die an einer Wäscheleine hängen: „Die Zukunft hat schon begonnen“ (1966/67).

Vor dem Hintergrund sozialen Wandels und politischer Konflikte in den 1960er Jahren weist er kritisch auf den beginnenden Rückbau der Zechen-Wirtschaft im Ruhrgebiet hin. Appelt erzählt unterschiedlichste Geschichten: 300 Fotografien des Chronisten zeigen über 50 Jahre deutsche Industrie- und Sozialgeschichte: Theater, Werbeagenturen oder Unternehmen aus dem Einzelhandel, der Chemie und der Schwerindustrie, meist Auftragsarbeiten.

Respektvoll dokumentiert der Bildjournalist seit 1953 viele Motive von Menschen im Lebensraum Stadt und Industriegebiet, die heute im kollektiven Gedächtnis verankert sind.

Bereits in den 1950er Jahren begann ein Strukturwandel, der 2018 mit der Schließung der letzten Zeche (Haniel, Bottrop) eine große Zäsur erlebte. Damals, 1957, löste der Fotograf Chargesheimer, der mit Heinrich Böll den Kohlenpott bereiste, mit seinem Fotobuch „Im Ruhrgebiet“ heftige Empörung aus – es zeige, so die Kritik, nicht die fortschrittliche Industrie- und Bergbauregion. Stattdessen erfasste der radikale, subjektive Blick des Fotografen harte Maloche, beengtes Wohnen, Abraumhalden, Taubenzüchter und Kneipen. Zu diesen Fotos, die den Blick auf die Region veränderten, notierte Böll kritisch, das Ruhrgebiet sei noch nicht entdeckt worden: Kohle und Stahl bestimmen das Tempo des Tages, auch den Feierabend.[7]

Wie leben Holtappels Leute? Licht und Luft seien, notiert er, „Grau – nur dreimal im Jahr eine klare Sicht“. Er fotografiert Spaziergänger - feiertags hell gekleidet – vor monumentalen Anlagen (Zeche Oberhausen), Streikende und Streikbrecher, Kumpel, auch in der Freizeit beim Verladen der „Renntiere des kleinen Mannes“, den Brieftauben.

Er erprobt fotografisches Sehen mit extrem ausgeleuchteten Bühnenbildern für das Oberhausener Theater, hat unterschiedliche Auftraggeber für Illustrationen in Bildbänden, als Material für Werbeanzeigen und Firmenbroschüren (Henkelkonzern) oder als Dokumentation gesellschaftlicher Ereignisse.

Zwischen 1964 und 1995 fotografierte er im Auftrag der Warenhausgruppe Karstadt. Auf diesen Reisen von Essen bis Hamburg, Frankfurt und Saarbrücken entsteht eine Kulturgeschichte der „Bühne Kaufhaus“, die es so schon lange nicht mehr gibt. So war das bei uns, als wir „König Kunde“ waren zeigt Hermine Müller mit Blick auf Holtappels präzise Momentaufnahmen: „Wir haben Kaufhausfilialen bei Eröffnungen und im Schlussverkauf gestürmt. Wo waren die preiswerten Socken, die Hemden, die Stoffe? Wie gut er – ungesehen und manchmal von vorne direkt in den Ansturm hinein - solche Alltagsgeschichten strukturiert, den Blick auch auf Taschendiebe und freundliche Verkäuferinnen lenkt.“ Sie erzählt vom Hutkauf und anschließendem Kaffeetrinken im Kaufhausrestaurant, staunt über die vielen Leute in der Oberhausener Fußgängerzone – humorvoll und mit Sympathie abgelichtet. Von Oberhausen aus reist er „in alle Welt“: Fotomodelle stehen für ihn in einem Park in Paris, in Amerika entdeckt er „Tiffany & Co.“

Talbots Besen

Der Bildjournalist experimentiert mit frühen Edeldruckverfahren - (Salzprints, Cyanotypien und Bromöldrucken) seit den 1990er Jahren. Als Hommage an den Fotopionier William Henry Fox Talbot (1800-1877) entstehen „Erinnerung an Talbots Besenbilder“.

Mail-Art

„Werfen sie diese Karte in die Kunstgeschichte“
Robert Rehfeldt, 1980
[8]

Essen. Dass Kunst von der Sichtweise des Betrachters abhängt sehen sie im Museum Folkwang in der Serie 21 Briefe an die Fotografie (21.lettres.a.la.photographie, @gmx.de)

Gustave Courbets (1819–1877) Gemälde „L´origine du monde“ (1866), das seiner Zeit einen Skandal auslöste – eine Vulva als „Ursprung der Welt“ -, hängt als schwarz-weiß Kopie in der Fotoabteilung des Museum Folkwang. Das Blatt ist Teil einer Mail-Art-Serie, die seit 2009 anonym per Post an Fotoinstitute und Museen gesendet und kaum beachtet wurde. Jetzt wurde die ganze Abfolge erworben – „als Dokumente und Kommentare zur Fotografie unserer Zeit sowie als zeitgenössisches künstlerisches Manifest“, der letzte Brief steht noch aus.

Sie kreist um die Frage: Was willst Du? Was siehst Du? - gibt Impulse für Assoziationen und Fragen: Wer wird angesprochen: Die Fotografie, der Empfänger oder der Betrachter? Es finden sich Referenzen an die Kunstgeschichte und Alltagskultur, darunter Karl Valentins bekannte Sentenz „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“.

Das Feld für Assoziationen wird erweitert im Blickwechsel mit Fotografien von Astrid Klein, Barbara Klemm, Lotte Errell, André Kertesz, dem Eingang zu Karl Valentins „Panoptikum“. Hermine Müller erzählt, wie Robert Rehfeldt und andere Künstler zur Zeit des „Kalten Krieges“ Postkarten zur verschlüsselten - humorvoll-sarkastischen, verbotenen Kommunikation zwischen Ost und West schickten.[9]

Wilhelm Busch findet im Museumsshop eine Postkarte, auf der Francis Picabia (1879-1953) zitiert wird: „unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ - war das vielleicht die Inspiration der 2009 begonnen Serie?

Literatur
Anmerkungen

[2]    S.a. Hermines Besuch aus der Pfalz, in: https://www.theomag.de/98/bws13.htm, zur Nachkriegssituation s. Beate Reese (Hrsg.), Befreite Moderne, Kunst in Deutschland, 1945-1949, mit Texten von Beate Reese, Dirk Steimann, Barbara Wucherer-Staar, Berlin, München: Deutscher Kunstverlag, 2015

[3]    Aby Warburg, Mnemosyne Bilderatlas, Rekonstruktion - Kommentar - Aktualisierung, ZKM Karlsruhe, 01.09.-13.11.2016, in: https://zkm.de/de/event/2016/09/aby-warburg-mnemosyne-bilderatlas
Zur Situation, die sich bereits vor Corona abzeichnete s. a. „Blockbuster verlässt Wuppertal“ in:
https://www.theomag.de/116/bws20.htm

[4]    Zitiert in einem Onlinekatalog der Sparkasse Wuppertal

[6]    Eine aktuelle Rezension setzt andere Schwerpunkte: Patrick Bahners, Ein Kriegstagebuch in Bildern? Die Düsseldorfer Ausstellung bleibt die Kontexte schuldig, in FAZ, 5.5.2020

[7]    Heinrich Böll, Chargesheimer, Im Ruhrgebiet, 1958

[8]    Lutz Wohlrab, Mail-Art - Knast für eine Postkarte, in: Der Spiegel, 10.04.2008 (Recherche: 20-06-2020, www.spiegel.de/geschichte/mail-art-knast-fuer-eine-postkarte-a-946857.html)

[9]    Ebd.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/bws27.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2020