Antisemitismus

Eine Buchempfehlung

Andreas Mertin

Brumlik, Micha (2020): Antisemitismus. 100 Seiten. Ditzingen: Reclam (Reclam 100 Seiten).

[Klappentext]
»Das antisemitische Weltbild folgt stets einem paranoiden Leitgedanken: Seine Anhänger sind angesichts der objektiven Komplexität der Verhältnisse – von der Suche nach geheimen Drahtziehern im Hintergrund besessen.« Antisemitismus ist ein Problem – seit Jahrtausenden. Doch wie entstand und entsteht auch heute noch Hass auf Juden? Mit Blick auf aktuelle Ereignisse und Entwicklungen geht Micha Brumlik einem Phänomen auf den Grund, das sich stets nicht nur verbal, sondern auch in Form von Gewalt und Terrorismus geäußert hat – von den mittelalterlichen Pogromen bis zur Shoah / zum Holocaust und zum heutigen Islamismus. Antisemitismus ist eine Form des Rassismus, die jeden und jede von uns etwas angeht – umso wichtiger ist es, seine Wurzeln zu kennen. [/Klappentext]

Micha Brumliks Schrift über Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart ist als elementare einführende Lektüre zum Thema wirklich eine Empfehlung wert. Man merkt, dass der Verfasser im Bereich der Pädagogik tätig war, er greift die zentralen Entwicklungen und Fragestellungen auf und entfaltet sie bündig, so dass man vor allem auch der – in diesem Falle – schrecklichen Logik der Entwicklung folgen kann.

Das Buch gliedert sich in sieben aufeinander aufbauende Kapitel. Dabei werden alle zentralen Fragestellungen abgearbeitet und trotz des begrenzten Umfangs des Buches viele Informationen und Querverbindungen vermittelt, die zum weiteren Nachdenken anregen. Dabei ist das Buch frei von jedem Alarmismus, es wägt die Fakten, ordnet sie ein und bietet Perspektiven. Damit wirkt es umso dringlicher und perspektivischer.

I.
Zu Beginn des ersten Kapitels [1-8] ordnet Micha Brumlik den jüngsten Anschlag auf Juden in Halle am Jom Kippur 2019 in die Geschichte der Attentate auf Juden nach 1945 in Deutschland ein. Vor allem aber ordnet er das Geschehen in seine Biographie ein. Das finde ich wirklich hilfreich, weil es den lebensweltlichen Ort der Auseinandersetzung benennt: „Antisemitismus“ ist etwas, was den Einzelnen wie die gesamte Gesellschaft betrifft. Es gibt kein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen, man ist immer schon in das Geschehen involviert.

II.
Das zweite Kapitel [9-11] geht der Frage nach, ob es eigentlich so etwas wie Antijudaismus vor dem Christentum gegeben hat, also eine antike Judenfeindlichkeit. Gibt es mit anderen Worten einen ewigen Judenhass? Brumlik weist darauf hin, dass

inzwischen eine wachsende Anzahl von Altertumsforscher [bestreitet], dass es bereits in der heidnischen Antike eine systematisch verbreitete Judenfeindschaft gegeben habe. [9f.]

Die einzige Ausnahme bildet der hellenistisch-syrische Herrscher Antiochus IV., der direkt gegen die jüdische Religion vorging und ihren Glauben verbot. Alle anderen Aktionen etwa der Römer wandten sich nicht gegen das Judentum als solches, sondern drehten sich um territoriale Fragen. Faktisch kommt es zum Judenhass aber erst mit dem Entstehen des sich vom Judentum abspaltenden Christentums.

III.
Das dritte Kapitel [12-38] wendet sich daher dem christlichen Antijudaismus zu.

Tatsächlich begann die systematische Judenfeindschaft erst mit der Verbreitung der christlichen Religion. In ihr stand der Begriff »Jude« aber noch nicht - wie im modernen Antisemitismus - für eine zu bekämpfende und auszumerzende »Rasse«. Im christlichen Antijudaismus stand »jüdisch« vielmehr für eine Glaubenshaltung, die vor allem durch ihre »Gesetzlichkeit« sowie ihre Ablehnung der durch den Messias Jesus erfahrenen Gnade bestimmt war ... [So] wurden die Juden von der Kirche als die für die Kreuzigung Jesu verantwortlichen Gottesmörder, als Kinder des Satans und als ob ihres Unglaubens die Erlösung der Welt verhindernde Gruppe dargestellt. [12f.]

Damit wird deutlich, dass noch die neuesten Verschwörungsideologien der Gegenwart, insbesondere der Corona-Leugner sich in ein Muster einschreiben, das mit dem und im Christentum entstanden ist und von ihm verbreitet wurde. Die Grundlage dazu liefert freilich schon das Johannes-Evangelium, wenn es von den Juden als Teufeln bzw. Teufelskindern spricht. Auch das wird in der Gegenwart wieder aufgegriffen. Deshalb ist weiterhin verstärkt der kritische Umgang mit den neutestamentlichen Texten zu entwickeln. Das gleiche gilt für die Literatur der Kirchenväter, die sich oft dezidiert antijudaistisch äußerte. Wir legen heute bei bestimmten rassistisch zu nennenden Äußerungen der Philosophen der Neuzeit jedes einzelne Wort auf die Goldwaage, sind aber geneigt, über all die Verwerfungsliteratur gegenüber Juden in der Frühzeit des Christentums hinwegzusehen. Hätte es auch eine andere Entwicklung nehmen können?

Im frühen christlichen Mittelalter, also von der späten Antike bis zum Ende des 1. Jahrtausends, spielte Judenfeindschaft ausweislich der überlieferten Quellen im christlichen Abendland mit wenigen Ausnahmen keine wesentliche Rolle. Tatsächlich begann mit der karolingischen Herrschaft im 8. Jahrhundert eine Phase jüdischer Existenz im Abendland, die sogar als Epoche des kaiserlichen Judenschutzes gelten kann. … Möglich wurde dies durch eine Eigenheit zumal des germanisch-fränkischen Rechts, das - anders als das zentralistische römische Recht - einen Pluralismus verschiedener Stammes- und damit auch Rechtskulturen förderte. [20f.]

Wie diese zumindest auf Duldung und Ausgleich basierende Kultur dann nach der Jahrtausendwende erodiert, beschreibt Brumlik detailliert. Armut verbreitet sich, die Menschen müssen sich verschulden und suchen Verantwortliche:

Der Ärger über Schulden und Zinsen wurde auf die Juden projiziert, wobei sich damals auch das Bild Jesu in Glauben und Kunst wandelte. In dem Augenblick, in dem an die Stelle des triumphierenden Weltenherrschers bzw. des argumentierenden und predigenden Rabbi von Nazareth der am Kreuz hängende Schmerzensmann trat, drängte sich die Frage nach den Urhebern seines Leidens auf. Eine Antwort war schnell gefunden: die Juden! Die Passion Jesu rückte ins Zentrum des Glaubens, und damit wurde auch das Kruzifix zum alles überschattenden Symbol. Das erste historisch bekannte Kruzifix hängt noch heute im Kölner Dom - es entstand im späten 10. Jahrhundert. 100 Jahre später rief Papst Urban II. im Jahre 1095 auf einer Synode in Clermont-Ferrand den Ersten Kreuzzug aus und forderte den christlichen Adel Europas auf, bewaffnet ins mittlerweile sarazenische Jerusalem zu wallfahren, um das »Heilige Grab« zu befreien. [26] (Vgl. dazu den Text „Vom Pantokrator zum Schmerzensmann. Nachdenken über die antijudaistischen Folgen eines Paradigmenwechsels“ in dieser Ausgabe des Magazins.)

In der Zeit der Kreuzzüge gab es nicht nur die ersten Pogrome, sondern die Christen merkten, dass sie gar nicht erst nach Jerusalem ziehen mussten, um „die Feinde des Herrn“ zu bekämpfen.

Dann wendet sich Brumlik ausführlich dem „Frühantisemiten“ Martin Luther zu, der sich nicht nur theologisch antijudaistisch äußerte, sondern die Juden als ‚Fremdlinge‘ entweder vertreiben oder vernichten wollte. Hier hätte ich mir gewünscht, dass Brumlik dies in die damaligen Debatten (also etwa Johannes Eck oder Andreas Osiander) eingeordnet hätte.

Das vierte Kapitel [39-45] setzt sich mit der Aufklärung und der (Französischen) Revolution im Blick auf den Antisemitismus auseinander.

Die Epoche der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert zeichnete sich … auch durch eine von den entstehenden Naturwissenschaften inspirierte Entzauberung des Menschen [aus]. Er galt nun nicht mehr allein als die von Gott gewollte Krone der Schöpfung, sondern auch … als eine zoologische Gattung neben anderen. Wie bei anderen Gattungen … könnten auch die Exemplare der Spezies Mensch von unterschiedlicher Güte sein. [39]
    Diese frühen Antisemiten artikulierten ihre Weltanschauung vor dem Hintergrund eines sich herausbildenden, quasi naturwissenschaftlichen Weltbildes hier und der judenfeindlichen Tradition dort. [40]

Im fünften Kapitel [46-70] geht es um den rassistischen Judenhass, den Antisemitismus. Da unsere Sprache sich zurzeit ändert und wir beginnen, alles unterschiedslos durch die Geschichte „Antisemitismus“ zu nennen, fand ich diesen Abschnitt besonders erhellend und in seiner Differenziertheit zum Nachdenken anregend. Es ist das längste Kapitel und beginnt mit den ersten, dezidierten antisemitischen Bewegungen nach 1800, ihren späteren Verbindungen zur Sozialdemokratie (Dühring), die Eroberung der Populärkultur (Gartenlaube) bis hin zum christlichen Antisemitismus eines Adolf Stoecker und damit zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts.

Das sechste Kapitel [71-87] setzt sich mit den gegenwärtigen Formen des Antisemitismus auseinander. Da ist zunächst der linke, postkoloniale und islamistische Antisemitismus, dann der bürgerliche Antisemitismus. Ein besonderer Abschnitt wendet sich dem „israelbezogenen Antisemitismus“ zu. Das ist vielleicht neben dem Schlusskapitel der spannendste Teil des Buches, versucht Brumlik doch, jenseits des alarmistischen Topos „Wer Israel kritisiert, ist ein Antisemit“, einen Weg vorzuschlagen, der sowohl dem universalistischen Impuls wie auch Israel selbst verbunden ist. Mit der Holocaustforscherin Deborah Lipstadt plädiert Brumlik hier für etwas mehr Gelassenheit. Der letzte Abschnitt des Kapitels wendet sich dem aktuellen Rechtspopulismus zu.

Das letzte Kapitel [88-100] wendet sich der Frage zu: was können wir gegen Antisemitismus tun? Und hier lautet Brumliks klare Antwort: Bildungsarbeit jenseits moralistischer Appelle:

Der Widerspruch zwischen einer anti-antisemitischen und einer (auch und gerade postkolonialen) antirassistischen Bildungsarbeit wird sich nur dann aufheben lassen, wenn wir auch in Unterricht und Lehre nach differenzierter sachlicher Information und Analyse die Ebene einfacher, moralistischer Stellungnahmen verlassen. Stattdessen sollten wir die Perspektive einer universalistischen Bildung zu den Menschenrechten sowie zu einem im Zeitalter der UN-Konventionen auch effektiv gewordenen Weltbürgertum anstreben. [99]

Gerade wegen seiner Kompaktheit ist Brumliks 100-Seiten-Buch (neben all den anderen Einführungen etwa von Wolfgang Benz) ein gerade für die angezielte Bildungsarbeit unentbehrliches Werk, um sich unaufgeregt und sachlich zugleich auf den Stand des Wissens zu bringen: eine klare Buchempfehlung.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/am714.htm
© Andreas Mertin, 2020