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Rassismus, Religion und Paradoxiein William Blakes Gedicht „The Little Black Boy“*Jörg Löffler The Little Black Boy
Im Jahr der Französischen Revolution erscheint in London ein schmaler Band illustrierter Gedichte, auf dessen Titelblatt zu lesen ist: „Songs of Innocence / 1789 / The Author & Printer W[illiam] Blake“. Mit dem ersten seiner „Illuminated Books“ beginnt Blake, sich allmählich von lyrischen und buchdruckerischen Konventionen zu lösen ein Weg, der ihn schließlich zu jener Revolution der sprachlich-visuellen Gestaltung führt, die sein Werk in eine Reihe stellt mit den poetischen Innovationen eines Hölderlin, Whitman, Rimbaud oder Trakl und ihn als Vorläufer der bildenden Künste des Symbolismus und des Surrealismus erscheinen läßt. Formal wie inhaltlich geben sich die Songs of Innocence auf den ersten Blick als anspruchslose Kinderlieder. Sieht man sie sich näher an, läßt sich jedoch feststellen, daß Blake mit vorgegebenem Sprachmaterial und konventioneller Ikonographie eine ähnlich autonome Kunstwelt konstruiert wie in seinen späteren Werken, wo er sein Material viel stärker verfremdet und sich eine Art Privatmythologie erschafft. Diese Entwicklung führt nicht, wie oft argumentiert wird, in den ästhetisch-esoterischen Elfenbeinturm, sondern bleibt stets in komplex vermittelter Weise an das politisch-soziale Zeitgeschehen rückgebunden. So auch im neunten Stück der Songs of Innocence, einem Gedicht mit dem Titel „The Little Black Boy“. Diskursgeschichtlich läßt sich der Text als ein Beitrag zur Debatte um die Abschaffung der Sklaverei lesen, wie sie Mitte der 1780er Jahre in Großbritannien aufkam. Diese Tatsache sollte aber nicht dazu führen, das Gedicht auf politisch korrekte Inhalte festzulegen und dabei außer acht zu lassen, daß es sich um Lyrik und nicht um ein Pamphlet handelt. Denn gerade die Literarizität des Textes ermöglicht es ihm, die rassistischen Ressentiments im Mutterland des Empire gründlicher zu hinterfragen als manche politische Streitschrift. Zu den auffälligsten literarischen Strategien, die hier Verwendung finden, gehört die Perspektivierung durch verschiedene Sprecherfigurationen. Als Rollengedicht, das dem „Little Black Boy“ in den Mund gelegt wird, inszeniert der Text die Rede des Anderen und nicht etwa die Rede über den Anderen. Darin eingelegt sind drei weitere Redesituationen: Die Mutter des Protagonisten spricht zu ihrem Sohn, Gott zu den Auferstandenen und der „Little Black Boy“ zum „little English boy“ (V. 22). Das Gedicht ist also konsequent dialogisch strukturiert: Das Rollen-Ich figuriert abwechselnd als Sprecher und Angesprochener. Der Andere gerät so in eine (inszenierte) Subjekt-Position und bleibt nicht das bloße Objekt von Zuschreibungen aus der Perspektive des „Einen“. Der Multiplikation der Perspektive entspricht eine Verflüssigung der Grenze, die die Differenz zwischen Identität und Alterität allererst konstituiert. In einem ersten Schritt möchte ich auf dem Weg einer strukturalistisch-rhetorischen Analyse zeigen, wie der Text ein Netzwerk von (phonologischen, syntaktischen, semantischen) Oppositionen aufbaut, um zwischen dem Selben und dem Anderen überhaupt unterscheiden zu können. Als zweiten Schritt versuche ich, diesen Befund „poststrukturalistisch“ zu wenden. Ich möchte dafür argumentieren, daß der Text die dualistischen Schemata nur deshalb aufbaut, um sie von innen heraus aufzusprengen. Blakes Gedicht verfolgt damit eine Strategie, die Derrida die „doppelte Gebärde“[2] der Dekonstruktion genannt hat. Eine hierarchisierte Opposition wird zunächst einfach umgekehrt, um dann als ganze verschoben und außer Kraft gesetzt zu werden. „The Little Black Boy“ praktiziert diese Geste am Beispiel des Schwarz-Weiß-Gegensatzes (und den vielen weiteren Oppositionen, die metonymisch und metaphorisch damit zusammenhängen). Die erste Strophe reproduziert eine Matrix ideologischer Oppositionen, wie sie der Rassismus-Diskurs um 1800 zur Verfügung stellt. Der erste Vers postuliert eine Verbindung zwischen Identität, Genealogie und Ethnizität: „My mother bore me in the southern wild“ (V. 1). Implizit wird hier der Süden und die Wildnis dem Norden und der Zivilisation gegenübergestellt. Die feste genealogische Zuordnung zum Süden wird durch die Paronomasie „mother“„southern“ noch verstärkt. Der zweite Vers installiert dann die farbmetaphorische Grundopposition des Textes: „And I am black, but O! my soul is white.“ (V. 2) Der antithetische Parallelismus setzt Weiß gegen Schwarz und Innen gegen Außen. Die Seele wird hier als reinerhaltene Substanz bestimmt, der Körper als defizientes Akzidens. Die Verse drei und vier stellen das lyrische Ich in chiastischer Verschränkung seinem Anderen gegenüber: „White as an angel is the English child: / But I am black as if bereav’d of light.“ (V. 3f.) Der Vergleich mit dem Engel verweist auf den religiösen Bereich und identifiziert „weiß vs. schwarz“ mit „transzendent vs. immanent“. Der Vergleich am anderen Ende des Chiasmus, „as if bereav’d of light“, markiert den unselbständigen, abgeleiteten Status des abgewerteten Oppositionsglieds. Erneut wird dem Schwarzen jede Positivität und Substantialität abgesprochen, es erscheint als negativ und supplementär. Die zweite Strophe beginnt mit einem grammatischen Parallelismus zum Anfangsvers der ersten: „My mother taught me underneath a tree“ (V. 5). Dadurch wird der genealogische Aspekt mit einer pädagogischen Instruktionsszene verschränkt. In den ersten beiden Versen wird eine Variante derjenigen Opposition installiert, die im Verlauf des Gedichts nicht bloß umgekehrt wird, sondern schließlich ins Gleiten gerät: Der schattenspendende Baum („underneath a tree“) schützt gegen die Hitze der Sonne („before the heat of day“ [V. 6]). Im letzten Vers der Strophe kommt zu der Nord-Süd-Achse der Anfangszeile des Gedichts noch eine Ost-West-Achse hinzu (mit dem Motiv des Sonnenaufgangs). Der erste der beiden Kupferstiche Blakes ist der Kommentar zur zweiten Strophe. Dort wird nachdrücklich das üppige Laub des Baums betont. Der zweite Baum rechts auf der Illustration ist dagegen in einigen Ausgaben dürr und unbelaubt, um den Blick auf einen majestätischen Sonnenaufgang freizugeben. Diese Differenz wird noch eine Rolle spielen. Die zeigende Geste des abgebildeten Jungen lenkt den Blick überraschenderweise nicht nach Osten, sondern gen Himmel bzw. zum Blätterdach. Das eröffnet eine Oben-Unten-Achse, die mit der Opposition „transzendent vs. immanent“ in Verbindung steht. Mit der dritten Strophe beginnt die Rede der Mutter an ihren Sohn, die drei Strophen lang ist und genau die Mitte des Gedichts einnimmt. Die Sonne wird zunächst mit Gott identifiziert, der sein Licht und seine Wärme an alle Lebewesen verschenkt. Dem Steigen der Sonne korrespondiert eine Steigerung des Wohlbefindens: „Comfort“ am Morgen und „joy“ am Mittag (V. 12). Mit einer exclamatio, mehreren Parallelismen und polysyndetischen Reihen wird die Feierlichkeit der Rede rhetorisch verstärkt. Die vierte Strophe nimmt die Licht-Schatten-Thematik der zweiten wieder auf. Die schwarzen Körper und sonnenverbrannten Gesichter werden mit Wolken und schattigen Hainen gleichgesetzt, die es den Menschen überhaupt erst erlauben, sich an die göttlichen Sonnenstrahlen zu gewöhnen. Mit dem ersten Vers der Strophe „And we are put on earth a little space“ (V. 13) wird der Licht-Schatten-Gegensatz raum-zeitlich an die Opposition „transzendent vs. immanent“ angeschlossen. Die Hitze der Sonne wird im Gegensatz zur vorherigen Strophe nicht als angenehm, sondern als bedrohlich empfunden. Dies spielt auf die alttestamentliche Vorstellung an, daß sich Gott in Donner und Feuer offenbart und nur ausgewählte Menschen einer solchen Erscheinung ohne Schaden beiwohnen können. In Blakes Gedicht ist es die Materialität des Körpers, die das Innere verhüllt und vor den brennenden Strahlen abschirmt. Genau an diesem Punkt kommt auch die symbolische Verhandlung von Ethnizität ins Spiel. In alliterativer Verklammerung wird den „black bodies“ und dem „sun-burnt face“ eine besondere Fähigkeit „to bear the beams of love“ zugesprochen (V. 14f., Hv. fett J.L.). Die fünfte Strophe beginnt mit einer Kausalpartikel („for“ [V. 17]), die das Telos der vorhergehenden Strophe zum Ausdruck bringen soll. Sobald das Innere („soul“ [ebd.]) die Hitze ertragen kann, ist die schattenbringende Wolke und alles wofür sie metaphorisch steht, überflüssig geworden. Dem irdischen Hain wird das himmlische „golden tent“ (V. 20) gegenübergestellt. Die mit Lämmern verglichenen Kinder umkreisen dieses lichtspendende Zentrum wie in den ersten vier Strophen die Erde die Sonne. Den Übergang von der immanenten zur transzendenten Sphäre markiert ein Anruf des absolut Anderen, ein Anruf, der im Reim auch gleich die Antwort vorwegnimmt: „voice“ und „rejoice“ (V. 18, 20). Das andere Reimpaar der Strophe bewahrt allerdings die Spannung zwischen Gleichklang und Differenz: „bear“ und „care“ (V. 17, 19). Die sorgende Zuwendung Gottes will erst ertragen sein. Mit der fünften Strophe endet die Rede der Mutter an ihren Sohn. Daran schließt eine indirekte Rede an, die das Rollen-Ich des Gedichts an den schon in der ersten Strophe erwähnten „little English boy“ (V. 22) richtet. Nach dem Präteritum der Instruktionsszene sind wir jetzt zum Präsens des Gedichtrahmens zurückgekehrt. Die Schlußanrede nimmt dann das Futur der Paradiesvision aus der fünften Strophe auf. Wie bereits in der ersten Strophe geht es auch in den beiden letzten um die religiöse Politik der Hautfarben und um die Anerkennung durch den anderen. Zu Beginn des Gedichts wurde ein schwarzes Äußeres einem weißen Inneren gegenübergestellt und Weiß mit der transzendenten Sphäre assoziiert, während Schwarz als bloßer Mangel bestimmt wurde. In Strophe sechs scheint es zunächst, als wären die Hautfarben nur Attribute des Körpers und würden für reine Seelenwesen keine Rolle mehr spielen: „When I from black and he from white cloud free, / And round the tent of God like lambs we joy […]“ (V. 23f.). Doch legt die siebte Strophe nahe, daß es selbst im Himmel noch schwarze Schafe gibt. Denn dort muß der kleine schwarze Junge den weißen zunächst vor der Hitze Gottes mit seinem Schatten beschützen, bis er sie ertragen kann: „Ill shade him from the heat till he can bear / To lean in joy upon our father’s knee“ (V. 25f.). Diese unscheinbaren Verse zu Beginn der Schlußstrophe bringen den abgestuften Bau der ideologischen Oppositionen, den das Gedicht errichtet hat, mit einem Mal ins Wanken. Das Schwarze, zuvor nur als Defizit bestimmt, ermöglicht offensichtlich eine größere Nähe zur göttlichen Lichtquelle ein Privileg, das der ungeschützte weiße Junge erst erwerben muß. Die scheinbar feste Abgrenzung und Bewertung von Schwarz und Weiß wird instabil. Dadurch bekommen auch die vorherigen Oppositionen eine ambivalente Qualität: Ist der unzivilisierte Süden und Osten näher zu Gott als der Norden und Westen? Ist das „sun-burnt face“ (V. 15) keine Schande, sondern eine Auszeichnung? Diese Fragen müssen letztlich offenbleiben. Denn Blakes Gedicht endet nicht in einer bloßen Umkehrung der Hierarchie im Sinne der Vorstellung vom „edlen Wilden“. Das Verhältnis von Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, Gottnähe und Gottferne wird gerade nicht wieder asymmetrisch fixiert, sondern paradoxiert und dadurch in Bewegung gebracht. Dies gilt auch für den Zusammenhang von Identität, Alterität und Anerkennung, der in der letzten Strophe thematisiert wird. Der Dienst, den der schwarze Junge dem weißen im Himmel erweist, läßt sich im Rahmen einer ambivalenten Herr-Knecht-Dialektik betrachten. Einerseits hat der Dienende als solcher eine nachgeordnete Rolle, andererseits ist der Herr auf ihn angewiesen und hier ganz besonders, wo es um den Schutz vor Licht und Hitze geht. Das Verhältnis beruht auf gegenseitiger Anerkennung nur ist es hier unklar, wer sich eigentlich an wem zu orientieren hat. In den letzten beiden Versen spricht das Rollen-Ich von der sehnsüchtig erwarteten Angleichung an und Anerkennung durch den anderen: „And then Ill stand and stroke his silver hair / And be like him and he will then love me.“ (V. 27f., Hv. fett J.L.) Aber ist es nicht gerade der weiße Junge, der sich erst anpassen muß, um das göttliche Licht zu ertragen? Wieder bleibt es offen, ob Schwarz oder Weiß das anstrebenswerte Vorbild ist. Diese Ambivalenz bestimmt auch die unterschiedliche Kolorierung des zweiten Kupferstichs, dem visuellen Kommentar zu den beiden Schlußversen. Der linke Junge, der dem rechten das Haar streichelt, ist in vielen frühen Drucken von heller Hautfarbe, in den meisten späten aber von dunkler. In einer Fassung ist sogar der obere Teil des Christus-Gesichts ebenso dunkel koloriert wie der linke Junge. In einer anderen sind die beiden letzten Verse grau unterlegt eine Farbe, in der einige Male auch der schwarze Junge dargestellt ist. In diese Tendenz paßt auch ein kompositorisches Merkmal, das die zweite Illustration mit der ersten verbindet, und zwar in Hinsicht auf das Motiv des Schattens. Die Paradiesweide bildet eine ähnlich laubenartige Wölbung wie die beiden Bäume auf dem ersten Stich. All dies zusammengenommen macht es unmöglich, das Gedicht als eine eskapistisch-religiöse Emanzipationsgeschichte zu lesen, etwa nach dem Motto „Vom Schatten zum Licht“. Die Spannung der Oppositionen wird nicht durch die fazile Forderung nach Gleichheit in Wohlgefallen aufgelöst, sondern im Gegenteil noch verschärft bis hin zur Paradoxie. Dadurch entgeht der Text der Gefahr, das strukturelle Schema der Dualismen fortzusetzen, sei es durch die bloße Umkehrung der Hierarchie oder durch die Verabsolutierung eines der beiden Glieder als utopischer Endzustand. Die symbolisch-ideologische Opposition zwischen Schwarz und Weiß kann nicht einfach von einem neutralen Standpunkt aus kritisiert werden, sie muß von innen heraus unterlaufen werden. Genau dies geschieht in Blakes Gedicht und macht es zu einem avancierten Beitrag zur europäischen Ethnizitätsdebatte um 1800. Anmerkungen* Dieser Text ist zuerst erschienen in: Hagel/Kurbacher/Suhm/Wendt (Hg.), Der Andere - Ein alltäglicher Begriff in philosophischer Perspektive, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002, S. 101-106. [1] William Blake, Writings, Hg. G.E. Bentley, Jr., Bd. 1, Oxford 1978, S. 29-31. Kursive Buchstaben am Wortende (z.B. „day“ [V. 6]) zeigen an, daß im Original nach diesem Wort ein Punkt inmitten eines Satzes steht: „day.“ [2] Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 313. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/jl2.htm |