"Baum des Todes und des Lebens"

Ein Blick auf ein Blatt von Bertold Furtmeyr aus dem Salzburger Missale

Andreas Mertin

(Digitalisat des Salzburger Missale 60v, Miniatur: Baum des Todes und des Lebens, Blatt 127)
(Das Blatt in der Digitalen Bibliothek)

Was ist ein Missale?

„… du darfst mich doch nicht dem Irrtum
aussetzen, einen Bischof für den Mufti
und das Missale für den Koran zu halten.“
J.J. Rousseau, Königin Fantasque
[1]

Heute leben wir in Zeiten, in denen uns tatsächlich ein historisches Missale wie ein fremdes Buch aus einer fernen Welt vorkommt. Wir erkennen vielleicht noch die Bildinhalte auf den Pergamentseiten, aber realisieren kaum noch die liturgische Bedeutung, die dem Missale zukommt.

„Ein Messbuch, auch lateinisch Missale oder Missal, ist ein liturgisches Buch der lateinischen Kirche und beschreibt den Ordo missae für die Feier der Eucharistie an Sonn-, Fest- und Werktagen. Das Missale enthält vor allem die Messordnung (lateinisch ordo missae), die Gebete, die vom Priester gesungen oder gesprochen werden: Hochgebete mit Präfationen, Tagesgebet, Gabengebet, Schlussgebet, Gebet über das Volk, sowie die gleichbleibenden Texte des Ordinarium Missae: Kyrie eleison, Gloria, Credo, Sanctus, Vater unser, Agnus Dei. Die jeweiligen liturgischen Handlungen werden in den in roter Schrift stehenden Rubriken … beschrieben. Die zugehörigen biblischen Schriftlesungen erscheinen im Messbuch selbst und/oder in eigenen liturgischen Büchern, den Lektionaren.“ [wikipedia, Art. Messbuch]

Auch diese Beschreibung wirkt, insofern man nicht mit diesem Ritus lebt, wie ein Bericht aus fremden Welten.[2] Zugänglich sind uns die illustrierten Messbücher früherer Zeiten heute in Form von Faksimiles oder Digitalisaten. Aber auch hier könnte man Rousseau zitieren, der schrieb: „Behüte der Himmel alle Prälaten, die Serails haben und das Latein im Brevier für Arabisch halten!“[3] Wenn auch das Latein der historischen Messbücher für uns oft kaum lesbar erscheint, so sind die Bilder doch umso ansprechender.[4] Die Geschichte der großen Messbücher setzt spät ein, sie entstehen aus den Sakramentaren.

„Als ein Hauptwerk der spätromanischen Buchmalerei darf das wahrscheinlich um 1240 in Goslar entstandene Semeka-Missale gelten ... In der 2. Hälfte des 13. Jh.s brachte der bayerisch-österreichische Raum mehrere reich illustrierte Missalien hervor, besonders die Malerschule des Klosters St. Florian in Niederösterreich. In der Spätzeit der Buchmalerei war das Missale ganz allgemein eine dominierende Aufgabe, die noch im 15. und 16. Jh. zu bedeutenden Arbeiten führte, darunter das sogenannte Gänsebuch-Missale der Nürnberger Lorenzkirche …, das Missale Albrechts von Brandenburg in der Aschaffenburger Hofbibliothek … und das … fünfbändige Missale in der Bayerischen Staatsbibliothek …, dessen Hauptmeister Berthold Furtmeyr aus Regensburg war.“[5]

Dieses aus Pergamentblättern bestehende fünfbändige Missale entstand zwischen 1478-1489 und hat ein Blattformat von 38x28 cm. Geprägt wird es durch die Illustrationen des Regensburger Miniaturen-Malers Berthold Furtmeyr.

Der Künstler Berthold Furtmeyr (15. Jh.)

Berthold Furtmeyr war ein Miniaturmaler des 15. Jahrhunderts. Er ist zwischen 1470 und 1501 als Bürger von Regensburg nachweisbar. 1470 findet sich sein Name in der Inschrift eines Alten Testaments, die beiden Bände wurden 1468 von G. Rorer geschrieben und zwischen 1470 und 1472 mit Miniaturen versehen. Furtmeyr steuerte hierbei neben zahlreichen kleinen Deckfarbenbildern auch verschiedene Initialen und das Rankenwerk bei. Verantwortlich war er auch für die Ausmalung des sogenannten fünfbändigen Salzburger Missales, das als Furtmeyrs Hauptwerk gilt. Die Arbeit wurde in den Jahren 1478 bis 1489 durchgeführt und befindet sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. (Wikipedia, Art. Furtmeyr)

Die Quellenlage über Berthold Furtmeyr ist begrenzt. Das Wichtigste hat der für die Erschließung und Annäherung sehr empfehlenswerte, überaus reich ausgestattete Katalog zur Ausstellung 2010 in Regensburg zusammengetragen.[6] Viele Informationen enthält zudem eine Online-Ausstellung der Bavari­kon.[7] Die Urkunden zeigen, dass Furtmeyr schon relativ früh in Regensburg ein größeres Haus besessen hat, also nicht unvermögend war, später erwarb er das Anwesen der Familie seiner Frau von seinem Schwager. Er könnte einen Bruder gehabt haben, der ebenfalls Miniatur-Maler war.[8] Aber auch Schulden sind durch Urkunden dokumentiert. Nach 1501 gibt es keine Nachrichten mehr von ihm, zuletzt wird 1501 ein Neubürger als sein Schwiegersohn benannt.

Bereits vor 1470 signiert Furtmeyr seine Werke namentlich. Kenntlich wird er vor allem durch seine Hauptwerke, den Illustrationen zur Rorer-Bibel und dem Salzburger Missale. Seine Werke entstehen in einer bedeutsamen Übergangszeit der Kunstentwicklung der frühen Neuzeit. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts drängt die – zum Teil nachträglich handkolorierte – Druckgraphik auf den Markt. Die avantgardistischen Künstler des ausgehenden 15. Jahrhunderts werden sich dem Holzschnitt bzw. dem Kupferstich und damit einem größeren Absatzmarkt für Kunst zuwenden. Ein Beispiel für diese neue Entwicklung ist die Schedelsche Weltchronik von 1493, die uns auch einen Blick auf die Stadt Regensburg zur damaligen Zeit ermöglicht.

Hier soll Furtmeyr zunächst in der Malergasse, später in der Wahlengasse ein Haus besessen haben. Beide Straßen gibt es heute noch und sie zeigen, dass Furtmeyr immer direkt im Zentrum beim Dom bzw. dann beim Alten Rathaus gewohnt hat und damit wohl zu den etablierten Regensburgern gehört hat.

Anders als seine Kollegen, die die Möglichkeiten des Massenmarktes erkunden, hat sich Furtmeyr auf eine exklusive Klientel konzentriert, er erstellt individuelle Illustrationen für besonders vermögende Auftraggeber. Ein Beispiel sind zwei Bände mit Illustrationen zu Texten des Alten Testaments, die der Kalligraph Georg Rorer schrieb und Furtmeyr zwischen 1468 und 1472 illustrierte.

 „Auftraggeber des Werks waren der hohe bayerische Beamte Hans III. von Stauff zu Ehrenfels (gestorben 1478) und seine Frau Margarethe Schenk von Geyern. Der Stauffer, seit 1465 Reichsfreiherr, hatte eine hohe Position im Gefolge des bayerischen Herzogs inne.“[9]

Es ist dann aber vor allem das Salzburger Missale, das bis heute Furtmeyrs Ruhm begründet, ausgestattet mit einer überschießenden Fülle ganz unterschiedlicher Miniaturen und Illustrationen. Insgesamt zählt das Werk 680 Pergamentblätter. Zunächst entstand der Band III, dann folgten nach und nach die anderen.

Der dritte Band des Salzburger Missale

Wie das Inhaltsverzeichnis des dritten Bandes des Salzburger Missale anzeigt, werden fünf Messen abgehandelt, im Gesamtduktus aller Bücher des Missale sind es die Messen 10 bis 14:

10 – Pfingsten                   (als Feier seit 130)
11 – Dreifaltigkeit              (als Feier seit 1334)
12 – Fronleichnam             (als Feier seit 1247)
13 – St. Peter und Paul       (als Feier seit 354),
14 – Mariae Himmelfahrt    (als Feier seit 5. Jh.)

Das Große Bild zu Pfingsten zeigt Mose beim Empfang der Gesetzestafeln, das Große Bild zur Trinität die Taufe Jesu, das Große Bild zu Fronleichnam zeigt den Baum des Lebens und des Todes, das Große Bild zu St. Peter und Paul die Berufung von Petrus und Andreas, das Große Bild zu Maria Himmelfahrt zeigt den Marientod. Dazwischen sind jeweils große Bilder von der Kreuzigung Jesu in unterschiedlichen Farbgebungen und Dramaturgien eingeschoben. Es fällt auf, dass von den thematischen Großbildern zwei sich direkt auf das Alte Testament beziehen und das jüdische Gesetz zum Thema haben.

Fronleichnam, um das es im Folgenden geht, ist das Fest im Kirchenjahr, „mit dem die bleibende Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird.“

Der wichtigste Teil des Fronleichnamsfestes ist die heilige Messe, deren liturgische Texte (Gen 14,18–20, 1 Kor 11,23–26 und Lk 9,11–17) sich unmittelbar auf das Mahl mit Jesus und die Einsetzung der Eucharistie und des Priestertums beziehen. Die Festliturgie hat eine Sequenz, nämlich Lauda Sion Salvatorem.[10]

Daran schließt sich dann die Prozession an, die frömmigkeitsgeschichtlich eine große Bedeutung hat und später zwischen den Konfessionen zu vielen Auseinandersetzungen geführt hat, weil den Protestanten der dabei gezeigt Prunk unbiblisch erschien. Martin Luther sagte:

„Ich bin keinem Fest mehr feind … als diesem. Denn es ist das allerschändlichste Fest. An keinem Fest wird Gott und sein Christus mehr gelästert, denn an diesem Tage und sonderlich mit der Prozession. Denn da tut man alle Schmach dem heiligen Sakrament, dass man’s nur zum Schauspiel umträgt und eitel Abgötterei damit treibet. Es streitet mit seiner Schmink und erdicht’en Heiligkeit wider Christi Ordnung und Einsetzung. Denn er es nicht befohlen hat also umherumtragen. Darum hütet euch vor solchem Gottesdienst!“[11]

Strittig war den Protestanten nicht die Eucharistie an sich, sondern der von ihnen empfundene Prunk und Propagandaeffekt der Veranstaltung. Davon kann Berthold Furtmeyr noch nichts wissen, ihm geht es um die Illustration des Blattes zur Fronleichnamsmesse.

"Baum des Todes und des Lebens"

Auf Blatt 60v des dritten Band des Salzburger Missale findet sich das hier zu betrachtende Bild mit dem Baum des Lebens und des Todes. Er ist platziert in einer eher idyllischen Gartenlandschaft und rechts und links von ihm sehen wir eine Gegenüberstellung der 'alten' und der 'neuen' Eva, also der Maria. Die biblische Eva, von der Schlange sowohl verführt wie unterstützt, pflückt und verbreitet durch die Frucht den Tod, Maria bringt dagegen durch die Hostien die Erlösung und das ewige Leben. Der biblische Adam, der zum Sünder gewordene Mensch, sitzt zwischen beiden, er verbirgt sich hinter dem Stamm des Paradiesbaums. In der Baumkrone sehen wir zwei zentrale Symbolisierungen, auf der Seite Marias das Kreuz mit dem eucharistischen Leib Christi, auf der Seite Evas einen Totenschädel. Diese beiden Symbolisierungen konkretisieren sich in den Hostien und in den Früchten des Baumes. Die Hostien, die Maria spendet, verteilen sich als Früchte des Heils über die ganze Baumkrone, ebenso wie die todbringenden Früchte der Verführung. Von diesem Baum kommt nur für den Gläubigen das Heil, für den „unwürdig Empfangenden“ aber das Verderben. Die an der der Fronleichnamssequenz des Thomas von Aquin (1225-1274) orientierten Inschriften auf dem Blatt verdeutlichen dies. Rechts steht beim Tod: "Von hier kommt den Bösen der Tod, den Guten das Leben". Links, hinter Maria, hält ein Engel ein Spruchband mit den Worten: "Siehe, dies ist das Brot der Engel, den Pilgern zur Speise bereitet". Genauer heißt es in der Aquins Lauda Sion Salvatorem:

Sumunt boni, sumunt mali, Sorte tamen inæquali, Vitæ vel interitus.
     Gute kommen, Böse kommen, alle haben ihn genommen, die zum Leben, die zum Tod.
Mors est malis, vita bonis, Vide paris sumptionis Quam sit dispar exitus …
     Bösen wird er Tod und Hölle, Guten ihres Lebens Quelle, wie verschieden wirkt dies Brot!
Ecce panis Angelorum, Factus cibus viatorum, Vere panis filiorum,
Non mittendus canibus!
     Seht das Brot, die Engelspeise! Auf des Lebens Pilgerreise nehmt es nach der Kinder Weise,
     nicht den Hunden werft es hin!

Deutlich wird dabei, dass die Fronleichnamssequenz bei Thomas von Aquin anders akzentuiert ist als die visuelle Umsetzung durch Berthold Furtmeyr für das Salzburger Missale. Bei Thomas von Aquin ist von der biblischen Eva keine Rede, alles zielt auf die Explikation der schwer verständlichen Vorgänge bei der Eucharistie. Und bei Thomas von Aquin bekommen alle – Gute wie Böse – die Hostien gereicht, nur wirken sie bei ihnen unterschiedlich, bei den einen den Tod, bei den anderen das Leben (Mors est malis, vita bonis).

Wie kommen dann aber, wenn es in der Sache doch eigentlich um die Eucharistie geht, Eva und Maria ins Bild? Vom syrischen Jakob von Sarug (451-521), seit 519 Bischof von Batnai, stammt ein „Gedicht über die allerseligste Jungfrau“, welches vielleicht einige der Motive des Bildes von Furtmeyr einsichtig werden lässt.

"Es wandte sich jene böse Zeit, die den Adam getötet hatte, und es kam eine andere gute Zeit, durch welche er wieder aufgerichtet werden sollte. Statt jener Schlange begann jetzt Gabriel die Unterredung, und statt Evas hörte Maria sie an. Statt des Lügners, welcher durch den von ihm angestifteten Trug den Tod einführte, stand der Wahrhaftige da, um durch die von ihm gebrachte Kunde das Leben zu verkündigen; und für die Mutter, welche unter den Bäumen den Schuldbrief unterschrie­ben hatte, trat die Tochter ein, welche die ganze Schuld ihres Vaters Adam einlöste. Die Schlange und Eva sind in den Engel und Maria umgeändert, und die von Anbeginn an verwickelte Sache ist wieder in Ordnung gebracht. Siehe, wie Eva der Schlange geneigtes Ohr leiht und auf die Stimme des Betrügers horcht, der ihr Lügen zulispelt! Komm nun und freue dich darüber, wie der Engel Maria Leben in ihr Ohr gießt, sie von der Umwindung der Schlange befreit und ihr Trost verleiht! Gabriel baute das von der Schlange zerstörte Gebäude wieder auf, und Maria errichtete wieder das von Eva im Paradies eingerissene Haus."[12]

Berthold Furtmeyr versucht nun beides – die klassische Eucharistie wie sie Thema im Salzburger Missale ist und die Gegenüberstellung von Eva und Maria – in einem einzigen Bild zu vereinen. Dazu muss er aber von den Inhalten der traditionellen Fronleichnamssequenz des Thomas von Aquin abweichen, denn dort kommen Eva und Maria natürlich nicht vor. Anknüpfen kann er dabei an die Adam-Christus-Verse in Römer 5:

Wie es durch die Übertretung eines Menschen zur Verurteilung aller Menschen kommt, so kommt es auch durch das gerechte Verhalten eines Menschen zur Gerechtsprechung aller Menschen – Gerechtsprechung, die Leben ermöglicht.

Nun spielt Eva im Neuen Testament kaum eine theologische Rolle (neben 1Tim 2,13f liegt vor allem in 2. Kor. 11, 3 ein direkter Bezug vor: Ich fürchte aber, dass wie die Schlange Eva verführte mit ihrer List, so auch eure Gedanken abgewendet werden von der Einfalt und Lauterkeit gegenüber Christus). Eva gilt so

„als Urbild der verführbaren Frau oder des verführbaren Menschen schlechthin. Nicht selten tragen solche Auslegungen deutlich frauenfeindliche Züge, die dann in der Wirkungsgeschichte noch verstärkt werden.“[13]

Erst später wird in der Theologie „mit der Gegenüberstellung von Eva und Maria ein neues Ideal postuliert: das Rollenmodell der Jungfrau. Als solche könne die Frau dem Manne ‚spirituell gleich werden‘ … So ähnlich wie Christus als der ‚neue Adam‘ gilt, so wird Maria von manchem Ausleger als die ‚neue Eva‘ und damit sozusagen als das Urbild einer Christin verstanden.“[14]

Nach 400 n. Chr. bekommt Maria vor allem im Kontext der christologischen Debatten (wahrer Gott und wahrer Mensch) eine prominentere Funktion im Christentum, weil sie für die menschliche Natur Christi einstand. Aber erst im 15. Jahrhundert spielt Maria in der kirchlichen Frömmigkeit eine so herausragende Rolle, dass fast alle theologischen Topoi an ihr gespiegelt werden, selbst dann, wenn dabei Widersprüche in Kauf genommen werden müssen.

Was den Frauen in der real existierenden Kirche geradezu selbstverständlich verwehrt wurde, wird der als Ecclesia gedeuteten Maria im Bild möglich: Hostien auszuteilen.

Antijudaismus

Auch Furtmeyrs Bild muss auf mögliche antijudaistischen Implikationen untersucht werden.[15] Und dabei rücken zunächst die Adressaten von Eva und Maria in den Blick. Auf der linken Lebens-Seite werden Christen, vorrangig Mönche und Nonnen in Begleitung des Erzengels Gabriel dargestellt, während auf der rechten Todes-Seite prominent Juden und Araber und evtl. Häretiker zu finden sind. Nur die beiden Figuren jeweils im Vordergrund ihrer Gruppen fallen etwas aus der Typisierung heraus, ohne dass ersichtlich wäre, warum, zumal die rechte Figur die gleiche Kleidung wie Maria trägt. Trotzdem wird man davon ausgehen können, dass wir es hier mit prototypischen Gruppenvertretern zu tun haben.

Wenn das so ist, dann ist Maria eben nicht nur als historische Gestalt der Mutter Jesu Christi dargestellt, sondern sie ist darüber hinaus auch als Symbol der Ecclesia aufzufassen, welche (wie der Priester) durch die Messe den Gläubigen bzw. Christen das ewige Leben spendet.

Und analog dazu ist Eva nicht nur als biblische Gestalt aus der Genesis dargestellt, sondern ist auch grundsätzlich als Symbol der Synagoge zu verstehen, welche die Erfüllungsgehilfin des Todes ist und den Nicht-Christus-Gläubigen das ewige Verderben bringt.

Damit ordnet sich die Darstellung umstandslos in die antijudaistische Tradition der Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge ein, wie sie auch überaus dramatisch an einem Detail aus einem lebenden Kreuz von Hans Fries aus dem Jahr 1506 deutlich wird: Auf der einen Seite die christliche Messe – hier dargestellt als Gregorsmesse -, auf der anderen Seite die jüdische Synagoge als abdankende und verworfene jüdische Gemeinde. Und diese klassische Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge kann eben auch auf Maria und Eva übertragen werden.

Und so wird auch aus dem scheinbar ganz harmlosen und ästhetisch schönen Bild des Berthold Furtmeyr angesichts des christlichen Judenhasses in der Geschichte, die sich eben auch in diesem Bild äußert, ein doch sehr problematisches Bild.

Die Gegenüberstellung von Maria und Eva als Prototypen für Ecclesia und Synagoge funktioniert eben nur, indem man die Herabsetzung des Judentums in Kauf nimmt. Fatalerweise ist man fast genötigt zu sagen: diese Art von „Antijudaismus gehört zum Wesen des Christentums. Das christliche Evangelium braucht das jüdische Gesetz als seinen Gegensatz, um überhaupt als Evangelium, als ‚gute Botschaft‘, geglaubt werden zu können“.[16]

Das muss aber nicht das letzte Wort sein. Man muss sich nur von diesen fatalen Gegenüberstellungen verabschieden bzw. sie zumindest problematisieren.

Religionspädagogische Notizen

Religionspädagogisch gehört daher neben der Erschließung der Bildgegenstände auch die von deren Schattenseiten zu den zu leistenden Aufgaben.

Auf diesem Bild gibt es viel zu sehen, die Schüler/innen sollten sich intensiv damit beschäftigen und eine detailgenaue Bildbeschreibung erarbeiten. Wie gesehen, gibt es eine Fülle von (symbolisch aufgeladenen) Einzelheiten, die (etwa mit Hilfe eines Wörterbuchs zur Christlichen Kunst oder eines Symbollexikons) bearbeitet werden können. Die Identifizierung der beiden Hauptfiguren Eva und Maria und die Herausarbeitung der mit dem Bild verbundenen ‚Botschaft‘ dürfte nicht schwerfallen. Zu thematisieren wäre aber auch das Frauenbild, das in der Darstellung zum Tragen kommt, und das die Sünde mit der nackten Frau und das Heil mit der Mutterschaft verbindet. Vor allem aber ist der Antijudaismus des Bildes zu thematisieren, der in der antithetischen Setzung von Gesetz und Evangelium besteht.

Anmerkungen


[1]    Jean-Jacques Rousseau, Königin Fantasque, zit. nach Hammer, Klaus (1969): Französische Feenmärchen des 18. Jahrhunderts. S. 330.

[2]    Man könnte in diesem Sinne eine Beobachtung Theodor W. Adornos aus den Minima Moralia auf die Messe übertragen: „In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfahren; in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die zuvor es sahen. Fällt das einmal fort, so liegt das Werk in seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage. Die Handlung wird aus einem Ritual zur Idiotie, die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungen schal und abgestanden. Es ist wirklich nicht mehr so schön.“

[3]    Jean-Jacques Rousseau, a.a.O.

[4]    Vgl. Walther, Ingo F.; Wolf, Norbert (2005): Meisterwerke der Buchmalerei. Die schönsten Handschriften der Welt von 400 bis 1600. Köln: TASCHEN.

[5]    Olbrich, Harald; Dolgner, Dieter, Faensen, Hubert; Feist, Peter H., Flierl, Bruno; Häusler, Alexander, Junghanns, Kurt; Langer, Alfred; Meißner, Günter et al. (Hg.) (2006): Lexikon der Kunst. 6 Bände. Berlin: Directmedia Publishing (Digitale Bibliothek, 43). KML Bd. 6, S. 471f.

[6]    Wagner, Christoph; Unger, Klemens; Neiser, Wolfgang (Hg.) (2010): Berthold Furtmeyr. Meisterwerke der Buchmalerei und die Regensburger Kunst in Spätgotik und Renaissance (Ausstellungskatalog). Regensburg: Schnell & Steiner.

[8]    König, Eberhard (2010): Berthold Furtmeyr. In: Christoph Wagner, Klemens Unger und Wolfgang Neiser (Hg.): Berthold Furtmeyr. Meisterwerke der Buchmalerei und die Regensburger Kunst in Spätgotik und Renaissance. Regensburg: Schnell & Steiner, S. 31–43.

[11]   Martin Luther: Auslegung von Joh 6. 1530, Kirchenpostille 1521, Tischreden

[12]   Simon Konrad Landersdorfer (Hrsg.): Ausgewählte Schriften der syrischen Dichter Cyrillonas, Isaak von Antiochien und Jakob von Sarug, (BKV 2. Reihe, Band 6), Kempten 1912.

[14]   Ebd.

[15]   Vgl. Mertin, Andreas (2020): Vom Pantokrator zum Schmerzensmann. Nachdenken über die antijudaistischen Folgen eines Paradigmenwechsels. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 22, H. 128. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/128/am715.htm.

[16]   Pangritz, Andreas (2014): Gesetz und Evangelium. Antijudaistische Vorurteile und Projektionen in der (evangelischen) Theologie. In: Fromm Forum (18), S. 119–124.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/am719.htm
© Andreas Mertin, 2021