Stoppt den Judenhass!

Eine Kritik

Andreas Mertin

Gottlieb, Sigmund (2020): Stoppt den Judenhass!
Stuttgart: Hirzel, S., Verlag.

Dieses Buch ist ein Problem. Nach meiner Wahrnehmung tritt es nur scheinbar für eine hehre Sache ein – den Kampf gegen den Judenhass in der deutschen Gesellschaft -, während es in Wirklichkeit eine dezidierte Law-and-Order-Politik und ein Modell des starken bzw. wehrhaften Staates fordert und den Antisemitismus dazu nutzt. Kein aufgeklärter Mensch wird sich der Forderung nach einem entschiedenen öffentlichen Protest gegen den grassierenden und aktuell aggressiv auftretenden Antisemitismus verweigern. Aber das sollte von durchsichtigen Motiven wie der Verschärfung der sicherheitspolitischen Agenda, dem Kampf gegen die Linke und gegen abweichende Meinungen getrennt werden. Genau das leistet das vorliegende Buch nicht. Es trägt wenig zur Aufklärung bei, ganz im Gegenteil, es verwischt und verunklart die aktuelle Situation, indem es die Verhältnisse verzerrt darstellt und in einen völlig unerträglich paternalistischen und auch narzisstischen Tonfall moralisierende Forderungen aufstellt. Das dient der Sache nicht. So bekämpft man den Antisemitismus kaum.

Wer einen umfassenden Überblick über die aktuelle Situation mit allen Problemindikationen bekommen möchte, sei stattdessen auf die einschlägige Fachliteratur (etwa von Wolfgang Benz oder Micha Brumlik) verwiesen oder auf einen sehr guten Überblicksartikel von Markus C. Schulte von Drach in der Süddeutschen Zeitung, der präzise den erfassbaren Sachverhalt auflistet und alle empirischen Studien vorstellt.

Der Autor der zu besprechenden Schrift, Sigmund Gottlieb, war lange Jahre Intendant des Bayerischen Fernsehens, war also an einer jener Schaltstellen der Medien tätig, die großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit in Deutschland haben. Seit 2017 ist er im Ruhestand und hat nun seinem Empfinden in Sachen „Antisemitismus“ Ausdruck verliehen. Sein Weltbild erscheint mir dabei jedoch etwas undifferenziert. Er kennt eigentlich nur „die“ und „wir“. Aber dieses Carl-Schmittsche Freund-Feind-Schema ist der Sache, um die es geht, unangemessen.


Eine Streitschrift

Wer nach Gottliebs Buch im Netz sucht, stößt schnell auf Indizien, dass das Buch eigentlich unter einer etwas anderen Akzentuierung erscheinen sollte. In die Datenbanken eingepflegt wurde es unter dem Titel „Stoppt den Hass! Eine Streitschrift gegen den Antisemitismus“. Das trifft die Sache schon eher, verstehen wir doch unter „Streitschrift“ in der Regel ein Pamphlet, ein Pasqill, ja eine Schmähschrift. Und das ist es tatsächlich, was wir hier in der Hand haben. Kritisiert werden all jene Jungen, Linken, Juden, die kritisch zum Zionismus stehen und Vertreter einer Gesellschaft, die die Lösung weniger im starken Staat, als vielmehr in einer diskursiven Auseinandersetzung und in Diversität sehen.

Das weniger als 100 Seiten umfassende Büchlein gliedert sich neben den rahmenden Teilen in vierzehn stark appellativ gehaltene Kapitel. Vorab markiert Gottlieb seine Position: er sei fränkischer Protestant, Vertreter eines wehrhaften Staates und wie er schreibt „bekennender Zionist“. Aber damit fängt das Problem schon an: Man würde natürlich gerne wissen, zu welcher der vielen Formen des Zionismus er sich bekennt: ist er ein Anhänger des sozialistischen Zionismus, des Kulturzionismus, des religiösen Zionismus, des revisionistischen Zionismus …? Aber das ist das Problem des gesamten Büchleins, dass man immer nur mit Schlagworten bedient wird, die kaum gefüllt werden. Und dass die Begriffe derart unpräzise genutzt werden, dass man sich fragt, ob der Verfasser sich wirklich intensiver damit befasst hat oder ob ihm nur Emotionen antreiben: Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Etwa wenn er mehrfach Martin Luther spezifisch mit Antisemitismus assoziiert. In der Fachliteratur zum Antisemitismus kommt Derartiges nicht vor. Dort wird Luther als Judenhasser, Antijudaist, als Hetzer und antijüdischer Prediger bezeichnet und es wird zugleich darauf verwiesen, dass Luthers Schriften ein katholisches Pendant hatten, das zwei Jahre zuvor erschien, nämlich Johannes Ecks Schrift „Ains Judenbüechleins verlegung darin ain Christ ganzer Christenheit zu schmach will es geschehe den Juden unrecht in bezichtigung der Christen kinder mordt. Hierin findst auch vil histori was übels und büeberey die Juden in allen teütschen land und andern künigreichen gestift haben“. Eck reagierte damit auf eine wohl von dem lutherischen Theologen Andreas Osiander geschriebene Schrift, in der dieser die Juden gegen die Ritualmordlegenden in Schutz nahm. Und auf Eck bezieht sich im 20. Jahrhundert auch die Hetz-Zeitschrift Der Stürmer. Was Martin Luther aber (noch) gar nicht sein konnte, ist ein Antisemit. Man braucht nur einmal kurz in die grundlegenden Schriften von Wolfgang Benz („Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments“ oder „Was ist Antisemitismus?“) zu schauen, um den Sachstand der Fachdiskussion zu erkennen. Es gibt einen schrecklichen und mörderischen Antijudaismus von der Antike bis zur Neuzeit und es gibt einen in der Moderne sich entwickelnden Antisemitismus, der nun nicht mehr religiös, sondern rassistisch begründet wird. Ein Journalist sollte sich so viel Fachkompetenz aneignen, dass er das zu differenzieren weiß, weil es eben auch in der Sache erkenntnisproduktiv ist.

Zugleich verharmlost der ja eigentlich nur rhetorisch eingeführte Verweis auf Martin Luther die eigentliche Gewalt, die historisch stattgefunden hat. Indem es die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Juden im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit hinter einem grauenhaften Pamphlet Martin Luthers quasi verschwinden lässt, taucht die Frage nach der gesamthistorischen Verantwortung der Deutschen für die konkret vollzogenen Verbrechen an den Juden nicht mehr auf. Mit anderen Worten: Luthers schreckliche Schrift von 1541 wird erwähnt, nicht aber die deutschen Pogrome im Kontext des ersten Kreuzzuges etwa in Mainz 1095 oder das fränkische Rintfleisch-Pogrom von 1298 oder die ebenfalls fränkische „Armleder-Bewegung“ 1398.


EXKURS I: Scrolls of Fire

Mehrfach erwähnt Gottlieb persönliche Begegnungen in Israel, die seine Haltung geprägt haben. Das trifft wahrscheinlich für alle Menschen zu, die in den Fünfziger-Jahren des 20. Jahrhunderts geboren wurden und als junge Erwachsene zum ersten Mal in Israel waren. Diese Erfahrung, als Kind oder Enkel von Mördern und Schlächtern im Land der Verfolgten und Überlebenden dennoch offen aufgenommen zu werden, denen zu begegnen, die den Konzentrationslagern entronnen waren, hat (m)eine ganze Generation beeinflusst. Ich erinnere mich an Begegnungen mit Überlebenden von Theresienstadt auf einer Kulturveranstaltung in Yad Vashem (Yad Vashem – Martyr’s and Heroes’ Remembrance authority Art Museum, Testimony – Art of the Holocaust. 1982), an eine Pessach-Feier bei einer Familie der Har El Gemeinde von Tovia Ben-Chorin in Jerusalem oder an einen Besuch 1982 im damals relativ neuen Museum Beth Hatefusoth in Tel Aviv.

Dort waren 52 Bilder von Dan Reisinger zusammen mit Gedichten von Abba Kovner ausgestellt, die die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes in abstrakt-symbolischen Bilder mit knappen Beschreibungen fassten (Kovner, Abba; Reisinger, Dan (1981): The scrolls of fire. A nation fighting for its life; fifty-two chapters of jewish martyrology. Hg. v. Beth Hatefutsoth. Jerusalem: Keter Publishing House.) Die dort erzählte Leidensgeschichte (die noch nicht unbedingt eine Geschichte des Judenhasses ist) beginnt 586 vor unserer Zeitrechnung mit der Zerstörung des Ersten Tempels, mit dem babylonischen Exil 597-498 und dem Makkabäer-Aufstand 168. Und so geht es weiter. Das fünfzehnte Bild beschäftigt sich mit dem Mainzer Pogrom 1096, das siebzehnte mit den Verfolgungen in Deutschland 1180, das zweiundzwanzigste mit dem Rintfleisch-Progrom, das siebenzwanzigste mit den Verfolgungen der deutschen Juden im 15. Jahrhundert. Manche Ereignisse wie Pogrome an Juden im Anschluss an Passionsspiele werden nur summarisch zusammengefasst, ohne geografisch spezifiziert zu werden. Die zweiundfünfzig Bilder machen die „Jewish Martyrology“ im Lauf der Geschichte sinnfällig, ohne die zugrundeliegende Frage beantworten zu können: Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage zu erörtern war und ist der Betrachter und Leser herausgefordert.


Die „Jewish Martyrology“ von Reisinger und Kovner machen aber auch deutlich, wie unter­kom­plex es ist, den Antijudaismus auf schriftliche Äußerungen zu reduzieren. Der Antijudaismus entsteht nicht durch Martin Luther, er hat eine fürchterliche 400jährige blutige Vorgeschichte in Deutschland, die einen eben auch fragen lassen muss, warum gerade hier sich diese Tradition über eine Zeit von fast tausend Jahren entwickeln und halten konnte.

Sigmund Gottlieb deutet das an, wenn er im Einleitungs-Kapitel schreibt, es könne sein, dass der Antisemitismus in den Genen „unseres Landes“ läge [11]. Ich zitiere das einmal im Zusammenhang, um das Problem deutlicher werden zu lassen, das ich damit habe:

Der Hass war immer da. Er hatte sich nur verkrochen. Jetzt zeigt er sich wieder offen und hemmungsloser denn je. Jeder Fünfte - oder jeder Vierte? - ein Antisemit oder Sympathisant. Es war nie wirklich anders in der deutschen Nachkriegsgeschichte - nur nicht so heftig und nicht so schamlos. Mir scheint, diese Krankheit liegt in den Genen unseres Landes. Eine Heilung blieb ohne Erfolg: Der braune Sumpf wurde nie trockengelegt. Das Gegenteil ist zu beklagen. Der Antisemitismus ist auf dem Vormarsch - massiv, brutal, beängstigend in Wort und Tat, denen täglich neue abscheuliche Worte und Taten folgen. Das Jagdfieber steigt.

Dieses parataktische Stakkato ist ein wildes Metapherngestöber – und eines, das eine präzise Aufklärung behindert bzw. erschwert. Ist Antisemitismus nun ein Gen-Defekt? Oder ein Sumpf? Ist er eine heilbare Krankheit? Oder vielleicht doch eher eine Bewegung? Etwas, das Jagdfieber haben kann? Ist also „der Hass“ ein Subjekt? Und ist hier „der Hass“ mit dem „Judenhass“ identisch? Wir erkennen: Kurze Sätze machen noch lange keine guten Texte. Ganz im Gegenteil, sie erzeugen eine Atemlosigkeit, die Denken verhindert.

Nun hat sich der (Juden)Hass nach 1945 ja gar nicht verkrochen, sondern die, die Judenhass in sich tragen und kultivieren, haben ihn aus taktischen Gründen anders artikuliert. Wie schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon 1944 geradezu prophetisch in ihrer „Dialektik der Aufklärung: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten“. Heute würden wir statt Liberale Libertäre sagen.

Wer die Geschichte Deutschlands nach 1945 kennt, weiß, dass der Judenhass immer wahrnehmbar war, nur wollten das manche nicht wahrhaben. Im Osten wie im Westen, in Staat, Kirchen und Verbänden wurden die Vertreter des Dritten Reiches, die Mitläufer und Mittäter aufgenommen und gesellschaftlich aktiv. Wir hatten Ministerpräsidenten, die Deserteure zum Tode verurteilt hatten, wir hatten Bundespräsidenten, die im Laufe ihres Lebens die Trennung zum Nationalsozialismus nicht so vollzogen haben, wie es für ein Staatsoberhaupt eines demokratischen Staates notwendig gewesen wäre, wir hatten Journalisten, die ihre schreibende Tätigkeit für den Nationalsozialismus nur mühsam kaschieren konnten, wir hatten Kirchenfunktionäre, die im Dritten Reich für die „judenreine Kirche“ eingetreten waren und nach 1945 kirchenleitend tätig waren (vgl. Hans Prolingheuer, Die judenreine deutsche Kirchenmusik, 1981). Wie sollten wir glauben, dass der Antisemitismus verschwunden sei? Der Judenhass war immer da, er sollte nur nicht wahrgenommen werden. Ob er manifester ist als noch vor 20 oder 40 Jahren – ich weiß es nicht. Es gibt einige Indizien dafür (vgl. dazu den erwähnten Artikel in der SZ). Manifester ist in der öffentlichen Kommunikation der rechte Rand, er hat eine größere Bedeutung in den gesellschaftlichen Debatten bekommen. Aber auch vorher war der Antisemitismus sichtbar.

Wenn der Antisemitismus aber sogar in den Genen Deutschlands liegt, wie Gottlieb meint, wenn er sozusagen ein spezifisch deutscher Gen-Defekt im Pool der allgemeinen Menschheits-Gene ist, wie wird er dann heilbar? Wie soll er ausgerottet werden? Oder ist die Metapher vom Gen-Defekt nicht schon eine grundsätzlich falsche? „Es gibt keinen genuinen Antisemitismus, gewiss keine geborenen Antisemiten“ schreiben Horkheimer und Adorno 1944 in der „Dialektik der Aufklärung“ und beharren meines Erachtens zurecht darauf, dass „der Antisemitismus primär objektiv-gesellschaftlich begründet“ ist. Oder in den Worten Micha Brumliks: „Judenfeindschaft ist ein soziales Phänomen und daher auch nur aus sozialen Ursachen zu erklären“ (Micha Brumlik: Antisemitismus. Ditzingen 2020).

Aber vielleicht ist der Antisemitismus als Krankheit zu begreifen, wie Gottlieb als Zweites vorschlägt, eine Krankheit, die die Deutschen befallen hat? Mir widerstrebt die alte lebensphilosophische Metaphorik von Gesundheit und Krankheit (zumal eines Volkes), sie erscheint mir zutiefst problembelastet. Man muss es nur umformulieren, um es als das zu erkennen, was es in Wirklichkeit ist: danach wäre Antisemitismus eine Krankheit am an sich gesunden Volkskörper. Ich hoffe, so will heute niemand mehr reden. Mit der Metapher der Krankheit erledigt sich aber auch die der „Heilung“. Beide Redeformen sind angesichts von Antisemitismus schlicht falsch.

Die nächste Metapher ist die des Sumpfes: „Der braune Sumpf wurde nie trockengelegt“ schreibt Gottlieb. Das sprachliche Bild ist den gerade verwendeten entgegengesetzt. Nicht mehr im (Volks-)Körper, nicht mehr im Einzelnen sei das Problem zu sehen, sondern in einem abgrenzbaren Bereich des Landes (bzw. der Gesellschaft), nämlich im noch nicht trockengelegten Sumpf als dem noch nicht Kultivierten (kultiviert sind ‚wir‘, unkultiviert ‚die anderen‘). Erkennbar ist es ein archaisches Sprachbild, das aus längst vergangenen Zeiten stammt, denn heute pflegen wir Sümpfe ja gerade wieder als solche zu kultivieren und nicht trocken zu legen.

In früheren Zeiten war das anders, deshalb verband sich die Not der Kultivierung des Landes mit einer assoziativen Logik, die im Sumpf das Schwefelige, den Teufel und das Böse sah. Im von den Gebrüdern Grimm begründeten Wörterbuch der Deutschen Sprache ist dem Sprachbild „Sumpf“ ein längerer Abschnitt gewidmet. Man muss der religiösen Grundierung dieser Formulierung nachgehen, um ihre aktuelle Problematik wahrzunehmen: In der Hölle Sumpf - in dem stinkenden hellensumpfe - sie werden in den fewrigen pfuel oder sumpf des ewigen verdamnis gestürzet werden …. So lauten einige der frühen sprachlichen Beispiele. Später werden dann die Sümpfe der Laster beschworen, dann die Sümpfe der Dummheit. Heute scheint mir „brauner Sumpf“ dagegen empirisch eher zur politischen Rhetorik von Journalisten zu gehören. Es ist die Verknappung eines Arguments auf ein Bild, der sprachbildliche Rest eines Tabus, das gegenüber dem rechten Rand ausgesprochen werden soll und unkenntlich macht, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und Problem ist.

Wiederum inkompatibel mit dem sich ausbreitenden braunen Sumpf, der nicht trockengelegt wurde, ist die Metapher des Jagdfiebers, an dem sich der steigende Antisemitismus zeigen soll. Aber hier zeigt sich allenfalls eine stupende Unkenntnis der deutschen, zumindest aber der Jägersprache: Jagdfieber bezeichnet dort eine Stressreaktion, die manchen Jäger beim Anblick von Wild befällt und einen sicheren Schuss verhindert. Das hat Gottlieb ganz sicher nicht gemeint.

Was ich mit all dem sagen will, ist, dass die verwendete Sprache in der Einleitung des Buches von Sigmund Gottlieb gerade nicht dazu dient, Licht (Aufklärung) in das Problem des Antisemitismus in der Gegenwart zu bringen, sondern allein dazu, eine bestimmte Politik des Law-and-Order, des starken, wehrhaften Staates zu plausibilisieren.


„Sie sagen sagen Israel und meinen die Juden“ [15-18]

Das erste Sachkapitel des Buches widmet sich der Israelkritik bzw. dem „Antizionismus“. Hier argumentiert Gottlieb ziemlich grobschlächtig: Antizionismus sei „lupenreiner Antisemitismus“. Ist er wahrscheinlich in aller Regel, muss er aber nicht sein. Jedenfalls werden die dem Zionismus kritisch gegenüberstehenden Juden mit Interesse hören, dass ein fränkischer Protestant es besser weiß als sie, nämlich, dass sie Antisemiten seien. Unbestritten tarnt sich Antisemitismus heute als Antizionismus. Das kann man an den unsäglichen Auftritten des nun wirklich lupenreinen Antisemiten Attila Hildmann ablesen. Daraus lässt sich aber kein Umkehrschluss ziehen. Es gibt eine lange jüdische Tradition des Universalis­mus, die dem Zionismus kritisch gegenübersteht, eine Tradition, die sich heute etwa mit Namen wie Naom Chomsky oder Tony Judt verbindet. Diese Tradition muss geachtet werden, sie gehört zur innerjüdischen Debatte.

Aber Sigmund Gottlieb weiß es besser: Ich sehe was, was Du nicht siehst. Aber er erkennt nichts, sondern macht aus einer kritischen Haltung zum Zionismus Antisemitismus. So einfach ist es nicht. Stattdessen wäre zu zeigen, wo die Kritik am Zionismus in die De-Legitimierung Israels umschlägt. Und das ist nicht so leicht, wie gerade das Beispiel von Judith Butler zeigt. So aber gießt Gottlieb das Kind mit dem Bade aus. Gerade jener Universalismus, für den Judith Butler steht, ist für die offene Diskussion unverzichtbar.

Welchen Preis Gottlieb für sein „Bekenntnis zum Zionismus“ zu zahlen bereit ist, wird deutlich, wenn er in einer Nebenbemerkung Ägypten als Ausnahme der Gewaltverhältnisse im Nahen Osten bezeichnet [17] – offenbar, weil dieses seinen Frieden mit Israel gefunden hat. Während aber Israel unbestreitbar zu den vorbildlichen demokratischen Staaten dieser Welt gehört (Jahr für Jahr kann man dies am Demokratie-Index ablesen), gehört Ägypten (mit einem verbreiteten Antisemitismus von 75%) ganz gewiss nicht dazu, es ist ein durch und durch unfreier, ja ein Folter-Staat. Von den 167 im Demokratie-Index verzeichneten Staaten, landet das Land auf Platz 137 und wird eindeutig als autoritäres Regime charakterisiert. Wenn Gottlieb so die Kriterien schleift (indem er einen demokratischen Staat mit einem Folterstaat auf eine Ebene bringt), hilft er Israel nicht. Er opfert Menschenrechte polit-strategischen Überlegungen.

Die Denkfigur, die Gottlieb im ersten Kapitel anwendet, benennt er an einer Stelle deutlich: man dürfe Israel und Auschwitz nicht trennen, „nur um den Zionismus weiter bekämpfen zu können“. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, ob man angesichts der schrecklichen Geschehnisse im 20. Jahrhundert Zionist sein muss. Die fundamentale Kritik an allen Zionismus-kritischen Denkern, die so grundiert werden soll, trifft eben auch Juden:

„Vor allem aber war Adorno und Horkheimer, die ausdrücklich keine Zionisten waren, die jüdische Staats- und Nationswerdung grundsätzlich, gleichsam philosophisch, suspekt. Denn sie sahen in dieser Bildung jüdischer staatlicher Macht- und Herrschaftsstrukturen eine Abkehr von der universalistischen Ethik des Judentums, das seine Kraft gerade daraus beziehe, sich nie mit der Macht verbunden zu haben.“ (Richard Herzinger)

Zudem kann man der Ansicht sein, dass das, was der Zionismus wollte, weitgehend erreicht wurde. Der jüdische Philosoph Menachem Brinker sagte:

„Die Aufgabe des Zionismus ist so gut wie erfüllt. Dies bedeutet, daß das Problem, welches der Zionismus lösen wollte, praktisch gelöst wurde. Wir werden bald in einem postzionistischen Zeitalter leben, und es wird bald keinen Grund mehr geben, warum eine Zionistische Organisation neben dem Staat Israel bestehen sollte. Diese Aussicht sollte niemanden traurig stimmen.“ (zit. nach Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, 2016)

Man kann in dieser Frage anderer Meinung sein, aber man sollte diese Zionismus-kritische Haltung im Judentum nicht delegitimieren. Israel ist mit dem Zionismus nicht identisch – man kann für Israel und doch kritisch gegenüber dem Zionismus sein. Und man kann für den Zionismus sein – wie der Rezensent – und dennoch die Kritik am Zionismus respektieren. Hier bedarf es einer präzisen Argumentation, die die jeweiligen Gesichtspunkte mit aufnimmt.


„Die Gleichgültigen“ [19-21]

Das zweite Kapitel eröffnet mit einer Formulierung, die ich wirklich problematisch finde. Sie lautet schlicht: „Wir Deutschen …“. Wer soll das sein – wir Deutschen? Wir Deutschen – das sagen auch all die Rechten und Rechtsextremen in unserer Gesellschaft. Aber schließt das die multikulturelle Gesellschaft mit ein, in der wir seit Jahrzehnten leben? In meiner Heimatstadt Hagen haben ein Drittel der Bewohner einen migrantischen Hintergrund. 20% der Bewohner sind Ausländer ohne deutschen Pass. Fallen diese unter die Trope „Wir Deutsche“? Oder explizit nur die, die (auch) einen deutschen Pass haben? Oder nur die, die nur einen Pass, nämlich einen deutschen haben? „Wir Deutschen“ sind vieles – aber nicht so leicht umschreibbar.

Jedenfalls unterstellt Gottlieb ‚uns Deutschen‘ zwar gerne und viel zu demonstrieren, aber eben nicht gegen Antisemitismus und wenn, dann doch nicht richtig:

„Ich fürchte, es handelt sich um Wohlfühlveranstaltungen einiger weniger, die vor allem das eigene Ego der Versammelten bedienen … Es ist ziemlich kläglich, es ist entsetzlich wenig.“

240.000 Menschen haben im Oktober 2018 in Berlin an der Demonstration „Unteilbar“ teilgenommen, eine der größten Demonstrationen in Deutschland im 21. Jahrhundert, die sich gegen Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten wandte. Man kann daran rummäkeln, aber die Motive der Demonstranten grundsätzlich infrage zu stellen, finde ich problematisch. Wer ist das Subjekt, das so ab-urteilen kann? Dass sich eine Position anmaßt, die wir in der abendländischen Kulturgeschichte allein Gott zubilligen, nämlich die Motive der Menschen zu durchschauen. Herr, du erforschest mich und kennest mich. … Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wüsstest. (Psalm 139)

Ich finde es deshalb leichtfertig, so herablassend paternalistisch wie Gottlieb über jene zu urteilen, die sich zumindest aufmachen, an Demonstrationen gegen Antisemitismus oder Rassismus teilzunehmen. Das entsprechende gesellschaftspolitische Engagement sollte doch auch gewürdigt und respektiert, ja gefördert werden. Man sollte doch sagen: Weiter so! Mehr davon! Natürlich kann man es immer noch besser machen, aber der skizzierte Überbietungswettbewerb ist dann doch zweifelhaft. Micha Brumlik hat in einem etwas anderen Kontext geschrieben: „Das wäre ein Motiv, das man nur ablehnen kann, da zwar der Eifer um das Erreichen des Guten durchaus anerkennenswert ist, der Wille jedoch, andere als schlechter auszustechen, durchaus verwerflich, weil eitel.“

Wenn dann gefragt wird „Wo bleibt der Aufschrei?“ [19/21], dann werden allzu offensichtlich gesellschaftliche Bewegungen gegeneinander ausgespielt. Es ist das alte „Whataboutism-Spiel“. Muss das sein? #aufschrei war das Hashtag, mit dem Anfang 2013 gegen den Sexismus in unserer Gesellschaft protestiert wurde. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, den Protest gegen die eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit gegen den Protest gegen eine andere aufzurechnen. So werden beide beschädigt. Denn sonst müsste man im Rekurs auf Gottliebs Seitenhieb gegen #aufschrei doch auch fragen, wo denn Gottliebs lautstarker Protest gegen Gewalt gegen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland vernehmbar wird? Wenn 140.000 Menschen in Deutschland Opfer von versuchter und vollendeter Gewalt wurden, waren eben 114.000 davon Frauen, mithin 81,3%. Wenn wir beginnen, das jeweils eigene Anliegen für das wichtigste zu halten und andere demgegenüber abwerten, kommen wir nicht weiter.

Aber Gottlieb geht noch einen Schritt weiter. Wer sich nicht gegen Antisemitismus engagiert, wer nicht dagegen protestiert, ist faktisch Antisemit:

„genauso gibt es den Antisemitismus einer wachsenden Mehrheit der Gleichgültigen, die geschehen lassen, was geschieht“ [21].

Das ist ein altes Argument von Papst Bonifatius VIII aus dem 13. Jahrhundert: Qui tacet, consentire videtur / Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Aber in dieser Pauschalität ist es maßlos – ohne jegliches Augenmaß. Mit Recht und Gerechtigkeit hat das nichts mehr zu tun. Ich kann mir schon all die anderen „Engagierten“ vorstellen, die dasselbe im Blick auf Abtreibung, Gewalt gegen Frauen, Umweltschutz usw. sagen. Da Gottlieb aber schon vorher klar gemacht hat, dass selbst der Protest gegen Antisemitismus noch immer eine Wohlfühlveranstaltung sein kann, läuft es letzten Endes auf eine Gesinnungsprüfung hinaus. Mir ist nicht wohl dabei, weil ich vermute, dass es Gottlieb selbst ist, der darüber urteilen möchte, ob jemand richtig oder nicht richtig protestiert bzw. reagiert.


„Judenhass in Europa“ [22-26]

Am Beispiel von Frankreich, Großbritannien und der Schweiz skizziert Gottlieb dann die europäische Dimension dieses Schreckens. In Frankreich sind es vor allem junge muslimische männliche Täter, die auffällig werden, in Großbritannien der Führer der Labour-Partei, in der Schweiz ist es der alltäglich spürbar wachsende Antisemitismus. Für eine Streitschrift ist das aber zu oberflächlich, alles wird nur kurz angetippt, statt es vertieft zu behandeln. Wie entsteht und wuchert Antisemitismus in einer Kultur der Laïcité? Warum fühlen sich Juden in der laizistischen Kultur Frankreichs bedrohter als in den nicht-laizistischen Ländern Europas? Warum gibt es diese unselige Verbindung von britischer Labour-Partei mit antisemitischen Gedanken? Und inwiefern schützt ein freiheitlicher Staat wie die Schweiz nicht vor antisemitischen Übergriffen? Das muss doch gründlich erörtert werden, um in der Sache voranzukommen.


„Die Bedrohung von Rechts“ [27-30]

Was Gottlieb in diesem Kapitel abhandelt, sind insbesondere die Terrorakte von Halle und Hanau. Nur am Rande kommen vorhergehende Gewaltakte (etwa des NSU) in den Blick. Ich fürchte, so wird die fatale Kontinuität der rechten Gewalt in der BRD gerade nicht sichtbar. Es gibt in Deutschland eine lange Tradition rechtsextremistischer Anschläge und Übergriffe auf Juden oder jüdische Einrichtungen, die nicht erst im 21. Jahrhundert beginnt: etwa Düsseldorf und Köln 1959 – Koblenz/Münster 1979 – Erlangen 1980 - Frankfurt/M. 1992 – Erfurt 1992 – Berlin-Moabit 1992 – Wülfrath 1992 – Lübeck 1994 – Erfurt 2000 – Düsseldorf 2000 – München 2003 – Zossen 2010 ….

Wir haben die Neigung, die jeweils jüngsten Ereignisse als die schlimmsten zu bezeichnen, aber es ist auch wichtig, sie in ihre unselige Tradition der deutschen Gewalt gegen Juden einzuordnen. Und dann muss erörtert werden, ob die Rede vom schwachen und nicht wehrbereiten Staat für all diese Jahre zutrifft? Es wäre dann ja nicht einem politischen Lager zuzurechnen, sondern träfe für alle Regierungen in Deutschland zu.

Was mich irritiert, ist, dass sich Gottlieb an dieser Stelle gegen eine statistische Auffächerung der Bedrohungslage ausspricht. Das „Ranking“ sei nur für Sicherheitsbehörden wichtig, nicht für die gesellschaftliche Debatte [30]. Das finde ich ganz und gar nicht. Es ist gesellschaftlich schon wichtig zu wissen, wo die Gefahr der antisemitischen Übergriffe und Gewalttaten vorrangig entsteht und in welchen Dimensionen sie sich abspielt. Hufeisentheorien, die schön ausgleichend von rechtem und linkem Antisemitismus und rechten und linken Angriffen sprechen, helfen uns wenig weiter. So schlimm der jeweilige Angriff auf den Betroffenen ist, so wichtig ist es doch, auch gezielt nach dem ideologischen Background zu fragen.

Konkret gibt darüber die PMK – Statistik über die politisch motivierte Kriminalität – Auskunft, die auch die antisemitisch motivierten Straf­taten mit ihrem jeweiligen ideologischen Hintergrund ausweist. Und hier ist die Sachlage eindeutig: „Antisemitische Straftaten sind um 13,0 % gegenüber dem Jahr 2018 angestiegen (2019: 2.032; 2018: 1.799). Der überwiegende Teil wurde mit 93,4 % dem Phänomenbereich PMK – rechts-zugeordnet“.

Wie Onlinebefragungen von Juden aus dem Jahr 2017 zeigen, entspricht diese Polizeistatistik nicht ihrer eigenen Wahrnehmung. Im Blick auf den Tatbestand der Belästigung bzw. Beleidung sind es in Zweidrittel der Fälle muslimische Personen oder Gruppen, die als Täter identifiziert werden. Auffällig ist jedenfalls die deutliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Betroffenen, den Umfragen der Sozialwissenschaftler und der Polizeistatistik. „Für  diese  Differenz  zwischen der in der PMK vorgenommenen Zuordnung der erfassten Straftaten und der Wahrnehmung seitens der Betroffenen gibt es derzeit keine plausible Erklärung“ (Expertenkreis Antisemitismus der Bundesregierung 2017)

Für den rechten Rand der Gesellschaft aber ist, zumindest seitdem die Flüchtlingsfrage zunehmend in den Hintergrund der gesellschaftlichen Debatten tritt, der „inszenierte Antisemitismus“ (Wolfgang Frindte) wieder hoch attraktiv geworden, sie betreiben gezieltes „Vorurteilsmanagement (Bernd Marin). Das zu erkennen und zu benennen erscheint mir außerordentlich wichtig. Und um diese Tendenz wahrzunehmen, um das Koordinatensystem, in dem Antisemitismus abläuft, zu begreifen, hilft eben der Blick auf die Statistik.


„Die Schamlosen“ [31-33]

Mit „schamlos“ ist die AfD gemeint und vor allem der Flügel um Björn Höcke. Allerdings erscheint mir hier die Sprache von Gottlieb merkwürdig kraftlos zu sein. Wo er vorher schon im bloßen Schweigen der Mehrheitsbevölkerung Antisemitismus erkennen wollte, so sieht er bei der AfD nur eine Tatenlosigkeit der Parteiführung. Sie habe es zugelassen, dass sich der Sumpf in der Partei ausgedehnt hat. Der Partei gehörten eben Menschen an, die in der Nähe von Neo-Nazis stünden. In ihren Reihen gäbe es auch herabsetzende Äußerungen über den Holocaust. Man hat das Gefühl, als ob die europa-kritische Lucke-AfD noch in Ordnung war und erst Teile der die Nach-Petry-AfD nicht. Aber so ist es nicht. Der braune Bodensatz war schon immer da, sonst hätte er auf den Parteitagen nicht die Mehrheit erringen können. Das Erscheinungsbild nach außen wurde erst nach und nach brauner, aber das Denken war immer in der Partei präsent.

„Als jüdische Demokrat*innen in diesem Land setzen wir uns für eine plurale und vielfältige Gesellschaft ein, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können und die aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Lehren für Gegenwart und Zukunft zieht. Die Rhetorik und Praxis der AfD stehen diesem Anliegen diametral entgegen. Um es ganz klar zu sagen: In einer Gesellschaft, wie sie der AfD vorschwebt, sind alle Minderheiten und alle Demokrat*innen in Gefahr.“ (Micha Brumlik, Max Czollek, Anna Schapiro und viele andere.)

Dagegen so zu tun, als gebe es nur „einen braunen Flügel in der Partei“ verharmlost die Lage. Der von Gottlieb beschriebene Antisemitismus beginnt nicht erst bei Björn Höcke oder Wolfgang Gedeon, er ist der Partei als Ausgrenzung der Anderen tief, wenn nicht sogar konstitutiv eingeschrieben. Aber auch hier sollte man im Hinterkopf behalten, dass Martin Hohmann, Alexander Gauland ebenso wie Erika Steinbach aus der Mitte der CDU kamen.


„Die Bedrohung durch den Islam“ [34-37]

„Es gibt kaum Studien über Antisemitismus unter Muslimen“ behauptet Gottlieb, deshalb könne man keine wissenschaftlichen Aussagen machen und müsse sich auf subjektive Erfahrungen verlassen. Ganz so ist es wohl nicht, eine einfache Recherche zeigte gleich mehrere Studien zum Thema (einen ersten Überblick vermittelt Juliane Wetzel in ihrem Buch „Moderner Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland“ im Kapitel „Empirische Studien“; grundsätzlich Stefan E. Hößl in seinem Buch „Antisemitismus unter ‚muslimischen Jugendlichen‘. Empirische Perspektiven). Offenkundig ist aber, dass die Statistiken der PMK die tatsächliche Bedrohungslage für die jüdische Minderheit durch Menschen mit islamistischem und antisemitischem Gedankengut kaum spiegeln. Insbesondere der alltagskulturelle Antisemitismus des Deutsch-Rap, der ja in der Lebenspraxis der Jugendlichen Auswirkungen hat, wird viel zu wenig bedacht. Aber hier hat sich gerade im Internet auch eine breite Debatte entfaltet, die diesen Spuren nachgeht.

Stolz ist Sigmund Gottlieb darauf, dass er schon 2016 in einem Fernseh-Kommentar einen Zusammenhang zwischen dem Zuzug von Flüchtlingen und wachsender Terrorgefahr hergestellt habe [35]. Wenn ich in die Liste der Terroranschläge in Deutschland seit 2015 blicke, verstehe ich seinen Stolz nicht ganz. Denn offenkundig hat er sich mit seiner Warnung doch geirrt. Nun ist „Terrorgefahr“ eine abstrakte und schwer zu bewertende Größe, aber konkrete Terroranschläge durch wirkliche Flüchtlinge kann man an einer Hand abzählen. Wenn man den besonderen Fall des Anis Amri, der sich betrügerisch als Asylsuchender ausgegeben hatte (und dessen Antrag dementsprechend auch abgelehnt wurde), einmal weglässt, dann sehe ich nicht, wie sich eine besondere Steigerung der Terroranschläge nach 2015 belegen lässt. Wenn man anstelle von Terrorgefahr präziser von Gefährdung von Juden in Deutschland sprechen würde, käme man der Realität näher. Tatsächlich ist die Zahl der Beleidigungen, Attacken und Gefährdungen von Juden in den letzten Jahren deutlich angestiegen.

Was sich aber in den letzten Jahren auch entwickelt hat, ist eine Rhetorik, die an einer Verschärfung der gesellschaftlichen Debatte im Sinne eines Freund-Feind-Schemas interessiert ist.

Einer Allianz aus Politik und Mainstream-Medien ist bisher gelungen, den islamischen Antisemitismus weitgehend totzuschweigen. Es ist bis heute nicht erwünscht, auf einen Zusammenhang hinzuweisen, den es nachweislich gibt: Die Bedrohung, die für Juden von Muslimen ausgeht, hat auch mit dem unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland zu tun.

Mainstream-Medien – unkontrollierter Zuzug von Flüchtlingen – Politik, die die Medien kontrolliert: All das scheint mir mehr PEGIDA-Propaganda zu sein, als Beschreibung von Wirklichkeit.

Die Rede von Mainstream-Medien die die Wirklichkeit verschweigen, ist schlicht verschwörungstheoretisch. Was es gibt, ist ein Medien-Mainstream, der etwas mit der Aufmerksamkeitsökonomie des Digitalzeitalters zu tun hat. Aber ernsthaft zu vertreten, dass „Mainstream-Medien“, zu denen ja auch die BILD-Zeitung, die WELT oder der FOCUS gehören, den islamistischen oder auch muslimischen Antisemitismus verschweigen, ist völlig absurd. Da muss jemand schon in einem anderen Medien-Universum leben – oder bewusst die Medienwirklichkeit verdrehen.

Der angeblich unkontrollierte Zuzug von Flüchtlingen mag ja Ende 2015 eine oft beschworene Angst deutscher Konservativer gewesen sein, 2020 diesen Unfug aber noch weiter zu verbreiten, scheint mir völlig anderen Interessen zu unterliegen. Dass es nun einen „nachweisbaren“ Zusammenhang zwischen der Gefährdung von Juden und einem angeblich unkontrollierten Zuzug muslimischer Flüchtlinge gibt, gilt es nicht nur zu behaupten, sondern durch auf Verweis auf entsprechende Studien und Quellen zu belegen. Wenn Gottlieb die Hauptgruppe der Flüchtlinge 2015/16 meint, also Syrer, Iraker und Afghanen, so ist deren Kriminalitätsrate unterdurchschnittlich. Die Zahl der Straftaten ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. "Deutschland ist sicherer geworden", sagte Innenminister Seehofer bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2019. Was die Bedrohung der jüdischen Bürger*innen betrifft, so gilt es, zwischen der empfundenen und der alltäglichen Bedrohungslage einerseits und der in der amtlichen Polizeistatistik auftauchenden Hasskriminalität andererseits zu unterscheiden. Vieles von dem, was im Alltag jüdischer Mitbürger*innen erfahren wird, spiegelt sich nicht in der PMK. Trotzdem kann man dieser zumindest Trends entnehmen. Und diese stützen die Behauptung von Gottlieb nun gerade nicht. Die meisten Fälle von Hasskriminalität im Bereich Antisemitismus gab es vor der Flüchtlingswelle, das gleiche gilt für die Zahl der antisemitischen Gewalttaten durch Ausländer. In beiden Fällen bildet das Jahr 2014 den Höhepunkt, dann geht es deutlich zurück, um 2018 wieder anzusteigen. Um es noch einmal zu betonen: Ich bestreite die akute Gefährdungslage jüdischer Mitbürger*innen nicht, ganz im Gegenteil. Nur sollte das nicht mit falschen bzw. nicht verifizierbaren Behauptungen verbunden werden. Die Lage ist an sich schon schlimm genug.

Und schließlich: Die Idee von Politikern oder Mächtigen, die die Medien kontrollieren – ausgerechnet aus dem Mund eines früheren Fernseh-Direktors – ist nun ein dezidiert rechtes Mem.

„Die wahnhafte Vorstellung, es gäbe eine große Verschwörung einer kleinen mächtigen Elite, durch die alle Geschehnisse der Welt gelenkt werden, kann als ideologische Klammer vieler extrem rechter Milieus verstanden werden.“ (Timo Reinfrank, Amadeu Antonio Stiftung)

Was mir – nicht nur im Kontext des Buches von Sigmund Gottlieb – darüber hinaus auffällt, ist, dass die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland, die durch einen dezidierten Antisemitismus charakterisiert ist, gar nicht auftaucht. Die Grauen Wölfe stellen seit Jahrzehnten ein eminentes Problem in der Bundesrepublik Deutschland dar. Ich fände es angemessen, auch dieses eher verschämt verhandelte Problem in unserer Gesellschaft offensiv anzugehen.


„Das Netz des Hasses“ [38-41]

Das Internet ist vieles – vor allem eine Projektionsfläche. Was früher die „gewalttätigen“ Computerspiele waren, ist heute das Internet. Sicher, es macht Einstellungen und Dispositive öffentlich sichtbar, die sonst verborgen geblieben wären. Zudem ermöglicht die scheinbare Anonymität des Netzes eine Form der verbalen Aggression, die sich rechtfertigungsunbedürftig wähnt. Man muss nur zwei Tage den Telegram-Kanal von Attila Hildmann mit seinen über 100.000 Followern verfolgen, um einen präzisen Eindruck davon zu bekommen: voller Gewalt- und Vernichtungsphantasien, voller Antizionismus und Judenhass, voller Lügen und Verdrehungen. Das ist eine Realität des Netzes – nicht erst in den letzten Jahren. Aber das Netz ist eben auch voller Aufklärung und Widerstand gegen Antisemitismus. Es ist ja nicht so, als ob im Netz ein Schweigen angesichts von Antisemitismus und Neo-Nazis herrschen würde. Bewegungen wie Anonymous Germany, das Jüdische Forum, Plattformen wie der Volksverpetzer oder Belltowers nehmen den Kampf auf und klären auf, zeigen Zusammenhänge und Hintergründe auf oder nutzen auch die technischen Möglichkeiten, die heutigen Netzpartisanen zur Verfügung stehen. Man könnte frei nach Hölderlin sagen: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“.

Bei Sigmund Gottlieb zeigt sich aber doch eine merkwürdige Vorstellung des Internets. Etwa wenn er schreibt, im Internet sei der Antisemitismus „bereits mit einem Mausklick zugänglich“. Was hat er denn gedacht? In welcher Wirklichkeit lebte er in den letzten 30 Jahren? Zunächst einmal spiegelt sich alles, was es in der „realen Welt“ gibt, auch im Internet. Insofern wäre es überraschend, wenn der ganze Müll, den es in unserer Lebenswelt gibt, nicht auch im Internet zu finden wäre. Und dass die Rechten die Logik des Internets begreifen, das seine Aufmerksamkeitsökonomie nach schrillen und steilen Sätzen und Verletzungen von Regeln und Tabus strukturiert, sollte auch nicht überraschen. Das heißt aber nicht, dass die medienaffinen Jugendlichen gleich auch Opfer der rechten Strategien würden. Das sieht Gottlieb anders. Nach ihm seien „die Jungen“, die seiner Meinung nach „wenig bis nichts über den Holocaust, den Antisemitismus, die jüdische Geschichte“ wissen, besonders anfällig. Ich weiß nicht, was ein 68-Jähriger unter „die Jungen“ versteht, aber es dürften wohl nicht der 43-jährige Attentäter von Hanau oder der 39-jährige Hitler-Imitator Hildmann sein. Allenfalls der 28-jährige Attentäter von Halle gehört vielleicht gerade noch in den Randbereich dieser Gruppe.

Aber sind die Jungen tatsächlich – verglichen etwa mit der Altersgruppe, der Gottlieb, aber auch der Rezensent angehört – wirklich so ahnungslos und Antisemitismus-gefährdet? Die FES-Studie Mitte von 2016 gibt darüber klar Auskunft: Bei den Jungen, hier den 16 bis 30-Jährigen, ist der klassische Antisemitismus nur halb so stark verbreitet wie in der Gruppe der über 60-Jährigen. Beim Israel-bezogenen Antisemitismus ist das Verhältnis sogar noch dramatischer, nämlich fast 1:3. 2018 freilich hat sich der israelbezogene Antisemitismus bei den Jungen stärker verbreitet (von 12 auf 17), ist aber immer noch halb so häufig wie bei den über 60-Jährigen.

Im gleichen Kontext verweist Gottlieb auf den in Gestalt von Israelkritik akademisch-formulierten Antisemitismus. Dieser „vergleicht Israel mit Nazideutschland und kann sich wachsender Sympathie gerade in deutschen Intellektuellenkreisen erfreuen“. Da hätte man sich doch ein bisschen mehr Präzision erwünscht. Wer und was ist mit „deutsche Intellektuellenkreise“ gemeint? Die pauschale Kritik an den Intellektuellen gehört ja selbst zum Nazismus (Vgl. Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes). Nicht gemeint sein kann ja, dass sich Antisemitismus unter den Menschen mit gehobener Bildung ausbreitet. Er ist seit einigen Jahren auf etwa gleichem Niveau. Ich vermute, Gottlieb zielt hier auf jene Professoren, die ein differenziertes Verhältnis zur BDS-Bewegung haben, aber dann sollte er das auch klar benennen. In der Pauschalität ist die Behauptung einer wachsenden Sympathie für Antisemitismus in gebildeten Kreisen jedenfalls unzutreffend.

Die antisemitischen Zitate aus dem Internet, die Gottlieb aus der Studie von Monika-Schwarz Friesel dann anführt, sind ohne Zweifel schockierend und extrem besorgniserregend. Aber auch vor 40 Jahren wurde man, wenn man sich kritisch zu ehemaligen Nazis in der bundesdeutschen Politik äußerte, von anonymen Ewiggestrigen mit dem Konzentrationslager und der Vergasung bedroht. Heute ist der Artikulationsweg nur sehr viel kürzer, die Hemmschwelle niedriger und jeder Gestörte und Abgedrehte kann seinen Hass ins Netz posten und mit der Vernichtung der Existenz des Gegenübers drohen. Zugleich ist aber auch festzustellen, dass das Internet nach und nach anfängt, Kontrollmechanismen zu entwickeln, dass Gerichte ihre Haltung überdenken und die Zivilgesellschaft beginnt, an Strategien der Bekämpfung zu arbeiten. Und schließlich zeigt uns ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft, dass man in diesen Fragen der freien Artikulation auch ganz andere Modelle und Ansichten entwickeln kann, die in den Kontroll-Phantasien von Gottlieb gerade das Problem sehen, weil sie die Freiheit begrenzen werden.


„Die Antisemiten sind überall“ [42-45]

Die Empörung darüber, dass laut jüngsten Befragungen der Antisemitismus in der gesamten Bevölkerung existent ist, also nicht nur beim von manchen Politikern so genannten „Pack“, sondern eben auch bei jenen mit guter Bildung und entsprechendem Einkommen, kann eigentlich nur bei jenen aufkommen, die meinen, Antisemitismus und nazistisches Gedankengut seien exklusiv etwas für dumme Menschen. Zwar gibt es durchaus wie oben gezeigt eine Relation zwischen Bildung und klassischem Antisemitismus und israelbezogenem Antisemitismus. Aber das heißt natürlich nicht, dass bei Menschen mit höherer Schulbildung kein Antisemitismus aufträte. Der Attentäter von Hanau hatte Abitur und war auch an der Universität, ebenso der Attentäter von Halle. Beide hatten freilich ihr Studium abgebrochen. Dennoch gehören sie zur Gruppe der Menschen mit höherer Bildung. Und all die bekannten Antisemiten der rechten Szene gehören zur Schicht der gut Ausgebildeten und oft auch zu den nicht Unvermögenden.

Insgesamt ist dieses Kapitel von einer geradezu absurden Dampfwalzenmentalität gekennzeichnet. Je­de nur denkbare Differenzierung wird plattgemacht. Wo aber alles Böse ist, ist nichts recht. Wenn man dieses Kapitel des Buches liest, fragt man sich, warum überhaupt junge Israelis nach Berlin kommen und dort für einige Zeit leben, warum sie sich also freiwillig der Hölle aussetzen, die Gottlieb beschreibt (Warum es junge Israelis nach Berlin zieht / Israelis in Berlin). Welches Interesse hat Gottlieb an dieser dramatisierenden Situationsbeschreibung?

Meine Vermutung lautet, dass die Situation deshalb so alarmistisch zugespitzt wird, um eine starke Intervention des Staates zu legitimieren, aber vor allem auch zu provozieren. Deshalb werden Richter kritisch angegangen, deshalb wird der Staat als ohnmächtiger und als Versager (dazu später noch mehr) dargestellt. Dem Kampf gegen den Antisemitismus hilft das nicht.


„Wenn die Zeugen tot sind“ [46-51]

Es ist gut, dass Gottlieb noch einmal daran erinnert, welche wichtige Rolle die Zeitzeugen in der Pädagogik nach Auschwitz spielen. Wir haben in den letzten Jahren davon profitiert, dass Zeitzeugen in den Schulen von den deutschen Verbrechen an Juden berichtet haben, sie bezeugt haben. Diese Phase der unmittelbaren Oral History nähert sich nun dem Ende. Große Projekte wie Steven Spielbergs „USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education” arbeiten seit Jahrzehnten an einer dauerhaften Lösung dieses Problems (http://sfi.usc.edu/). Bei aller Skepsis, die Gottlieb gegenüber dem Netz des Hasses äußert, so ist es nicht zuletzt das Netz der Erinnerung, das auch künftig die Geschichte der Opfer durchaus „lebendig“ vermittelt werden kann. Dass Gottlieb freilich die Frage stellt, wie die Mittel der digitalen Welt für die Erinnerungsarbeit genutzt werden könnten, scheint anzudeuten, dass er die entsprechenden Projekte nicht kennt. In Deutschland ist u.a. ein Zugriff von der Freien Universität Berlin möglich (https://www.vha.fu-berlin.de/)

Mir ist in diesem Kapitel aufgefallen, dass Gottlieb plötzlich nicht mehr von „uns Deutschen“ spricht, sondern von den „NS-Bluthunden“ bzw. den „NS-Massenmördern“. Wäre es nicht auch hier wichtig gewesen, festzuhalten, dass die Verbrechen nicht nur in deutschem Namen, sondern von „uns Deutschen“ ausgeübt wurden?


„Zerreißprobe“ [52-56]

Dieses Kapitel besteht nicht aus Ausführungen von Gottlieb, sondern enthält Gegenüberstellungen von Zitaten aus E-Mails von Antisemiten mit verschiedenen jüdischen Opferstimmen. Glücklich bin ich über so etwas nicht. Es ist zum einen eine Brachial-Pädagogik, zum anderen hebt es die Stimmen der Barbaren auf die Ebene der Stimmen ihrer Opfer. Es ist wie in den Museen, die Nazi-Kunst neben der Kunst der Verfolgten ausstellen. Irgendetwas protestiert da in mir.


„Die Versager“ [57-66]

Nicht zufällig ist dies - abgesehen vom zusammenfassenden Schlusskapitel – das längste Kapitel der Streitschrift von Gottlieb, hier offenbart sich der Glutkern seines Denkens und seiner Intervention. Er hält den deutschen Staat für schwach, er wirft ihm vor allem in Gestalt der Politikerinnen und Politikern Versagen in der Frage des Antisemitismus vor. Dass er dabei Ungeheuerlichkeiten von sich gibt wie den Satz „Unsere Politiker müssen sich die Frage gefallen lassen, wie es sein kann, dass sie ein Virus entschlossener bekämpfen als Rassismus und Antisemitismus“ [58], ist skandalös. Auf keiner als sinnvoll denkbaren Ebene aufgeklärter Politik befindet sich das in einem Vergleichszusammenhang. Will er ernsthaft Krankheitsbekämpfung auf die gleiche Ebene stellen wie Rassismusbekämpfung und Schutz von Minderheiten? Das ist populistischer Müll und völlig willkürlich und auch fahrlässig herbeigeredet. Durchforsten wir jetzt die Ressorts und gesellschaftlichen Aufwendungen, um sie gegeneinander zu verrechnen? Die Verschwörungsideologen, die gerade durch unser Land toben, würden nur allzu gerne alle Aufwendungen, die für das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen getätigt werden, für andere Zwecke zur Verfügung stellen. Wenn wir 8,3 Milliarden Euro jährlich(!) statt für Rundfunk und Fernsehen für den Schutz von Minderheiten aufwenden würden, kämen wir ziemlich weit. Ob Gottlieb das auch für diskutabel hält? Das Corona-Virus ist ein kurzfristiges dramatisches Geschehen, das alle weltweit bedroht, Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten. Die Bedrohung der Minderheiten, die seit über 1000 Jahren in Deutschland stattfindet, ist etwas völlig anderes. Das kann nicht mit dem Virus in Relation gebracht werden, weder in die eine wie in die andere Richtung. Es sind zwei völlig unterschiedliche politische und gesellschaftliche Handlungsfelder.

„Die wehrhafte Demokratie, die den Schutz der in ihr lebenden Menschen zu garantieren hat, ist zu einer schwachen Demokratie verkommen“.

Wo und wann in Gottes Namen, gab es denn die „wehrhafte Demokratie“, die nun „verkommen“ ist? Gab es sie bei der Schändung der Neuen Synagoge in Düsseldorf 1959? Gab es sie beim Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde in München 1970? Ging sie erst vor 20 Jahren unter wie die Konjunktur des Begriffes Staatsversagen nach 2000 nahelegt??

Die Idee, dass es jemals einen absoluten oder auch nur besseren Schutz von Minderheiten in Deutschland gegeben hätte, deckt sich schlicht nicht mit der erfahrenen Wirklichkeit. Ich will auch lieber einer streitbare als eine „wehrhafte“ Demokratie – letztere würde sich im Zweifel gegen ihre Bürger wenden. Eine streitbare Demokratie ist nicht schwach, allenfalls fehlerhaft. Daran kann und muss man arbeiten. Der Staat kann aber nicht den Schutz der Menschen garantieren. Er kann bestmöglich dafür Sorge tragen oder in dieser Sorge nicht entschieden genug vorgehen. Ein systematisches Staatsversagen sehe ich nicht. Diese Behauptung spielt gerade jenen in die Hände, die diesen Staat zugrunde richten und verabschieden wollen.


EXKURS II: Staatsversagen

Die Rede vom Staatsversagen ist m.E. selbst demokratiefeindlich, zumindest ist sie problematisch in sich. Wer aktuell vom Staatsversagen spricht, redet dem Untertanenstaat das Wort. Ich glaube leider, dass es das ist, was Gottlieb vorschwebt. Nicht mehr der demokratische Staat freier Menschen, sondern der preußische Obrigkeitsstaat, der seine Untertanen regiert. Der Bürger wird zum Schutzsuchenden, aus dem Mitbestimmenden wird ein Gehorchen­der.

Jakob Biazza ist in der Süddeutschen Zeitung dem fatalen Framing von „Staatsversagen“ nachgegangen und hat denen, die davon reden, „ein fragwürdiges Staatsverständnis“ vorgeworfen:

"Versagen" ist ein absolutes Urteil, das kaum Abstufungen zulässt. Wer versagt, der hat nicht einfach Details übersehen oder einzelne Aspekte einer Herausforderung nicht erfüllt, er ist an einer Aufgabe oder einer Erwartung vollständig gescheitert. Wer einem Staat Versagen unterstellt, suggeriert damit also sein Scheitern als Gesamteinrichtung.

Es ist das eine, vom Versagen etwa der Sicherheitsorgane zu sprechen, etwas ganz anderes ist es, vom Versagen des Staates als Ganzen zu reden. Was kann das journalistische Interesse sein, unseren Staat derart vernichtend zu beschreiben? Nun ist die analoge Rede von der Bananenrepublik Deutschland ja seit Helmut Kohls einschlägiger Rede von 1978 vertraut, aber sie war damals plumpe Polemik und ist es in ihrer variierten Form als „Staatsversagen“ heute noch. Sie zeugt vom Verlust der Maßstäbe. Wenn dieser Staat versagt, dann brauchen wir offensichtlich einen anderen. Ist das wirklich gewünscht?

Auf einer abstrakteren Ebene ist der Begriff des "Staatsversagens" aber auch noch Teil der Idee des "Staates als Fürsorgeanstalt" oder, heute etwas bestimmender, des "Staates als Dienstleister". Er enthält Spuren einer Zeit irgendwo zwischen Bismarck und Honecker, in der der Glaube an den (Obrigkeits-)Staat und seine Heilsversprechungen noch etwas Quasireligiöses hatte. "Vater Staat", noch so ein schwer framendes Bild, wird sich kümmern. Untertanen denken so, nicht Bürger.

Das ist das zweite Problem von Gottliebs Beschreibung vom angesichts des Antisemitismus versagenden deutschen Staat. Nachdem er zuvor schon die Aktivitäten der Demonstranten gegen den Antisemitismus heruntergeschrieben und abgewertet hatte, werden sie durch die Rede vom Staatsversagen auch in eine Rolle gebracht, die eher der überkommenen eines Untertanen gegenüber der Obrigkeit entspricht.


Zwischendurch streut Gottlieb auch noch Polemiken gegen Kollegah & Farid Bang wegen der Echo-Verleihung 2018 ein. Eine wirkliche Sachkenntnis zeichnet ihn dabei nicht aus. Er weiß offenkundig nicht, wie die Preise überhaupt zustande kommen, noch verfügt er über eine genauere Kenntnis des Deutsch-Rap. Indem er sich auf die Oberflächenphänomene fokussiert, verpasst er die Möglichkeit, die grundsätzliche Problematik einer Kultur zu thematisieren, die in der Abwertung (dem Dissen) des Anderen und der Anderen eine Leistung sieht. Die vom ihm und der Presse damals zitierte Zeile ist geschmacklos bis ins Letzte, aber erst das Video zu „Apokalypse“ ist antisemitisch schlechthin. Wenn es Gottlieb um Antisemitismus ginge, müsste er sich mit Letzteren fachlich versiert auseinandersetzen. Und vielleicht stieße er dann auch auf Phänomene wie Dee Ex, Makks Damage, Komplott, Chris Ares oder anderen.

Gottlieb ergänzt seine Suada gegen den versagenden Staat dann kaum überraschend mit einer gehörigen Portion Richterschelte. Das ist konkrete Arbeit an der Zerstörung des Rechtsstaats. Selbstverständlich ärgern sich viele – der Rezensent nicht ausgeschlossen -, wenn Richter nicht so urteilen, wie man sich das vorgestellt hat. Aber „die ‚richtige‘ Strafe kommt aus dem Recht, nicht aus dem Bauch“ wie der frühere Bundesrichter Thomas Fischer jüngst in seiner Spiegel-Kolumne schrieb. Deshalb sollte man seine Worte sorgfältig wählen.

„Manche Urteile wenden sich gegen die Richter, die sie fällen“ [61] schreibt Gottlieb. Um dann Rechtsgrundsätze aufzustellen, die einen wirklich fassungslos machen. Auch wenn die Richter korrekt Recht gesprochen hätten, hätten sie doch lieber ihren Gefühlen (bzw. Gottliebs Werten) folgen sollen. So funktioniert ein Rechtssystem nicht. Es würde der Willkür Tür und Tor öffnen. Stattdessen muss man – wie es in dem von Gottlieb geschilderten Fall um die Flugtickets von Kuwait Airlines durch den Zentralrat der Juden in Deutschland ja auch geschehen ist – die Änderung der Gesetze fordern, die Diskriminierung von Kunden aufgrund ihrer Religion oder Staatsangehörigkeit zulassen. In Großbritannien gibt es ein derartiges Gesetz, in Deutschland noch nicht. Dennoch zu schreiben, wir hätten es mit einem Justizversagen zu tun, stellt den Rechtsstaat infrage. Letztlich fordert Gottlieb Richter auf, geltendes Recht nicht anzuwenden. Ihm ist Moral, ja subjektives Gefühl wichtiger als Recht – und er sagt es auch explizit: „Ich meine allerdings, das Recht hat neben den Buchstaben des Gesetzes noch eine andere Dimension.“ [62f.] Ist Rechtsbeugung zugunsten als gut empfundener Werte plötzlich gut?

Schließlich kommt er auch noch auf den Fall der Wittenberger Judensau zu sprechen. Auch hier polemisiert Gottlieb wild gegen die Richter, die gegen den Kläger entschieden hatten, der eine Entfernung der Skulptur gefordert hatte. Die Richter hätten sich nicht recht „in die emotionale Situation eines Juden versetzt, der das Bild betrachtet.“ Das zeigt mir, dass Gottlieb sich nur abstrakt mit dem Fall beschäftigt hat und niemals vor Ort war. Denn die Skulptur kann man nicht so einfach betrachten, man muss sie suchen, weil sie sich hoch oben unter dem Kirchendach befindet. Die Herausforderung ist der der Nazi-Aufschriften auf Kirchenglocken analog. Wie verhält man sich dazu, wenn man um sie weiß? Der Rezensent hat sich als einer der Ersten vor Jahren in dieser Zeitschrift für die Entfernung der Skulptur und ihrer Überführung ins Museum eingesetzt (Quelle, s.a. Quelle). Aber er muss eben auch zur Kenntnis nehmen, dass jüdische Mitbürger dazu eine andere Meinung vertreten, etwa der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn: "Was geschehen ist, ist geschehen, und es kann nicht ungeschehen gemacht werden".

Gottlieb aber macht es sich zu einfach. Er argumentiert auf der Ebene dessen, der das Foto der mittelalterlichen Judensau sieht (so wie es etwa in der Wikipedia abgebildet ist). So sieht man die Skulptur in der Wirklichkeit aber nicht. Antijudaistisch beleidigt werden Juden, wenn sie auf Altarbildern von Lukas Cranach unter dem Titel „Gesetz und Evangelium“ auf der Seite des Gesetzes platziert werden.

Dieser „Antijudaismus gehört zum Wesen des Christentums. Das christliche Evangelium braucht das jüdische Gesetz als seinen Gegensatz, um überhaupt als Evangelium, als ‚gute Botschaft‘, geglaubt werden zu können“ (Andreas Pangritz). Das ist das Problem, dem mit Richterschelte kaum beizukommen ist. Was Gottlieb aber implizit, wenn nicht sogar explizit fordert, ist Gesinnungsjustiz. Richter sollen nicht Recht sprechen, sondern seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit entsprechen. Die Wirklichkeit ist aber komplizierter. Das wird schon da deutlich, wenn er den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden mit den Worten zitiert, die Urteile zu Antisemitismus in Deutschland würden die Täter nicht abschrecken. Als wenn sich Antisemiten von entsprechenden Straftatbeständen und Gerichtsurteilen abschrecken lassen würden. Warum glaubt man überhaupt, dass Abschreckung durch Strafen funktioniert? In den Worten des früheren Bundesrichters Thomas Fischer:

Einmal direkt gefragt: Hilft Abschreckung bei Ihnen? Haben Sie gestern deshalb niemanden überfallen oder vergewaltigt, weil Sie Angst hatten, sieben Jahre Freiheitsstrafe zu kassieren? Ist das der Grund, warum Sie Ihre Angehörigen nicht zu Krüppeln schlagen und Ihre Freunde nicht berauben? Wenn nein: Warum, meinen Sie, hilft es dann bei allen anderen so unglaublich gut?

Die richtige Antwort lautet deshalb (neben der Strafverfolgung, die ja nicht unterbleiben soll): Bildung und kritische Auseinandersetzung.


„Feinde, nichts als Feinde“ [67-70]

Man ahnt es schon, dieses Kapitel setzt sich mit der BDS-Bewegung auseinander. Das ist in der Bundesrepublik Deutschland ein besonders heikles Thema. Kaum jemand kennt die Bewegung wirklich, aber jeder hat eine Meinung dazu. Manche sogar eine besonders dezidierte, die alternative Beurteilungen gar nicht mehr zulässt. Insoweit die BDS-Bewegung auf die De-Legitimierung Israels zielt, ist sie abzulehnen und zu bekämpfen. Und zwar argumentativ zu bekämpfen.

Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: "Ich kann überall hungern." Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß erwünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. "Wodurch", fragte Herr K., "bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen."

Ich zitiere Bertolt Brechts pädagogische Geschichte deshalb, weil ich in der Strategie, die Boykotteure der BDS-Bewegung mit einem Boykott ihrer vermutlichen Unterstützer zu beantworten, keinen Gewinn erkennen kann. Man muss sich mit ihnen wieder und wieder argumentativ auseinandersetzen, aber nicht spiegelbildlich ihre Methodik anwenden. Ich finde die BDS-Bewegung geradezu lächerlich erfolglos. Kaum ein bedeutender Künstler dieser Welt lässt sich davon abhalten, in Israel aufzutreten. Sie verwahren sich gegen die Zumutung, ihr künstlerisches Schaffen unter ideologische Vorbehalte zu stellen und lassen die Bewegung grotesk ins Leere laufen.

Die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr die Mehrheit in der Gesellschaft haben sich entschieden, den Boykott mit einem Gegenboykott zu beantworten und grenzen nun alle aus, die sie verdächtigen, Förderer der BDS-Bewegung zu sein. Man tut dabei so, als ginge es nur darum, der BDS-Bewegung „den Geldhahn zuzudrehen“, de facto werden aber Wissenschaftler ausgeladen, Schriftstellern werden ihre Preise aberkannt und eben leider auch jüdische Wissenschaftler denunziert. Dass Gottlieb Judith Butler wider besseren Wissens als die intellektuelle Theoretikerin der BDS-Bewegung darstellt, ohne dabei auch nur anzudeuten, dass sie Jüdin ist, befremdet schon stark. Dass sich zahlreiche jüdische und israelische Wissenschaftler im Mai 2019 gegen die reflexhafte Ausgrenzung von Andersdenkenden ausgesprochen haben, wird schlicht nicht erwähnt. Und deshalb muss man schon die Frage stellen dürfen, warum nicht-jüdischen Journalisten „eine Deutungshoheit darüber zukommen (soll), was ‚antijüdisch‘ und damit eben auch, was ‚jüdisch‘ ist“. Micha Brumlik hat in diesem Kontext von einem „neuen McCarthyismus“ gesprochen. Und 45 Talmudgelehrte erklärten, sie seien zutiefst beunruhigt „über die zunehmende Zensur der Meinungsfreiheit und die schwindenden Möglichkeiten, die Regierungspolitik Israels zu kritisieren oder gar zu hinterfragen.“


„Keine Worte mehr, Taten“ [71-84]

Das zehn Punkte umfassende Abschlusskapitel steht unter dem Motto „Der Worte sind genug gewechselt“. Das meint er leider nicht biblisch: „Meine Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit“ (1. Joh 3, 18). Gottlieb aber bevorzugt die kraftvollen Gesten und möchte deshalb sofort starke Handlungen.

Sein erster Punkt lautet „Gelebte Solidarität“. Dem wird sich niemand verschließen wollen, aber er stützt ihn gleich mit Behauptungen, die mir diskussionswürdig erscheinen. Etwa wenn er meint, mehr Deutsche würden israelkritische Demonstrationen als Anti-Antisemitismus-Demonstrationen aufsuchen. Man hätte dafür gerne Belege. Ich finde für 2019 eine Berliner Demo gegen Antisemitismus mit 18.000 Teilnehmern. Eine israelkritische mit vergleichbarer Größe finde ich nicht. Die letzte große Pro-Palästina-Demo in Berlin 2019 hatte deutlich weniger als 1000 Teilnehmer. Man muss das nicht gegeneinander aufrechnen, aber es ist Gottlieb, der derlei Rechenspiele vornimmt.

Der zweite Punkt gilt dem Kampf gegen die „intellektuellen“ Antisemiten. „Auch Lehrer, Intellektuelle, Journalisten verbreiten antisemitischen Unsinn“. Ja das mag sein, aber man muss dann auch sagen: zigtausende Lehrer, Intellektuelle und Journalisten betreiben Tag für Tag Aufklärung und sorgen dafür, dass der Antisemitismus nicht unwidersprochen bleibt. Dem evangelischen Religionsunterricht ist seit Jahrzehnten der Kampf gegen Antisemitismus tief eingeschrieben, hier gehören Besuche in Synagogen und Gespräche mit anderen Religionen zur Selbstverständlichkeit. Man muss sich das nicht kleinreden lassen von Leuten, die alles auf Freund-Feind-Schemata reduzieren wollen. Und „öffentlich an den Pranger stellen“ [74] ist selbst so ein Internet-Mem, dem man nicht folgen sollte. Shaming und Blaming sind widerwärtig. Benennen, aufklären, konfrontieren, widersprechen – darum geht es.

Der dritte Punkt betont die Bedeutung der konkreten Ansprechpartner wie etwa die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Das ist ein ausbaufähiger Punkt, der um einige weitere gesellschaftliche, von der Regierung unterstützte Initiativen ergänzt werden könnte.

Der vierte Punkt ist jener, auf den m.E. bei Gottlieb alles hinausläuft und dem ich am entschiedensten widersprechen möchte. Es geht um den starken, wehrhaften Staat. Es fängt schon damit an, dass der erste Satz lautet „Demonstrationen schaden nicht … Aber wir brauchen sie nicht wirklich.“ Mein Demokratieverständnis ist ein völlig anderes. Nur zur Erinnerung: Demonstrationen sind ein Grundrecht von Bürgern, in Artikel 8 unserer Verfassung garantiert. Wenn ich es böse zuspitzen sollte, dann würde ich sagen: wir können eher auf öffentlich-rechtliche Medien verzichten als auf Demonstrationen. In einem Staat, der das Grundrecht auf und die Bedeutung von Demonstrationen nicht achtet, wollte ich nicht leben. Hier zeigt Gottlieb ein elementares und erschreckendes Demokratiedefizit. Man mag in Bayern vielleicht nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, aber im Rest der Bundesrepublik ist das immer noch üblich.

Gottlieb fährt fort: „Halle und Hanau haben uns den schwachen Staat vor Augen geführt“. Ich wüsste freilich nicht, inwiefern. Wie hätte denn ein starker Staat die Attentate von Halle und Hanau verhindert? Indem er alle Verdächtigen vorher eingesperrt hätte? Indem wir wie im deutschen Herbst jeden Morgen beim Verlassen der Stadtgrenzen in die Läufe der Maschinenpistolen von jungen Polizeibeamten blicken? Wer sehnt sich in den Deutschen Herbst zurück? „Mit aller Härte“ müsse der Staat alle Gewalt von rechts, von links und aus der Mitte verfolgen. Das ist Stammtisch in Reinkultur. Wir kennen genügend Länder auf dieser Welt, die „mit aller Härte“ gegen die Verbrecher in ihrem Land vorgehen. Und wir wissen: in diesen Ländern gibt es seit Jahrzehnten mehr Gewalt, mehr Rassismus, mehr Antisemitismus als in unserer Gesellschaft. Ich weiß nicht, was sich Gottlieb unter „mit aller Härte“ vorstellt, aber es ist gewiss nichts Gutes. Wir fordern diese Härte immer dann, wenn andere betroffen sind, wenn die Härte die von uns Abgelehnten trifft. Und sobald es unsere eigenen Interessen angeht, werden wir merkwürdig still und mild. Richter sollen Gesetze anwenden, sie sollen Recht sprechen, und Verurteilte sollen anschließend, sofern sie zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, resozialisiert werden. Das ist die Humanität, die schon in der hebräischen Bibel zum Ausdruck kommt. Sie sind wir unserer Gesellschaft und allen Mitbürgern schuldig. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet unser politisches System als streitbare, wehrhafte Demokratie. Dazu zählt nebenbei bemerkt auch die Anerkennung der Unabhängigkeit der Gerichte, vor allem aber das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung. Wir sind nicht irgendwelchen sicherheitspolitischen Überlegungen des Staates verpflichtet, sondern einem Humanitätsideal.

Der fünfte Punkt fasst noch einmal alle Vorurteile des Autors zum Thema „Antisemitismus und Internet“ zusammen. Der Abschnitt ist von Stereotypen durchwoben. Ein „professioneller Blick“ zeige, dass es im Internet „einen Dialog zwischen Neonazis und islamistischen Gewalttätern gibt“. Nun ist das keine überraschend neue Erkenntnis. Die Gespräche zwischen dem Ku Klux Klan und der Nation of Islam datieren ins Jahr 1961, die Zusammenarbeit der Wehrsportgruppe Hoffmann mit den Palästinensern im Libanon datiert ins Jahr 1980. Es bedarf keines „professionellen Blicks“, um die antisemitisch begründete Allianz von Islamismus und (Neo-)Nazis zu erkennen. Sie datieren letztlich in die Zeit des „Dritten Reiches“. Alles, was Gottlieb in diesem Punkt aufzählt, ist dann doch von wenig Kompetenz gekennzeichnet (lustig sind Formulierungen wie: „Reißt das Internet auf!).

Der sechste Punkt doppelt zunächst den vorherigen Punkt (dumme Jugendliche, die wegen des schlimmen Internets Opfer antisemitischer Strömungen sind), um sich dann der Bildung zuzuwenden. Der Kampf gegen Antisemitismus finde zunächst in der Schule statt: „Es bedarf … einer kraftvollen Anstrengung von zuständigen Ministern, Schulleitern, Lehrern, Eltern und Schülern“. Wer wollte da widersprechen? Aber als jemand, der viele Jahre in einer Lehrplankommission des Faches Evangelische Religion gesessen hat, hätte ich es doch gerne etwas konkreter. Was wurde bisher versäumt, was muss geschehen und was soll dafür entfallen. Für das Gute und gegen das Böse sind wir alle. Aber was steht akut auf der Agenda?

Und noch einmal zur Erinnerung: Hier redet jemand, der zur Gruppe jener gehört, in der Antisemitismus am verbreitetsten ist über jene Gruppe, bei der der Antisemitismus noch am Geringsten ist. Mir kommt das merkwürdig vor. Auch ich halte Bildung (statt Ausbildung) für das zentrale Anliegen bei der Bekämpfung des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Persönlichkeit bilden, Zusammenhänge erkennen, demokratische Perspektiven bieten – das muss sicher noch verstärkt kultiviert werden gegenüber einer Tendenz, Schule zur Berufsbildung verkommen zu lassen.

Die abschließenden Punkte sind von einer Allgemeinheit, dass man kaum etwas dazu sagen kann. Der siebte Punkt plädiert für eine neue Erinnerungskultur nicht zuletzt mit Hilfe des Internets und der digitalen Archive. Der achte Punkt fordert eine bessere Ausbildung von Journalisten, insbesondere jener, die sich mit Israel beschäftigen. Der neunte Punkt beschäftigt sich mit der politischen Solidarität mit Israel. Diese sehe ich in Deutschland nicht ernsthaft gefährdet, auch international mehren sich jene Staaten, die Kooperationen mit Israel eingehen. Der zehnte Punkt ist etwas paradox formuliert, er ruft uns auf, die Stimme zu erheben, denn wir müssten handeln statt reden. Das erinnert dann doch an Goethes Faust, an jene Worte des Direktors beim Vorspiel auf dem Theater: Der Worte sind genug gewechselt, / Laßt mich auch endlich Taten sehn! … So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus / Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.

Der theatralische Gestus, das ist es, was ich Gottlieb vorhalte, die dramatisierende Rede, die immer im Appellativen bleibt und nie wirklich konkret wird. Schon der Theaterdirektor bei Goethe verbleibt auf den Brettern, die die Welt nur bedeuten – aber eben nicht sind.


Noch nicht alles [85-89]

Natürlich ist das „noch nicht alles“, es folgt der aktuelle Schlenker auf die Corona-Krise, der noch schnell mit ins Buch musste. Wenn man bedenkt, dass die Covid19-Pandemie ab Februar/März 2020 in Deutschland spürbar wird, das Buch von Gottlieb im September erscheint, dann kann es sich hier nur um Schnellschüsse handeln. Die „belegbaren“ statistischen Entwicklungen, die Gottlieb erwähnt ohne sie zu belegen, zeigen angeblich, dass im Internet Deutschland nach den USA und Frankreich auf Platz drei der weltweiten antisemitischen Äußerungen im Kontext von Corona läge. Ich habe keine Studie gefunden, die das belegt. Ich wüsste auch nicht, wie man das seriös messen sollte. Geht man rein quantitativ vor? Oder lässt man jene Länder des Nahen Ostens, in denen Antisemitismus zur Alltagskultur gehört, einfach aus der Erhebung weg? Oder misst man nur die Steigerungsraten? Ich reagiere deshalb so gereizt, weil es absolut kontraproduktiv ist, wenn man Entwicklungen behauptet, die sich nicht belegen oder sogar widerlegen lassen. Ja, der Anti-Corona-Diskurs ist extrem antisemitisch aufgeladen. In welcher Relation das zur Haltung der Gesamtbevölkerung steht, inwieweit das einen Schwerpunkt ausgerechnet in den USA, Frankreich und Deutschland haben sollte – darüber gibt es keine verlässlichen Erkenntnisse. Es gibt Studien der Anti-Defamation League (ADL), die die Zentren des Antisemitismus weltweit ganz woanders lokalisieren (ADL Global 100 Index).

Das Buch endet mit zwei Worten: „Es reicht!“ Damit wird ein objektiver Tatbestand beschrieben, dem sich die Angesprochenen nicht entziehen können sollen. Nicht das subjektive „Mir reichts!“, das über die eigene Empfindung und die daraus gezogene Handlungsperspektive Auskunft gibt, sondern ein quasi messbares Überschreiten einer Grenze. Gleichzeitig ist dieser schein-objektive Tatbestand, diese Grenzziehung völlig subjektiv. Warum reichte es nicht 2014, als die staatlich erfassen Gewalttaten gegen Juden auf dem Höhepunkt waren? War die Grenze, um die es hier geht, nicht schon überschritten, als in den 70er-Jahren ein jüdisches Altersheim in München angegriffen wurde? Letztlich geht es um eine dezisionistische Sprach-Geste, von der man aber sofort weiß, dass sie folgenlos bleibt. Aber man hat es gesagt und kann zehn Jahre später schreiben, man habe ja schon 2020 geschrieben „Es reicht!“.

Wenn der Kampf gegen Antisemitismus, gegen Judenhass und Xenophobie vor allem eine Frage konsequenter Bildungs- und Aufklärungsarbeit ist, dann geht das eben nicht im Hau-Ruck-Verfahren, sondern entwickelt sich. Bildungsarbeit meint dabei nicht, die Verteilung von Informationen (die wissen ja gar nicht, was Holocaust meint), sondern Menschen zu Persönlichkeiten zu entwickeln, zu Weltbürgern, die mit der Erfahrung von Diversität umgehen können. Wir müssen nicht über Schulen schimpfen, sondern müssen sie konsequent stärken und gerade jene Fächer stark machen, die persönlichkeitsbildend sind. Wo sich die jungen Menschen dann engagieren, lässt sich nicht dekretieren. „Wer sich für welches Thema engagiert, seine Freizeit opfert und sich eben sogar in Lebensgefahr begibt – das kann nicht von oben oder von der Seitenlinie verordnet werden.“ (Ambros Wabel, taz)


Epilog oder: Lektüren zur Arbeit an der Aufklärung

  • Benz, Wolfgang (2005): Was ist Antisemitismus? 2. Aufl. München: C.H. Beck.
  • Benz, Wolfgang (Hg.) (2010): Handbuch des Antisemitismus (5 Bde.) Berlin, New York: Walter de Gruyter.
  • Jikeli, Günther; Stoller, Kim Robin; Allouche-Benayoun, Joelle (2013): Umstrittene Geschichte. Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich. Campus Verlag.
  • Wetzel, Juliane (2014): Moderner Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS (essentials).
  • Benz, Wolfgang (2016): Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments. 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.
  • Frindte, Wolfgang (2006): Inszenierter Antisemitismus. Eine Streitschrift. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Heilbronn, Christian; Rabinovici, Doron; Sznaider, Natan (Hg.) (2019): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Bonn: bpb.
  • Blume, Michael (2019): Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungstheorien befeuern. Ostfildern: Patmos Verlag.
  • Salzborn, Samuel; Schuster, Josef (2019): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
  • Hößl, Stefan E. (2019): Antisemitismus unter 'muslimischen Jugendlichen'. Empirische perspektiven auf Antisemitismus.
  • Hagen, Nikolaus; Neuburger, Tobias (Hg.) (2020): Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis. Innsbruck: innsbruck university press.
  • Brumlik, Micha (2020): Antisemitismus. Ditzingen: Reclam (Reclam 100 Seiten, 20533).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/am713.htm
© Andreas Mertin, 2020