Nancy Cunards NEGRO

Ein Dokument eines kosmopolitischen Leben

Andreas Mertin

Bruckmaier, Karl; Cunard, Nancy (Hg.) (2020): Nancy Cunards Negro.
Hamburg: kursbuch.edition.

[Klappentext]
Mit Negro veröffentlichte die wohlhabende Erbin, Poetin und Exzentrikerin Nancy Cunard 1934 eine außergewöhnliche Anthologie: eine ehrgeizige Sammlung, eine nie gesehene Vielfalt an Essays, Lyrik und Musik überwiegend schwarzer Künstler, die sich der afrikanischen, afroamerikanischen und karibischen Kultur widmet. Zu den Autoren gehörten Ikonen der Harlem-Renaissance und Moderne wie Langston Hughes, Zora Neale Hurston, Countee Cullen und William Carlos Williams. Außerdem beteiligten sich einige bekannte Autoren, die schon damals öffentlich gegen rassistische Unterdrückung eintraten, unter ihnen etwa der Soziologe W. E. B. Du Bois. Von afroamerikanischer und kreolischer Sprache über Glaube, Tanz und besondere Rituale, zeichnen diese Texte ein Bild der Kultur in der afrikanischen Diaspora mit lebhafter Ausdruckskraft. Anhand von dokumentarischen Texten nebst Protestsongs und sozialistischen Kampfreden bilden die Beiträge ein höchst relevantes Bild einer frühen Bürgerrechtsbewegung.

Der Musikjournalist und Kulturpublizist Karl Bruckmaier widmete sich Jahrzehnte seines Lebens der Ausdruckskraft und Relevanz schwarzer Kultur innerhalb dessen, was wir Moderne nennen. Fasziniert von der Person Nancy Cunard und ihrer legendären Anthologie wählte er daraus 30 Texte aus und macht sie in seiner Übersetzung zusammen mit Isabella Bruckmaier erstmals auf Deutsch zugänglich. Das entstandene Werk Nancy Cunards Negro ist ein frühes Testament der beeindruckenden Fülle afrikanischer, afroamerikanischer und karibischer Kunst und ihres unermüdlichen Geistes des Widerstands. Damals wie heute ein historisches Black-Pride-Dokument, ein Muss für alle, die die kraftvolle Vielfalt der Kunst feiern und ein großartiges Statement für Pluralität und Anti-Rassismus.


Prolog

Ich wusste ehrlich gesagt nichts von Nancy Cunard, ihrer Biographie, ihrem Lebenswerk und der hier vorzustellenden Anthologie, bis mir der Verlag das Buch zur Rezension schickte. Diese Unkenntnis war nachträglich betrachtet eine eklatante Bildungslücke, die ich mir nicht erklären kann. Man geht dann doch viel zu oft blind durch Ausstellungen und Bibliotheken, in denen man auf Nancy Cunard hätte stoßen können. Dabei ist die Auseinandersetzung mit diesem Buch, mit der Herausgeberin der Anthologie und ihrem Leben überaus interessant und inspirierend. Es ist ein ver-rücktes Buch, es ist eine ver-rückte Biographie und es ist ein kulturgeschichtliches Dokument. Manches, was man in dieser Anthologie entdecken kann, wirkt auch heute noch absolut revolutionär, anderes raubt einem den Atem. Aber das gilt vielleicht auch nur dann, wenn man – wie in meinen Fall – mit der entsprechenden Literatur im deutschen Sprachraum nicht vertraut ist. So entdecke ich in der Anthologie das folgende Gedicht von Countee Cullen und fand es präzise und ausdrucksstark – um dann festzustellen, dass die deutsche Soziologin Hanna Meuter (1889-1964) es schon 1932 in ihrer gemeinsam mit Paul Therstappen herausgegebenen Anthologie „Amerika singe auch ich“ in deutscher Übersetzung publiziert hatte.[1]


Countee Cullen (1903-1946)

For A Lady I know
She even thinks that up in heaven
Her class lies late and snores
While poor black cherubs rise at seven
To do celestial chores.



Vieles ist aber auch von den Begrenzungen der Zeitgeschichte gekennzeichnet, etwa das Poem ‚Goodbye Christ‘ von Langston Hughes (1902—1967), in dem dieser sich ziemlich ostentativ von Jesus Christus (aber auch von Mahatma Gandhi) verabschiedet und alternativ emphatisch Marx, Lenin und Stalin als neue Menschen preist:


Langston Hughes (1902—1967)

Goodbye, Christ
Make way for a new guy
with no religion at all –
A real guy named Marx Communist
Lenin Peasant Stalin Worker.


Während ersteres vielleicht noch einsichtig sein kann, ist letzteres aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar. Aber es geht ja auch um ein Dokument zur Zeitgeschichte und Anfang der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts war die Bewertung von Josef Stalin noch eine andere als heute und die Emphase für die kommunistische Bewegung in der künstlerischen Community auf dem Höhepunkt.

Wer ist Nancy Cunard?

Bevor ich die neue Auswahl aus der Anthologie NEGRO von Nancy Cunard genauer betrachte, zunächst ein paar Informationen zu ihrer Person. Das obige Gemälde (128 x 102 cm) des englischen Porträtmalers Ambrose McEvoy (1878-1927), welches um 1920 entstanden ist und die damals 24-Jährige (schon verheiratete und in Scheidung lebende) Nancy Cunard zeigt, vermittelt noch kaum eine Ahnung vom danach beginnenden bewegten Leben der jungen Britin. Aber selbst das vier Jahre später entstandenes Porträt von Oskar Kokoschka (1886-1980) (Link) lässt noch wenig von jener Frau erkennen, die sich damals bereits anschickte, sozusagen als britisches It-Girl die Pariser Kultur-Szene aufzumischen.

Lady Nancy Clare Cunard (* 10. März 1896 in Nevill Holt, Leicestershire, England; † 17. März 1965 in Paris) war eine britische Publizistin, Dichterin und Verlegerin. Die reiche Erbin galt als radikale und feministische Exzentrikerin. Sie engagierte sich energisch gegen Rassismus und sympathisierte mit den Kommunisten. Sie setzte sich für die Angeklagten im skandalösen Scottsboro-Prozess ein, agitierte gegen Mussolini, Franco und das nationalsozialistische Deutschland.[2]

So leitet die Wikipedia den Artikel über Nancy Cunard ein und hier deutet sich schon an, wie unterschiedlich die Welten sind, in denen die Protagonistin lebt. Wenn man in alten Lexika das Wort „Cunard“ nachschlägt, stößt man immer auf die Cunard-Schiffslinie, die anfangs einen Liniendienst von Liverpool nach Boston und Halifax betrieb. Sie war eine der führenden transatlantischen Reedereien, die lange Zeit das Blaue Band des schnellsten transatlantischen Schiffes hielt. Der Vater von Nancy Cunard, Sir Bache Cunard, 3rd. Baronet (1851–1925), ist der Enkel des Begründers der Reederei, Nancy mithin die Urenkelin. Sie gehörten zur britischen Upper Class. Nancy Cunard erhielt eine umfassende Ausbildung, sprach mehrere Fremdsprachen und war sehr an Kunst interessiert. Sie besuchte mehrere Privatschulen in England, Deutschland und Frankreich. Sie suchte schon früh den Kontakt zu Intellektuellen und Künstlern. Nach einer ersten, nur 20 Monate währenden Ehe in England, zog sie in den 20er-Jahren nach Paris um und bewegte sich von da an in den vom Surrealismus und Dadaismus geprägten Künstlerkreisen.

In dieser Zeit begann Nancy Cunard Gedichte zu schreiben und zu publizieren. Sie freundete sich mit zahlreichen Schriftstellern und Künstlern an, oftmals lange bevor diese bekannt und berühmt wurden. Sie war die Freundin und Muse von Aldous Huxley, und hatte engen Kontakt u.a. mit Ernest Hemingway, James Joyce, Constantin Brâncuși, Louis Aragon und Man Ray. Das spiegelt sich auch in den Fotos, die die Fotografen unter diesen Künstlern in dieser Zeit von Nancy Cunard angefertigt haben (Link). Der 1921 nach Paris gezogene Man Ray (1890-1976) schafft mehrere geradezu ikonische Fotos von ihr (Link), der abstrakte Fotograf Curtis Moffat (1887-1949) schafft mythisch-esoterische Bilder (Link). Auffallend sind die unzähligen Armreifen, die sie jeweils trägt.

1928 lernt Nancy Cunard während eines Aufenthaltes in Venedig im (auch heute noch existierenden) Hotel Luna am Markusplatz den amerikanischen Jazz-Pianisten Henry Crowder (1890–1955) kennen, der dort ein Engagement hat. Es beginnt eine intensive persönliche und künstlerische Beziehung der beiden.

Im gleichen Jahr gründet Nancy Cunard in Paris einen Verlag („The Hours Press“), in dem sie ambitionierte Bücher publiziert. Später übernahm dieser Verlag auch den renommierten Verlag ‚Three Mountain Press‘. Cunard veröffentlicht Werke von „George Moore (Peronnik the Fool, 1928; The Talking Pine, 1931), Ezra Pound (A Draft of XXX Cantos, 1930), Laura Riding und Robert Graves, Norman Douglas (One Day, 1929), Richard Aldington (Hark the Herald, 1928; The Eaten Heart, 1929; Last Straws, 1930), Alvaro Guevara, Arthur Symons (Mes souvenirs, 1929), das erste Buch von Samuel Beckett (Whoroscope, 1930), Havelock Ellis, Louis Aragon, Roy Campbell, Walter Lowenfels (Apollinaire: an Elegy, 1930), die imaginistischen Gedichte John Rodkers, Bob Brown (Words, 1931), Harold Acton, Brian Howard (God Save the King, 1930), den Katalog Gemälde, Zeichnungen und Gouachen von Eugene McCown (1930).[3]

1930 erscheint in ihrem Verlag auch das auf 100 Exemplare begrenzte, vom Herausgeber Henry Crowder persönlich signierte Buch „Henry – Music. Poems by Richard Aldington, Harold Acton, Nancy Cunard, Walter Lowen­fels, Samuel Beckett“.[4] Das Titelbild ist von Man Ray collagiert. Die Publikation des Buches und das öffentliche Zusammenleben von Nancy Cunard und Henry Crowder führen zum Skandal, die Familie von Cunard ist empört, der Ku-Klux-Klan schickt ihr Drohbriefe. Das scheint Nancy Cunard aber nicht beeindruckt, sondern ihr kritisches Engagement eher befeuert zu haben.

Auf dem nebenstehenden Foto eines unbekannten Fotografen von 1932 sehen wir sie in der Zeit, in der sie auch das Buch NEGRO vorbereitet. Dass dessen Herausgabe einige Zeit und vor allem Nerven (und Geld) gekostet hat, beschreibt Karl Bruckmaier instruktiv in seiner Einleitung zum Buch. Denn nicht alle angefragten Autoren blieben bei der Stange bzw. lieferten ihre zugesagten Texte ab, zudem war die Qualität der abgelieferten Texte sehr unterschiedlich. Letzteres kann der heutige Leser der Zusammenstellung freilich nicht mehr beurteilen, weil Karl Bruckmaier zurecht nach dem Aschenputtelprinzip nur die besseren und besten Texte in seine Auswahl übernommen hat. Man muss sich Nancy Cunard als überaus engagiertes und motiviertes Individuum der damaligen Aufbruchsbewegungen vorstellen, freilich auch mit der Sprunghaftigkeit der damaligen Zeit: „Seine Herausgeberin, inzwischen alkoholkrank und anderen hehren Zielen – Kommunismus, Äthiopien, Spanischer Bürgerkrieg, Entkolonialisierung – verpflichtet, verliert das Interesse.“ [8]

Das Buch NEGRO

2015 versteigert Christie‘s ein Originalexemplar der Erstausgabe von 1934 und notiert dazu: „1.000 Exemplare wurden gedruckt, aber ein beträchtlicher Teil davon wurde durch einen Lagerbrand infolge eines Blitzeinschlags zerstört.“[5] Das Buch erzielte seinerzeit einen Auktionserlös von 4.750 GBP (= 6.500 Euro). Schon als das Buch 1934 erschien wurde es für zwei Guineen, also zwei britische Pfund pro Buch verkauft und war damit ziemlich exklusiv. Man musste sich den Einblick in andere Welten etwas kosten lassen.

The anthology was a generically eclectic document of 855 pages of poetry, essays, ethnography, art history, music, proverbs, maps and historical accounts of the African diaspora around the world.[6]

Eklektizistisch ist das richtige Stichwort – man kann sich das vorstellen, wenn man sich überlegt, wie man selbst an ein derart innovatives, neues, ungewöhnliches Projekt herangehen würde. Man befindet sich – wie Nancy Cunard – in Paris in einem Zirkel der avantgardistischen Künstler der damaligen Zeit und soll/will nun eine Anthologie unter der Titel NEGRO zusammenstellen. Was ist wichtig, was repräsentativ, was erwähnenswert? Das zu beantworten ist gar nicht so einfach. Und ursprünglich hatte Nancy Cunard sogar ein noch viel umfangreicheres Buchprojekt vor Augen. Nancy Cunards Zusammenstellung ist gut bebildert, die schwarzen Künstler*innen werden mittels Porträtfoto vorgestellt, vor allem aber gibt es eine Fülle von Dokumentar-Fotos, etwa auch Bilder von Lynchaktionen durch weiße Rassisten. Cunard gliedert ihre Anthologie in verschiedene Ordnungspunkte: America, Negro Stars, Music, Poetry, West Indies und South America, Europe, Africa, Negro Sculpture und Ethnology.[7] Diese werden dann noch einmal in zum Teil nummerierte, zum Teil genauer benannte Unterpunkte eingeteilt.

1970 hatte bereits Hugh D. Ford eine auf knapp 500 Seiten reduzierte Ausgabe der Anthologie herausgegeben.[8] Er systematisiert die Zusammenstellung von Nancy Cunard noch einmal stärker, indem er auch die ersten Unterpunkte namentlich kategorisiert: Sklaverei, Geschichte, Literatur, Erziehung usw. Die grundsätzliche Systematik hat er aber beibehalten.

Was bietet die aktuelle Auswahl von Karl Bruckmaier?

Die vorliegende, von Karl Bruckmaier herausgegebene Auswahl, ist dagegen gegenüber dem Original und dem späteren Nachdruck noch einmal auf 280 Seiten verkleinert. Dabei hat Karl Bruckmaier seine Auswahl durch eine Einleitung und eine Serie mit 23 Fotografien des Fotografien Olaf Unverzart ergänzt, so dass er nun etwa ein Viertel des ursprünglichen Buches von Nancy Cunard auf Deutsch zugänglich gemacht hat.

Der Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt ganz unterschiedliche Beiträge, vom eher wissenschaftlich anmutenden Bericht über die einfühlende oder dadaistische Schilderung, Gedichte und biographische Begegnungen bis zum literarisch fast schon ungelenk erscheinenden Hinweis auf bedeutsame Ereignisse oder Personen.

Das ist überaus spannend und interessant, wenngleich durch den Verzicht auf die ursprünglichen Dokumentarfotos etwas von der Authentizität bzw. schockierenden Realität des Buches verloren gegangen ist.

Aber man bekommt einen guten Eindruck von dem ursprünglichen Werk, zumal Bruckmaier behutsam da und dort Anmerkungen und Erläuterungen einträgt. Die Alternative wäre ja nur eine Art übersetztes Faksimile gewesen, das dann aber auch das große Format hätte übernehmen müssen. Zumindest sollte jede Leserin, jeder Leser einmal einen Blick auf die digitale Präsentation des Originals im Internet werfen (Link).

Ich greife nun aus den Beiträgen der von Bruckmaier edierten Ausgabe einige heraus:

Die Dokumentation des Buches beginnt etwa mit einem Artikel von W.E.B. du Bois (1868-1963). Die Wikipedia schreibt zu dessen Biographie:

Du Bois entstammte einer seit vielen Generationen freien schwarzen Familie in Massachusetts, die schon früh ins Bürgertum aufgestiegen war. Mütterlicherseits kann man die Familie auf Freie vor den Revolutionskriegen zurückverfolgen, väterlicherseits auf eingewanderte haitianische Schwarze, deren einstiger Sklavenhalter ein französischer Hugenotte war. Der Familienname Du Bois findet hier seinen Ursprung.

Biographisch führte der Weg von du Bois auch nach Deutschland, er hat u.a. in Heidelberg (bei Max Weber) und an der Humboldt-Universität in Berlin studiert. Über seine Erfahrungen in Deutschland sagte er:

„Ich befand mich außerhalb der amerikanischen Welt und schaute hinein. Da waren Weiße – Studenten, Bekannte, Lehrer –, die die Gegenwart mit mir erlebten. Sie betrachteten mich nicht als Abnormität oder als Untermenschen. Ich war nur ein etwas privilegierterer Student, den sie froh waren, zu treffen und mit dem sie über Gott und die Welt, besonders über die Welt, aus der ich kam, reden konnten.“[9]

Auch angesichts der aktuellen Debatte über die Cancel Culture finden sich bei du Bois interessante Notizen. Während in Hamburg engagierte Linke die Bismarckstatue stürzen wollen, zeigt sich du Bois von ihm ziemlich beeindruckt und bezeichnet ihn als eine Art Vorbild:

„Er formte aus einer Masse sich zankender Völker eine Nation. […] Dies ließ mich ahnen, was die amerikanischen Schwarzen tun müssen: mit Kraft und Entschlossenheit unter fähiger Führung voranmaschieren.“

Der in NEGRO abgedruckte Text „Das schwarze Amerika“ (13-27) von du Bois ist außerordentlich differenziert und auch heute noch lehrreich, er lässt sich mit biographischen Kontextualisierungen seines Verfassers auch heute noch als Text in der Bildungsarbeit einsetzen.[10] Du Bois skizziert die Entwicklung der Sklaverei und der schwarzen Community vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Er erörtert die kulturellen Leistungen und die Einflüsse, die von ihnen auf die weiße Kultur ausstrahlten. Kritisch beschäftigt er sich mit der Kultur der Mildtätigkeit, die eine Struktur aufrechterhält, die eigentlich überwunden werden müsste. Und schließlich setzt er sich mit den Stimmen in der schwarzen Community auseinander, die an der Rassentrennung festhalten und eine eigene nationalstaatliche Organisation der Schwarzen empfehlen. Das hält er für ein nicht praktikables Projekt, das allein schon durch die Lebenswirklichkeit, die realer Vermischung, überholt werde.

Der zweite Text in der Sammlung stammt von der zwar namentlich bekannten, ansonsten aber unbekannt gebliebenen Autorin Gladis Berry Robinson, die von der ersten afroamerikanischen Sklavin berichtet, die publizieren konnte / durfte. Sie wurde auch schon von du Bois in seinem Text erwähnt und hervorgehoben.

Diese erste schwarze Schriftstellerin, Phillis Wheatley (1753-1784), ist gerade in heutigen Zeiten, in denen man nur einen Computer und eine Internetverbindung braucht, um etwas für eine wie auch immer große Öffentlichkeit zu publizieren, überaus lehrreich. Auch ihre Biographie wäre ein Thema für die Bildungsarbeit. Nein, wirklich emanzipiert sind die Inhalte ihrer Texte nicht, revolutionär ist an ihnen vor allem, dass sie sich in einem Kontext durchsetzen konnten, der es kategorisch ausschloss, dass schwarze Frauen überhaupt literarisch tätig sein könnten. Die Wikipedia schildert ihre literarischen Anfänge so:

Ihr erstes Gedicht (On Mssrs. Hussey and Coffin) veröffentlichte sie bereits 1767 mit dreizehn Jahren in der in Rhode Island erscheinenden Zeitung Newport Mercury. Bereits dieses erste Gedicht ist typisch für ihr Werk, das sich an der neoklassizistischen Dichtung nach dem Vorbild Alexander Popes orientierte. Viele ihrer Gedichte sind christlich-erbaulichen Inhalts, viele eignete sie religiösen Berühmtheiten zu.[11]

Dem ersten Buch, das ihre Texte enthielt, musste ein Gutachten vorgeschaltet werden, das bezeugte, dass die Texte wirklich von ihr seien. Unfassbar. Sie wird auch in Europa berühmt, wobei dieser Ruhm zu einem guten Teil auf Exotismus und nicht auf einem wirklichen Interesse an ihren Texten lag.[12] Heute mögen ihre Gedichte aus dem Rückblick für manchen zu affirmativ wirken, aber sie zeichnen sich durch eine Ambivalenz aus, die weit über das Konventionelle hinausweist. In ihrem Gedicht „On Being Brought From Africa to America“ schreibt sie:

Some view our sable race with scornful eye,
„Their colour is a diabolic dye.“
Remember, Christians, Negroes, black as Cain,
May be refin’d, and join th’ angelic train.[13]

Im Angelsächsischen gibt es eine angeregte Diskussion um diese Verse[14], aber hier müsste man noch einmal vertieft in die amerikanischen Debatten des 19. Jahrhunderts einsteigen, die das Kainsmal (das ja nicht zuletzt ein Schutzmerkmal war) mit der schwarzen Hautfarbe verbanden. Insbesondere im Mormonentum gibt es eine längere Debatte darüber. Wie gesagt, der Text in NEGRO erzählt nur von der Schriftstellerin, zieht einen aber sofort in die weitere Recherche hinein. Das ist dann auch ein Verdienst von Bruckmaiers Publikation.

Nancy Cunards Buch enthält aber auch Texte von Autoren, die man rückblickend nur als ambivalent bezeichnen kann. Dazu gehört für mich der Text von Lawrence Gellert (1898-1979), der vor allem für seine Sammlung afroamerikanischer Protestsongs, Bluesstücke und Spirituals aus den 20er und 30er Jahren bekannt ist. Diese Sammlung ist insofern verdienstvoll, weil gerade die für die damalige Zeit anstößigen Lieder nicht gesammelt und veröffentlicht wurden. Sein Text „Negro Songs of Protest“[15] muss Nancy Cunard beeindruckt haben, immerhin 12 Seiten räumt sie ihm im Buch von 1934 ein.[16] Und er füllt sie mit den Versen recht drastischer Lieder, die er dann auch noch zuspitzend kommentiert. Das Problem ist, dass die heutige Forschung bezweifelt, ob Gellert hier wirklich ausschließlich afroamerikanische Protestlieder gesammelt hat, wann er sie de facto aufgezeichnet hat (die Forschung hält die Frühdatierung in die 20er für unwahrscheinlich) und ob nicht ein gewisser Teil dieser Lieder auf ihn selbst zurückgeht, die er im politischen Interesse der kommunistischen Partei fabriziert und dann Afroamerikanern zugeschrieben hätte. Zumindest einige seiner Erzählungen lassen sich falsifizieren. Wir hätten dann sozusagen eine Art literarisches Blackfacing vor uns. So heißt es in der jüngsten Veröffentlichung über ihn:

When the left urged Gellert to collect protest songs for their propagandist value and he saw that he could find notoriety, and even fame, by doing so, he did, as many of his critics suspected, at least assist in the creation or writing of some of the material he recorded.[17]

Das würde zumindest erklären, warum einige der Zuspitzungen eher in den kommunistischen Jargon passen, etwa wenn Gellert schreibt:

Einen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Pfaffen mag ich nicht erkennen. Auch der farbige Gottesmann ist ein aufgeblasener Schwachkopf und Schmarotzer, der ständig Plattitüden absondert über den ach so lieben Gott und das ach so wundervolle Jenseits. Ihm selbst aber steht schon zu Lebzeiten das schönste Haus in seinem Sprengel zu, der stolzeste Gockel, das fetteste Schwein oder was sonst an Delikatessen »zu Ehren Gottes« bei ihm abgelie­fert wird. Und seine Schäfchen schert er, so gut er kann - er nimmt ihnen den letzten Cent ab.

Das mindert nicht die Verdienste Gellerts, was seine weitere Sammlung schwarzer Protest-Songs betrifft, aber es bedeutet, dass man bei jedem einzelnen von ihm kolportierten Lied schauen muss, inwieweit es authentisch und inwieweit es zugeschriebene Folkore ist.

Vermisst habe ich in der deutschen Auswahl einen Text von Kenneth Macpherson, den ich im Original bei Nancy Cunard gefunden habe. Er trägt dort den Titel „A Negro Film Union – Why not?”[18] Macpherson hatte kurz zuvor den avantgardistischen Stummfilm “Borderline“ mit dem schwarzen Bürgerrechtler Paul Robeson in der Hauptrolle gedreht.

The silent film, with English inter-titles, is primarily noted for its handling of the contentious issue of inter-racial relationships, using avant-garde experimental film-making techniques, and is today very much part of the curriculum of the study of modern cinematography.[19]

Macpherson ist ähnlich wie auch Nancy Cunard ein Grenzgänger zwischen Kulturen, Geschlechtern und „Rassen“. In seinem Text erörtert er, der mit dem russischen Filmregisseur Sergei Michailowitsch Eisenstein befreundet ist, die Frage, wie sinnvoll, ja zwingend eigentlich eine schwarze Filmunion, ein „Confederated Negro Socialist Cinema" wäre. Denn die bloße Integration der Schwarzen in die Filmindustrie würde den Rassismus nur fortsetzen:

In the first place, it would be useless to the cinema in any of its significant or potentially significant aspects, that films as they are today should include films made by Negroes with Negro casts. They would remain at the deprecatory stage (the white man and his burden would see to that) with which we are familiar enough already in American (registered-as-second-class-matter) magazines. Deprecatory, falsifying and base in their concealment ot truth. Incidental charm, talent and a great deal of virility might find their way in, could hardly fail to do so, but real issues would be evaded.

Man kann mit guten Gründen sagen, dass sich an dieser Diagnose bis in die Gegenwart wenig geändert hat. Gerade das macht die Texte aus Nancy Cunards Anthologie auch für die aktuelle Auseinandersetzung so interessant.

Wie ordnen sich Nancy Cunard und NEGRO in die gegenwärtigen Debatten ein?

Das Buch erscheint in ver-rückten Zeiten, nicht nur ein Land, sondern die ganze Welt diskutiert, was aus der BLM-Bewegung zu lernen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Wir sind weit entfernt von den Zeiten einer eher dadaistisch anmutenden Nancy Cunard, die Grenzen überschreitet, provoziert und ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen ist, so dass man durchaus ihr Leben eben auch als Kunstprozess bezeichnen kann. Heute könnte manches, was 1934 noch selbstverständlich war, nicht mehr so publiziert werden, die Empfindlichkeiten sind größer geworden, die identitätspolitischen Forderungen schärfer. Gerade deshalb ist dieser Einblick in die Kultur und die künstlerischen Diskussionen der 30er Jahre so wertvoll. Nicht zuletzt geht es um eingelöste oder eben nicht eingelöste Hoffnungen, manches erscheint progressiver als die Diskussionen in der Gegenwart, unbekümmerter, was das Überschreiten von Grenzen, insbeson­dere sprachliche Grenzen betrifft. Auf der anderen Seite sind all die kommunistischen und auch kritisch-theoretischen Hoffnungen geplatzt, der Kapitalismus hat auch die damaligen Protestbewegungen mit Haut und Haaren geschluckt – gut ablesbar in der Popkultur, in der Kinokultur, aber auch in der Literatur.

Buchempfehlung

Wenn ich Wünsche für spätere Ausgaben hätte, dann vor allem, dass es einmal eine illustrierte Ausgabe im originalen Folio-Format gäbe, die uns Porträts der Autoren zeigt und vielleicht auch einiges an zeitgeschichtlichen Situationen einfängt, die Leser*innen 1934 noch vor Augen hatten.

Alles in allem aber ist Bruckmaiers erste deutschsprachige Auswahl aus Nancy Cunards „Negro“-Anthologie ein außerordentlich empfehlenswertes Buch, um sich eine fast verdrängte Episode aus der Zeit der avantgardistischen Aufbrüche im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen.

Anmerkungen


[1]    „Amerika singe auch ich“. Dichtungen amerikanischer Neger. Zweisprachig. Hg. und Übers. zus. mit Paul Therstappen. Wolfgang Jess, Dresden 1932. Mit Kurzbiographien. Reihe: Der neue Neger. Die Stimme des erwachenden Afro-Amerika. Band 1; Neuausgabe ebd. 1959 [Texte von Langston Hughes, James Weldon Johnson, Jessie Redmon Fauset, Countée Cullen, William Edward Burghardt Du Bois, Jupiter Hammon (1711–1806), Angelina (Weld) Grimké (1880–1958)]

[3]    Ebd.

[4]    Crowder, Henry (Hg.) (1930): Henry - Music. Poems By Nancy Cunard, Richard Aldington, Walter Lowenfels, Samuel Beckett, Harold Acton. Paris: Hours Press.

[5]    In anderen Quellen heißt es, die Bestände seien in Folgen der Kriegseinwirkungen durch die Deutschen vernichtet worden.

[6]    Sweeney, Carole (2005): ‘One of them, but white’: The disappearance of Negro: An anthology (1934). In: Women: A Cultural Review 16 (1), S. 93–107. DOI: 10.1080/09574040500045938.

[8]    Cunard, Nancy; Ford, Hugh D. (Hg.) (1970 (1984)): Negro. An anthology. 3. printing. New York: Frederick Ungar.

[10]   Im Original von 1934 befindet er sich erst im sechsten Abschnitt auf Seite 148, bei der Ausgabe von Ford im Abschnitt „Negro Education and Law“ auf Seite 99.

[12]   So führte etwa Voltaire 1774 in einem Brief an den Baron Constant de Rebecq Wheatley als Gegenbeweis für dessen rassistische Behauptung an, es gebe keine schwarzen Dichter. (wikipedia)

[13]   Ich sehe nicht, wie man das angemessen übersetzen kann. Die Übersetzung, die die wikipedia vorschlägt, empfinde ich als zu affirmativ: „Uns dunkle Rasse sieht man an voll Hohn: / „Die Farbe ist von dämonischem Ton.“ / Bedenket, Christen: Neger, schwarz wie Kain, / einst weiß und hell im Engelszug sich reih’n.“ Bei ihr korrespondieren aber scornful und diabolic und nicht Hohn und Ton.

[15]   Im Original S. 366-377, bei Hugh D. Ford auf S. 234-236, bei Burkmaier S. 174-187.

[16]   Bruce Conforth schreibt in seinem Buch über Gellert, Cunnard habe eine Affäre mit ihm gehabt.

[17]   Conforth, Bruce M. (2013): African American Folksong and American Cultural Politics. The Lawrence Gellert Story. Lanham: Scarecrow Press (American Folk Music and Musicians Series).

[18]   Im Original S. 335-338

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/am706.htm
© Andreas Mertin, 2021