Auf dem Tisch der Redaktion

Buchvorstellungen

Andreas Mertin

Lombardo, Bureau Mario; Beitin, Andreas; Böhme, Hartmut; Bredekamp & Kolja Thurner, Horst; Garve, Roland; Hinrichsen, Birte et al. (2020): In aller Munde. Das Orale in Kunst und Kultur. Hg. v. Uta Ruhkamp. Berlin: Hatje Cantz Verlag (Kulturgeschichte).

[Klappentext] Mund, Lippen, Zunge und Zähne – Sprache, Schmerz und Schrei – Essen, Schlingen, Speien und Spucken – Lust und Leidenschaft: Die Mundhöhle ist im wahrsten Sinne des Wortes eine äußerst reizvolle Körperzone. Ihrer Erkundung haben sich dabei nicht nur Wissenschaft und Medizin gewidmet. Gleiches gilt auch für die Kunst- und Kulturgeschichte – von der Antike bis zur Gegenwart. Diesen breit gefächerten motivgeschichtlichen Pfad verfolgt das Kunstmuseum Wolfsburg im Herbst 2020 erstmals in einer umfassenden Ausstellung rund um den Mund. Der begleitende Bildband bietet mit seinen anschaulichen Essays nicht nur inhaltliche Vertiefungsebenen an, sondern reicht weit über die Ausstellung hinaus. Hier wird der Mund mit seinen Fähigkeiten auch im Bereich der Filmgeschichte, Ethnologie, Literaturwissenschaften und Architektur unter die Lupe genommen.

Seit 1994 sammelt das KUNSTMUSEUM WOLFSBURG internationale zeitgenössische Kunst. Mit dem Erwerb von Schlüsselwerken der Spätmoderne sowie wichtigen Positionen der Gegenwartskunst wurde eine hochkarätige Sammlung aufgebaut. Parallel wird ein wissenschaftlich-kuratorisch anspruchsvolles Ausstellungsprogramm präsentiert, das dem Publikum kulturelle Zusammenhänge erschließt. Die Ausstellung In aller Munde wird kuratiert von UTA RUHKAMP.

Es gehört zur Tragik des Jahres 2020, dass zwar 20.000 Covidioten maskenfrei durch die Städte toben, Naziparolen schreien und das System zu stürzen versuchen dürfen, die Kunstinteressierten aber sich nicht einmal unter Wahrung der Hygienevorschriften jene Objekte anschauen können, die sich dem Mund, allgemein dem Oralen widmen. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte.

Das Kunstmuseum Wolfsburg hat eine große Ausstellung zusammengestellt, die sich dem Thema des Oralen in diversen Kunstsparten zuwendet. „In aller Munde“ heißt die Ausstellung, die eigentlich November 2020 laufen sollte und nun bis zum Ende der zweiten Kontaktbeschränkungsphase nur per Katalog studiert werden kann. Glücklicherweise ist die Ausstellung aber über ein halbes Jahr konzipiert, so dass die Hoffnung besteht, sie nach dem Ende der aktuellen Beschränkungsphase doch noch „leibhaft“ aufsuchen zu können.

Der Katalog, im renommierten Cantz-Verlag erschienen, ist reich bebildert und bietet nicht nur einen Überblick über die Ausstellung, sondern reichert die Erkenntnis mit zahlreichen Essays an: „So wird der Mund mit seinem Inventar und seinen Fähigkeiten auch im Bereich der Filmgeschichte, Ethnologie, Literaturwissenschaften und Architektur unter die Lupe genommen. Mit Beiträgen von Andreas Beitin, Hartmut Böhme, Horst Bredekamp & Kolja Thurner, Roland Garve, Birte Hinrichsen, Olaf Knellessen, Harald Lemke, Karin Leonhard, Jürgen Müller, Uta Ruhkamp, Marcus Stiglegger und Ulrike Vedder.“

Wer mit dem Gedanken spielt, irgendwann nach Wolfsburg zu fahren, kann sich schon vorab den Katalog bestellen oder online durch ein Curatorial klicken, in dem alle wesentlichen Aspekte aufgegliedert sind. Klicken Sie dazu einfach auf das Bild:


Große, Jürgen (2020): Der sterbende Gott. Agnostische Anmerkungen. München: Edition Fatal (Reihe Kultur-Kritik, Band 5).

Klappentext:
Seit zweitausend Jahren liegt das Christentum im Sterben und weiß nicht auf würdige Weise zu verschwinden; eine Agonie, die seinem Gott um vieles besser gelungen scheint! Die Agnostischen Anmerkungen sind ein Brevier für freie, aber auch fromme Geister, denen es vor einem steuerfinanzierten Theismus nicht weniger graut als vor einem vereinsgebundenen Atheismus.

Der Dreischritt von Leben, Sterben und Auferstehung gehört von Anfang an zur Dialektik des Christentums. Und man weiß nie genau, in welchem dieser Stadien das Christentum gerade ist. Weltweit steigt die Zahl der Christen deutlich, die Zahl der Religionslosen geht weltweit zumindest prozentual zurück. Nur in jenen Ländern, in denen die humanistischen Impulse des Christentums weitgehend durchgesetzt sind, verzeichnen wir einen Rückgang des Christentums. (Quelle). Dennoch ist und bleibt es interessant und für die Korrektur des eigenen Blicks hilfreich, auch jene Anmerkungen zu lesen, die Agnostiker zum Christentum zu machen haben. Jürgen Große, Historiker und Philosoph, legt hier seine Notizen zum sterbenden Gott (des Christentums) vor. Er hat mehrere Auszeichnungen für seine Aphorismen und Essays bekommen, aber ich finde nicht, dass er im vorliegenden Band die sprachliche Prägnanz etwa der Minima Moralia erreicht. Es ist dann doch zu vorurteilsbeladen und abwertend, wie er über seinen Untersuchungsgegenstand spricht. Da halte ich es lieber mit Adorno: „Negativ, kraft des Bewußtseins der Nichtigkeit, behält die Theologie gegen die Diesseitsgläubigen recht.“ (Negative Dialektik)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/am716.htm
© Andreas Mertin, 2020