Religiöse Kulturhermeneutik
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AntisemitismusEine BuchempfehlungAndreas Mertin Brumlik, Micha (2020): Antisemitismus. 100 Seiten. Ditzingen: Reclam (Reclam 100 Seiten). [Klappentext] Micha Brumliks Schrift über Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart ist als elementare einführende Lektüre zum Thema wirklich eine Empfehlung wert. Man merkt, dass der Verfasser im Bereich der Pädagogik tätig war, er greift die zentralen Entwicklungen und Fragestellungen auf und entfaltet sie bündig, so dass man vor allem auch der in diesem Falle schrecklichen Logik der Entwicklung folgen kann. Das Buch gliedert sich in sieben aufeinander aufbauende Kapitel. Dabei werden alle zentralen Fragestellungen abgearbeitet und trotz des begrenzten Umfangs des Buches viele Informationen und Querverbindungen vermittelt, die zum weiteren Nachdenken anregen. Dabei ist das Buch frei von jedem Alarmismus, es wägt die Fakten, ordnet sie ein und bietet Perspektiven. Damit wirkt es umso dringlicher und perspektivischer. I. II.
Die einzige Ausnahme bildet der hellenistisch-syrische Herrscher Antiochus IV., der direkt gegen die jüdische Religion vorging und ihren Glauben verbot. Alle anderen Aktionen etwa der Römer wandten sich nicht gegen das Judentum als solches, sondern drehten sich um territoriale Fragen. Faktisch kommt es zum Judenhass aber erst mit dem Entstehen des sich vom Judentum abspaltenden Christentums. III.
Damit wird deutlich, dass noch die neuesten Verschwörungsideologien der Gegenwart, insbesondere der Corona-Leugner sich in ein Muster einschreiben, das mit dem und im Christentum entstanden ist und von ihm verbreitet wurde. Die Grundlage dazu liefert freilich schon das Johannes-Evangelium, wenn es von den Juden als Teufeln bzw. Teufelskindern spricht. Auch das wird in der Gegenwart wieder aufgegriffen. Deshalb ist weiterhin verstärkt der kritische Umgang mit den neutestamentlichen Texten zu entwickeln. Das gleiche gilt für die Literatur der Kirchenväter, die sich oft dezidiert antijudaistisch äußerte. Wir legen heute bei bestimmten rassistisch zu nennenden Äußerungen der Philosophen der Neuzeit jedes einzelne Wort auf die Goldwaage, sind aber geneigt, über all die Verwerfungsliteratur gegenüber Juden in der Frühzeit des Christentums hinwegzusehen. Hätte es auch eine andere Entwicklung nehmen können?
Wie diese zumindest auf Duldung und Ausgleich basierende Kultur dann nach der Jahrtausendwende erodiert, beschreibt Brumlik detailliert. Armut verbreitet sich, die Menschen müssen sich verschulden und suchen Verantwortliche:
In der Zeit der Kreuzzüge gab es nicht nur die ersten Pogrome, sondern die Christen merkten, dass sie gar nicht erst nach Jerusalem ziehen mussten, um „die Feinde des Herrn“ zu bekämpfen. Dann wendet sich Brumlik ausführlich dem „Frühantisemiten“ Martin Luther zu, der sich nicht nur theologisch antijudaistisch äußerte, sondern die Juden als ‚Fremdlinge‘ entweder vertreiben oder vernichten wollte. Hier hätte ich mir gewünscht, dass Brumlik dies in die damaligen Debatten (also etwa Johannes Eck oder Andreas Osiander) eingeordnet hätte. Das vierte Kapitel [39-45] setzt sich mit der Aufklärung und der (Französischen) Revolution im Blick auf den Antisemitismus auseinander.
Im fünften Kapitel [46-70] geht es um den rassistischen Judenhass, den Antisemitismus. Da unsere Sprache sich zurzeit ändert und wir beginnen, alles unterschiedslos durch die Geschichte „Antisemitismus“ zu nennen, fand ich diesen Abschnitt besonders erhellend und in seiner Differenziertheit zum Nachdenken anregend. Es ist das längste Kapitel und beginnt mit den ersten, dezidierten antisemitischen Bewegungen nach 1800, ihren späteren Verbindungen zur Sozialdemokratie (Dühring), die Eroberung der Populärkultur (Gartenlaube) bis hin zum christlichen Antisemitismus eines Adolf Stoecker und damit zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts. Das sechste Kapitel [71-87] setzt sich mit den gegenwärtigen Formen des Antisemitismus auseinander. Da ist zunächst der linke, postkoloniale und islamistische Antisemitismus, dann der bürgerliche Antisemitismus. Ein besonderer Abschnitt wendet sich dem „israelbezogenen Antisemitismus“ zu. Das ist vielleicht neben dem Schlusskapitel der spannendste Teil des Buches, versucht Brumlik doch, jenseits des alarmistischen Topos „Wer Israel kritisiert, ist ein Antisemit“, einen Weg vorzuschlagen, der sowohl dem universalistischen Impuls wie auch Israel selbst verbunden ist. Mit der Holocaustforscherin Deborah Lipstadt plädiert Brumlik hier für etwas mehr Gelassenheit. Der letzte Abschnitt des Kapitels wendet sich dem aktuellen Rechtspopulismus zu. Das letzte Kapitel [88-100] wendet sich der Frage zu: was können wir gegen Antisemitismus tun? Und hier lautet Brumliks klare Antwort: Bildungsarbeit jenseits moralistischer Appelle:
Gerade wegen seiner Kompaktheit ist Brumliks 100-Seiten-Buch (neben all den anderen Einführungen etwa von Wolfgang Benz) ein gerade für die angezielte Bildungsarbeit unentbehrliches Werk, um sich unaufgeregt und sachlich zugleich auf den Stand des Wissens zu bringen: eine klare Buchempfehlung. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/am714.htm |