›Ba‹ heißt acht

Als Gastprofessor in Nanjing / China

Burckhard Dücker

1. Einleitung: Reisen – Erfahrung und Erzählung

Als ich nach elfstündigem Flug aus Frankfurt kommend nach dem Passieren aller Kontrollen – Körpertemperatur, Pass, Ablichtung für die Gesichtserkennung, Abnehmen der Fingerabdrücke – und nach Empfang des vollständigen Gepäcks unter Beobachtung zahlreicher Kameras in die Ankunftshalle des Flughafens Lukou / Nanjing komme, werde ich sofort von mehreren Herren empfangen, die sich dienstfertig als Taxifahrer zu erkennen geben. Trotz dieser Hilfsangebote empfinde ich es als sehr angenehm, dass ich von einer Mitarbeiterin der Universität erwartet werde, die mich – nach einem herzlichen Willkommen in deutscher Sprache – unter ihre Fittiche nimmt und mit mir in einem Auto der Universität mit Chauffeur direkt zum Gästehaus der Universität fährt. Während der ca. 45-minütigen Fahrt gibt sie laufend Informationen über Vieles, das vom Auto aus zu sehen ist. Bei der Einfahrt in die Stadt fallen die zu überlebensgroßen Tierfiguren – z.B. Pandabären, Pfauen – gestutzten Sträucher besonders auf. Auf dem Campus geht es zunächst zur Verwaltung, um die Anmeldeformalitäten einschließlich erneuter Passkontrolle und Gesichtserkennung zu absolvieren, bevor ich dann tatsächlich meine Wohnung im internationalen Gästehaus beziehen kann. Dessen äußeres Erscheinungsbild entspricht – verglichen mit anderen Einrichtungen auf dem Campus und mit Gästehäusern anderer, vor allem auch chinesischer, Universitäten, die ich im Laufe meines Aufenthalts kennenlernen sollte – nicht dem üblichen Bild und auch nicht meinen Erwartungen, es wirkt wie eine renovierungsbedürftige Immobilie. Später lerne ich, dass es offenbar nur eine Frage der Zeit ist, bis solche Gebäude auf dem Campus – wie zwei Studierendenwohnheime – supermodern, geradezu als Schmuckstück, renoviert werden. Erwartungen, das zeigt sich gleich bei dieser ersten Begegnung, sind fragile und unprofessionelle Fundamente für Kommunikationen.

Freundlicherweise lädt mich meine Kollegin, die ich schon von ihrem Besuch in Heidelberg kenne, gleich am Abend des Ankunftstages zu einer auch in Deutschland bekannten chinesischen Spezialität, der Peking-Ente – zu unterscheiden von der anders zubereiteten und servierten Nanjing-Ente –, in ein für dieses Gericht besonders renommiertes Restaurant ein, das sich glücklicherweise gegenüber dem Campus befindet, was sich als günstig für den Rückweg erweist. Da alle Tische im Restaurant besetzt sind und daher eine gewisse Wartezeit zu überbrücken ist, machen wir einen kleinen Gang durchs Quartier, wobei ich eine Straßenhändlerin entdecke, die direkt vor dem Eingang jener U-Bahnstation, die sich als ›meine‹ herausstellen sollte, frisch geröstete, sehr heiße Süßkartoffeln anbietet. So komme ich – gleichsam als Vorspeise zur Peking-Ente – zum Genuss der ersten Süßkartoffel meines Lebens, denn ich kann natürlich dieser Köstlichkeit in der chinesischen Atmosphäre des ersten Eindrucks nicht widerstehen, obwohl meine Kollegin mich besorgt daraufhin weist, dass wir doch auf dem Weg zum Essen seien. Obwohl ich in Deutschland natürlich schon längst Süßkartoffeln hätte essen können, bin ich nun geradezu erfreut, dies noch nicht getan und mir diese erste nahrhafte Erfahrung mit dieser Frucht für Nanjing offen gehalten zu haben. Übrigens hat die scheinbar alltägliche Geschäftsbegegnung mit dieser Händlerin ungeahnte, angenehme Folgen für mich. Denn zwischen ihr und mir entwickelt sich nach diesem Kauf meiner ersten Süßkartoffel eine Grußbekanntschaft, die jedes Mal praktiziert wird, wenn ich auf dem Weg zur U-Bahn bei ihrem Stand vorbeikomme. Auch kaufe ich mir hin und wieder mein Abendessen bei ihr, was unsere Bekanntschaft intensiviert. Selbst nach meinen diversen mehrtägigen Abwesenheiten wegen Reisen zu Vorträgen und Tagungen in andere Städte begrüßen wir uns wie alte Bekannte, die ihre Beziehung immer wieder auffrischen, so dass es sich für mich wie ein Heimkehren anfühlt. Kurioserweise datiert von der Begegnung mit der Händlerin auch mein erstes chinesisches Wort, nämlich ›ba‹, das auf deutsch ›acht‹ bedeutet, hatte ich doch ›ba‹ Yuan für die Süßkartoffel zu bezahlen. Dabei lerne ich gleich am ersten Tag, dass Zählen mit und an den Fingern in China ganz anders geht als in Deutschland. Dieses spontane, dazu erfolgreiche Lernen durch Praxis (learning by doing) hat mir – so glaube ich – eine von Anfang an grundsätzlich positive Einstellung gegenüber allen für mich neuen, auf den ersten Blick womöglich problematischen Situationen vermittelt, weil ich diese durch Kommunikation mit den jeweiligen chinesischen Partnern immer als grundsätzlich übersetzbar in gemeinsame, sozial verbindende Situationen erfahren habe. In Nanjing erklärt mir ein Parkwächter den Weg zum Stadttor, indem ich ihm das chinesische Zeichen zeige und er mir dann pantomimisch mit viel Geschick den Zugang über Treppen und Straßenkreuzungen so präzise vorspielt, dass ich ohne Umwege ans Ziel gelange. So erging es mir in Suzhou, wo es zwei Fernbahnhöfe gibt und ich die chinesisch geschriebenen Namen nicht lesen konnte. Ich stellte mich überlegend in die Waggontür, so dass der Zug nicht starten konnte, bis unverzüglich ein Bahnbeamter kam. Ihm zeigte ich meine Fahrkarte und er wies mich freundlich daraufhin, dass ich zur nächsten Station fahren müsse. Ähnlich war es, als ich in Hangzhou auf dem Bahnhof ankam und unter den Hunderten der Anwesenden auch nach intensivem Suchen nicht den Kollegen entdecken konnte, der mich abholen sollte. Just in dem Augenblick, als ich zum Telefon griff, um ihn vielleicht zu erreichen, klingelte mein Handy und er fragte, wo ich sei. Es stellte sich heraus, dass wir uns an unterschiedlichen Bahnsteigausgängen platziert hatten. Der folgende Spaziergang um den Westsee begründet dann eine dauerhafte Zusammenarbeit. Jedes Mal wenn ich zum Vortrag an eine andere Universität eingeladen worden bin, werde ich in der Regel von zwei Studierenden vom Bahnhof oder Flugplatz abgeholt und für die Dauer des Aufenthalts betreut. Auf diese Weise entstehen für mich keine Orientierungs- und Sprachprobleme, die beiden führen mich zu den Sehenswürdigkeiten des Campus und der Stadt und wir erhalten die Gelegenheit, uns ungestört über beliebige Themen zu unterhalten.

Auf gleichsam natürliche Weise haben Reisen im Allgemeinen nicht nur die Struktur von Übergangsritualen, sondern auch von Erzählungen. Ablesbar sind Selbstverständlichkeit und Popularität der Zusammengehörigkeit von Reisen und Erzählen an den zur Redensart gewordenen Zeilen aus Matthias Claudius' (1740-1815) Gedicht Urians Reise um die Welt: »Wenn jemand eine Reise tut,/ so kann er was verzählen«, das im Voßischen Musenalmanach für das Jahr 1786 erstmals erschienen ist.[1] Man bricht von zu Hause auf, lässt den gewöhnlichen Lebensalltag dort für eine gewisse, zumeist sogar bestimmte, Zeit hinter sich, um am Zielort je nach Reisetyp Erholung zu finden, zu arbeiten, eine neue Kultur kennenzulernen, Verwandte oder Freunde zu besuchen, auf jeden Fall aber, und das haben wohl alle Reiseformate gemeinsam, um in der neuen Umgebung neue Erfahrungen zu machen. Wenn man dann die Rückreise antritt, kommt man in aller Regel als ein Veränderter zurück, bereichert durch Erfahrungen, Kontakte, Kenntnisse, man ist nicht mehr der, der man bei der Abreise gewesen ist. So gibt die Reise mit ihrer einfachen Struktur von Aufbruch, Unterwegssein und Rückkehr das narrative Grundschema von Anfang der Handlung, darin immer schon angelegten bestimmten Entwicklungsmöglichkeiten bis zum notwendig daraus folgenden Schluss vor. Indem die Erzählung dieses geschlossene Schema abbildet, bietet sie eine narrative Sinnkonstitution. Auch die Vorgeschichte und die reflexive Selbstverständigung über Eindrücke des Neuen oder Ungewohnten gehören natürlich dazu.

In der heutigen Zeit ist es durchaus nichts Außergewöhnliches, als Dozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an einer ausländischen Universität zu lehren und zu forschen. Ich erhielt eine entsprechende Einladung der Deutschen Abteilung der Universität Nanjing für das Wintersemester 2019/2020. Nach Überlegung mit meiner Frau habe ich diese Gelegenheit, einen wie auch immer begrenzten Eindruck von einem anderen Land zu gewinnen, gern angenommen. Meine Frau wird dann zu Weihnachten nach Nanjing kommen und mit mir im Januar zurückfliegen. Im Folgenden erzähle ich von Erfahrungen, Begegnungen und Eindrücken während meines Aufenthalts als Gastprofessor an der Deutschen Abteilung der Universität Nanjing. Nanjing hat ca. 8 Millionen Einwohner und gilt für chinesische Verhältnisse allenfalls als mittelgroße Stadt, es ist die Hauptstadt der südostchinesischen Provinz Jiangsu, in der Stadt gibt es ca. 40 Universitäten mit je fachspezifischer Ausrichtung. Bis zu unserer Abreise im Januar 2020 ist Corona kein Thema.

2. Leben auf dem Campus

Für mich sind Wohn- und Arbeitsbereich räumlich weit voneinander getrennt. Meine Wohnung befindet sich in der zweiten Etage – nach chinesischer Zählung der dritten Etage, weil das Erdgeschoss immer mitgezählt wird – des Gästehauses der 1902 gegründeten Nanjing University auf dem innerstädtischen, zentral gelegenen, aus der Gründungszeit stammenden Campus Gulou. Dort liegt das Gebäude in einer ›Ecke‹, die an zwei Seiten an außeruniversitäre Bereiche grenzt. Was mir gleich auffällt, dass es keine Briefkästen gibt, wird später durch die Information bestätigt, dass die Briefpost eigentlich keine Rolle mehr spielt, weil sie durch Formen elektronischer Kommunikation ersetzt worden ist, die immer und überall, auch in der Öffentlichkeit, möglich sind. Meine drei Zimmer sind so angeordnet, dass sie mir die Aussicht auf die beiden Szenen des außeruniversitären, städtischen Lebens erlauben. Zur Wohnung gehört ein rundum verglaster Balkon mit Schiebefenstern, auf dem ich meine Wäsche aufhängen kann. Im Schlafzimmer hängt gegenüber dem Bett ein Fernsehapparat (nur chinesische Programme) an der Wand. In jedem Zimmer liegt eine Fernbedienung für die Klimaanlage bereit, die auch sehr notwendig ist, erreicht das Thermometer doch bis in den Herbst deutlich über 30°, im Winter dagegen kann es empfindlich kalt werden. In der Wohnküche stehen mir eine Waschmaschine, eine Kombination aus Kühl- und Gefrierschrank, eine Schnellkochplatte, diverse Schränke zur Aufbewahrung von Vorräten sowie ein Esstisch mit zwei Stühlen zur Verfügung. Für Ausflüge in den chinesischen kulinarischen Kosmos ist technisch also gesorgt. Allerdings gibt es keine Geschirre, Gläser, Stäbchen, Bestecke und Geschirrtücher. Daher hat mich meine Kollegin mit einer Grundausrüstung ausgestattet. Im Laufe meines Aufenthalts kaufe ich mir einige Teller und Schüsseln wegen des klassischen chinesischen Designs. Wegen diverser Zusätze sollte das Leitungswasser nicht getrunken, zum Zähneputzen aber durchaus benutzt werden; daher kaufe ich wie alle anderen für den Trinkwassergebrauch Kanister mit Quellwasser aus Gebirgsregionen Chinas. Auch bekannte Tafelwässer aus Frankreich und Italien werden überall in Supermärkten angeboten.

Für meine Lehr- und Forschungstätigkeit habe ich eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn zum Xianlin-Campus an der Peripherie der Stadt zu fahren, der seit 2009 in Betrieb und seit 2012 der Hauptcampus ist. Hier befinden sich die Institute, die Verwaltung, die Universitätsbibliothek, zentrale Veranstaltungsgebäude wie Aula und Theater, das große Universitätshotel mit Restaurant, mehrere Cafés und Bistros, Sportanlagen sowie bedeutende Grün- und Erweiterungsflächen. Auch eine mit Automaten ausgestattete Bankfiliale gibt es hier.

Vom Fenster meines Schlafzimmers sehe ich auf das am 31. Oktober 2006 als Gedenkstätte eingerichtete John Rabe-Haus (The John Rabe and International Safety Zone Memorial Hall and the John Rabe International Research and Exchange Center for Peace and Reconciliation), das zur Straße hin von einer Mauer umgeben ist, die keinen Einblick für Passanten zulässt. Innerhalb dieser Anlage befindet sich ein Memorialgarten, der das frei stehende Haus umgibt und durch Blumenrabatten und dekorative Sträucher geschmückt sowie mit Informationstafeln und Fotos ausgestattet ist. Erinnert wird hier an John Rabe (1882-1950), den deutschen Repräsentanten von Siemens, der 1937/1938 zur Zeit der Besetzung Nanjings – Hauptstadt der Republik China von 1927-1937 – durch die japanische Armee am 13. Dezember 1937 während des japanisch-chinesischen Krieges (1937-1945) ca. 250 000 chinesische Zivilisten vor Folter, Vergewaltigung und Ermordung durch Beherbergung auf dem Firmengelände und in einer von ihm und anderen Ausländern eingerichteten Sicherheitszone gerettet hat. Bedingung für die Legitimität dieser Zone war, dass sie nicht zum Rückzugs- und Sammlungsort für chinesische Soldaten werden durfte. Im engen Bezirk von Haus und Garten nahm Rabe ca. 600 Personen auf, die humanitärer und medizinischer Hilfe besonders bedürftig waren wie Kinder, Kranke, Verletzte und Schwangere. Weil Rabe Mitglied der NSDAP war, hatte sein Protest – vor dem Hintergrund des Bündnisses zwischen Deutschland und Japan – gegen die Übergriffe und Unmenschlichkeiten der japanischen Soldaten bei deren Vorgesetzten tendenziell Erfolg. Zur Information der japanischen Piloten hatte er im Garten ein 18qm großes Tuch mit Hakenkreuz ausgelegt. Heute bewegen sich täglich einzelne Besucher oder kleine Besuchergruppen des Rabe-Hauses gemessen, ergriffen und zumeist schweigsam im Garten. Nicht nur wegen der Nähe der Gedenkstätte bleiben John Rabe und sein Eingreifen zugunsten der chinesischen Bürger und Bürgerinnen für mich während meines Aufenthaltes aktuell.

Vom Fenster meiner Wohnküche aus habe ich den Blick auf ein Unternehmen, das Handel mit Gaspatronen betreibt, die von den unzähligen Straßenhändlern, Garküchen, Maronen- und Süßkartoffelröstern sowohl für ihre z.T. improvisiert wirkenden Kochvorrichtungen als auch für ihre modernen Herde gebraucht werden. Für mich ist das Treiben auf dem Betriebsgelände immer wieder eine willkommene Quelle von Unterhaltung und Abwechslung während des Kochens, wobei ich mit der Zeit bestimmte Personen unterscheiden kann. Volle und leere Gaspatronen werden während des ganzen Tages gebracht und geholt, in großen Mengen vom einzigen firmeneigenen Lkw, in kleinen Mengen bis sechs oder sieben Stück auf Lastmotorrädern oder auch einzeln von Individualkunden. Besonders interessant zu sehen ist die Art, wie die großen Patronen auf und an einem Motorrad sicher verstaut werden. Jedesmal wenn eine oder viele Patronen den Hof des Unternehmens verlassen, erfolgt eine Auftragskontrolle: ein Computerausdruck wohl mit Daten von Auftraggebern und Registernummern der Behälter wird mit deren Markierungen verglichen, dann aufgeklebt, danach wird der ordnungsgemäße Verschluss – Originalverpackung – mit digitaler Kamera fotografiert. Immer wieder wird derselbe Pkw offenbar von einem Mitarbeiter so auf dem Firmengelände geparkt, dass der Lkw Rangierprobleme hat, um möglichst günstig für die Ent- bzw. Beladung an der Rampe zu stehen. Warum parkt der Pkw nicht anders, Platz ist genug da, aber immer genau diese gleiche Ordnung. Auf dem Firmengelände herrscht fast den ganzen Tag über bis weit in den Abend hinein (Arbeitszeit, wieviel Stunden-Tag?) ununterbrochene Betriebsamkeit mit Gesprächen, Rufen, Motorengeräuschen, Knallen und Scharren von Metall auf dem Steinboden. Vor meinem Fenster steht auf der Grenze von Betriebsgelände und Straße ein abgebrochener Betonstrommast; im Baum daneben hängt ein Metallstock mit mehreren Buchsen, die Leitungsverbindungen halten, die über den Betonmasten als Leitungsträger geführt werden. Offenbar wohnt der Besitzer mit Frau und Tochter in einem der eingeschossigen, schuppenartigen Gebäude auf dem Betriebsgelände, sonntags spielt das Kind auf dem Hof. Während in Supermärkten, Geschäften, auf Baustellen an sieben Tagen in der Woche gearbeitet wird, können sich Mitarbeiter im öffentlichen Dienst und in Verwaltungen auf ein arbeitsfreies Wochenende freuen. Aber auch der selbständige Unternehmer gönnt sich und seiner Familie das Wochenende.

Von meiner Wohnung kann ich nicht nur die geschäftsbezogene Dynamik der ökonomisch produktiven Gegenwart und das kulturelle und politische Gedenken als Aufgabe der gleichen Gegenwart sehen, sondern von meinem Arbeitszimmer aus entgeht mir auch nicht der bis spät in die Nacht unentwegt lebhafte Straßenverkehr. Die kleine Welt, die ich von meiner Wohnung aus sehen kann, scheint mir die große Welt Chinas verdichtet zu repräsentieren, denn so wie hier bestimmt in vielen Quartieren das unmittelbare Nebeneinander der verschiedenen Segmente des Alltags die Lebenswelt. Die eine Seite kann nicht ohne die andere sein. Während zum Panorama des Rabe-Hauses ein Ausschnitt der vor diesem Haus verlaufenden Hauptstraße mit starkem Verkehr, Passantenströmen und vielstöckigen Geschäfts- und Wohnhäusern (32 und mehr Etagen) in je individueller moderner Architektur gehört, schließen sich an das Gaspatronenunternehmen mehrere im Bau befindliche Wohn- und Geschäftstürme an, deren Arbeiter z.T. mit Familie auf der Baustelle in aus Containern errichteten Häusern bis zur Fertigstellung der Gebäude wohnen (Wanderarbeiter?), d.h. für sie verschmelzen Leben und Arbeiten zu einer räumlichen Einheit. Frauen hängen Wäsche auf, Männer tragen Abfälle zum zentralen Müllcontainer.

Im Gästehaus wohnen jeweils für begrenzte Zeit Wissenschaftler und andere Gäste der Universität aus verschiedenen Ländern. Auf meiner Etage sind es eine chinesisch-französische Familie und eine Familie aus Spanien. Mit dem französischen Kollegen kommt es immer wieder zu Gesprächen, nicht nur, weil ich seine Sprache spreche, sondern auch, weil wir gemeinsam einen Chinesischkurs für Gastwissenschaftler besuchen. Das ist für alle zwölf angemeldeten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, von denen in jeder Sitzung meistens eine oder mehrere Personen fehlen, eine sehr ungewohnte Erfahrung, sind wir doch hier in der Situation unserer Studierenden. Unsere sehr verständnisvolle, sehr junge Lehrerin, macht ihre Sache ausgezeichnet, indem sie zwar jeden und jede regelmäßig zu Antworten aufruft, aber sich doch erst versichert, dass der oder die Betreffende auch zur Antwort bereit ist. Aber schon bald spielt es keine Rolle mehr, ob Fehler unterlaufen oder ob ein Problem noch einmal erklärt werden soll. Hat jemand etwas nicht verstanden, wird gefragt, niemand fühlt sich deswegen geniert, alle sind froh, dass der Sachverhalt noch einmal erklärt wird. Unterrichtssprache ist Englisch. Wir alle entwickeln ein anderes Verhältnis zur eigenen Sprache und Kultur, sind wir doch in der Minderheit, die Mehrheit spricht und denkt anders, wir alle sprechen zwar Englisch – für die meisten von uns auch nicht die Muttersprache – und elementare Sätze des Chinesischen, aber jede und jeder macht, was er und sie seit vielen Jahren nicht mehr gemacht und erfahren hat, eine neue Sprache lernen mit Vokabeln, einfachen Sätzen, ungewohnter Schrift und als Folge eine gehörige Unbeholfenheit, sich auszudrücken. Jedes Wort hat sein eigenes Zeichen. Wir fragen uns, wie man sich ein mittleres Vokabular von mehreren Tausend Zeichen dauerhaft zum korrekten Gebrauch aneignen kann. Im Laufe meines Aufenthalts erfahre ich, dass es durchaus nicht selten vorkommt, dass durch den ständigen Gebrauch des Computers in der Tat die Fähigkeit des handschriftlichen Schreibens leidet und man erst nachschauen muss, wie ein Zeichen ›aussieht‹. Ein positiver Nebeneffekt dieses Kurses ist der Kontakt, den wir Lernenden untereinander bekommen; zwar gehören wir verschiedenen Fakultäten an, dennoch begegnen wir uns aber auf dem Campus, in der Mensa oder aus besonderen Anlässen immer wieder einmal. Trotz des entspannten Klimas im Kurs ziehen es einige Teilnehmer vor, an der Abschlussprüfung in chinesischer Sprache mit externen Prüferinnen nicht teilzunehmen.

Für zwei Monate gehört auch ein deutscher Lyriker zu meinen Nachbarn im Gästehaus, der im Rahmen eines Stipendienprogramms des Goethe-Instituts an der Universität Kurse über zeitgenössische Lyrik und literarisches Schreiben gibt. Bei gemeinsamen Mahlzeiten in der Mensa oder Spaziergängen im Stadtviertel oder zu Tempelanlagen und Parks kommt es immer wieder zu Diskussionen über Lyrik, zeitgenössische und historische, über die deutsche Literaturszene, die Vergabe von Literaturpreisen und die Situation kleiner Verlage. Mein Nachbar hat eine sehr dezidierte Meinung von aktueller Lyrik und einigen Kollegen und Kolleginnen, wobei er sich selbst mit seiner poetischen Praxis eher am Rande sieht. Sichtlich belebt ihn seine öffentliche Veranstaltung als Mischung aus Lesung und Interview.

Dreimal in der Woche – montags, mittwochs, freitags – kommen zwei Putzfrauen für 5 Minuten in meine Wohnung, um die Böden und das Badezimmer zu putzen sowie Mülleimer und Papierkorb zu leeren. Jedesmal sind sie in lebhaftestem Gespräch miteinander, so den ganzen Tag, vor 9 Uhr fegen sie den Vorplatz des Hauses, reinigen den Eingangsbereich und das Treppenhaus immer in intensivem Gespräch. Ab 9 Uhr widmen sie sich den Wohnungen des Gästehauses. Meine sprachlichen Fortschritte durch den Chinesischkurs motivieren mich, meine Kenntnisse anzuwenden, indem ich sie chinesisch begrüße und ihnen einfache Fragen stelle. So entwickelt sich mit beiden im Laufe der Zeit eine geradezu ritualisierte Gesprächssituation, in der sie bereitwillig die Rolle der Lehrerinnen übernehmen und mitunter sogar bereit sind, ihren Besuch bei mir um einige Minuten zu verlängern.

Am Sonntagabend habe ich eine böse Überraschung erlebt, denn ich habe meine Wohnungstür zugemacht und den Schlüssel innen im Schloss stecken lassen, mich also selbst aus der eigenen Wohnung ausgeschlossen. Meine Hilfesuche führt mich zur Verwaltung, dort begrüßt mich – am Sonntagabend – eine sehr hilfsbereite Mitarbeiterin. Ich erkläre ihr mein Problem auf englisch, sie ruft jemanden an, der in 10 Minuten mit dem großen Schlüsselbund kommen soll, das Warten erleichtert oder verkürzt sie mir mit einem Becher Tee in der Lounge der Verwaltung. Dann mit dem inzwischen eingetroffenen Helfer und seinem Schlüsselbund zurück zur Wohnung voller Hoffnung, leider gelingt es dem Techniker trotz vieler Versuche nicht, die Tür zu öffnen. Er ruft eine junge Frau zur weiteren Unterstützung herbei, über deren Funktion ich nicht informiert werde. Irgendwann gelingt es ihr jedenfalls, die Tür aufzuschließen. Ich bin sehr erleichtert, hatte schon alle möglichen Probleme gesehen, weil ich am nächsten Tag nach Shanghai zum Vortrag fahren will. Ich tröste mich damit, dass mir dieses Missgeschick noch nie passiert ist und auch nicht wieder vorkommen muss. Dann bedanke ich mich bei den beiden guten Geistern, ok, kein Problem für sie, kann vorkommen. Sie seien gekommen, weil ich ein Problem hatte und weil es ihre Aufgabe sei, solche Schwierigkeiten zu beheben. Damit ist mein Schlüsselproblem völlig unkompliziert, unbürokratisch, unaufwändig und für mich kostenlos gelöst. Kurzer Gedanke, wie ein gleicher Vorfall in Deutschland am Sonntagabend gelöst worden wäre. Schlüsseldienst, lange Wartezeit, sehr teuer am Sonntagabend, hier aber alles kein Problem.

Ein anderes Problem, das nicht nur mich, sondern einen Teil des Campus betrifft, ist ein Stromausfall. Folgen sind kein Licht, keine Klimaanlage, kein Nachladen des Handyakkus und Laptops, kein Tee. Da ich aus irgendwelchen Gründen den Eindruck habe, dass der Vorfall noch nicht aktenkundig ›gemeldet‹ sei, und, falls er wegen technischer Wartungsarbeit erfolgt, mich nach der Dauer des ›Abgeschaltetseins‹ erkundigen will, gehe ich zum International Conference Center, wo drei oder vier Mitarbeiterinnen am Tresen stehen, alle sehr freundlich, von denen aber keine Englisch spricht. Leider reichen meine Chinesischkenntnisse noch nicht zur Erklärung. – Vor allem in Verwaltungen, Läden, auf Parkplätzen fallen mir immer wieder Mehrfachbesetzungen auf, die vom Stellenprofil scheinbar, nach meinem Eindruck, nicht begründet sind. – Nach ca. drei Stunden ist der Strom wieder da, große Erleichterung! Im Treppenhaus des Gästehauses ist nun ein Aushang angebracht, der in englischer Sprache darüber informiert, dass die Elektrizität wegen Wartungsarbeiten für einige Stunden abgeschaltet werde.

Mein Wohn- und Arbeitscampus wie jeder andere, den ich bei meinen Reisen zu Vorträgen und Tagungen in verschiedenen Regionen Chinas kennenlernen durfte, sind durch Mauern oder Metallzäune von den umgebenden städtischen Strukturen abgegrenzt. So erscheint ein Campus markiert als tendenziell geschlossener Raum, wie eine Insel im städtischen Alltag mit speziellen Erfahrungsmöglichkeiten und entsprechenden Erzählungen, d.h. privilegiert mit einer je eigenen Geschichte aus Anspruch, Verpflichtung und Erwartung. Das Leben auf dem Campus ist ruhiger, scheint auch gegenüber dem Leben draußen deutlich entschleunigt, junge Leute schlendern auf den Wegen, diskutieren miteinander, sitzen auf Bänken oder treiben Sport. Zu jedem Campus, den ich kennengelernt habe, gehören – in aller Regel – große Parkanlagen, Teiche, Wasserbecken, Rasen- oder Grünflächen, mitunter Fließgewässer, großzügige Architektur, Denkmäler, Statuen, wenig motorisierter Verkehr. – Auf dem Campus der Fudan-Universität in Shanghai macht man mich auf eine Besonderheit der zentralen Mao-Statue aufmerksam: Bei dieser Statue sind Arme und Hände wie bei einem Denker auf den Rücken gelegt, während die Mao-Statuen üblicherweise mit ausgestrecktem rechtem Arm und Zeigefinger dem richtungweisenden Politiker entsprechend nach vorn in die Zukunft zeigen. – Gleichwohl stellt ein Campus keinen Heterotop im Foucaultschen Sinne dar, sondern ist wie überall auf der Welt durch institutionelle Vorgaben, kulturelle Traditionen und Gewohnheiten von außen geprägt. Es gibt jeweils mehrere durch Schranken und Metalltore gesicherte Zugänge und Einfahrten, die den Austausch mit der Umgebung herstellen. An manchen Ein- und Ausgängen des Campus wird die Zugangsberechtigung jeder Person durch Vorlage der Unikarte, automatische Gesichtserkennung oder eine andere Legitimation geprüft. Allerdings gibt es auch Ein- und Ausgänge, die von jeder Person ohne Kontrolle passiert werden können, das System hat sich mir nicht erschlossen. Denn ein Campus ist keineswegs für die allgemeine Bevölkerung gesperrt, gerade ältere Menschen und Familien mit Kindern sind auf den Grünflächen anzutreffen. Im Erdgeschoss jedes Gebäudes befindet sich ein Mitarbeiter – vergleichbar einem Portier oder Concierge –, der für Auskünfte, Hilfestellungen, Ordnung und telefonische Kontaktvermittlung zur Verfügung steht und den Zugang registriert.

Häufig gehe ich auf meinem Campus spazieren, betrachte die Gedenksteine zur Geschichte der Universität, die 1902 gegründet, dann mit anderen Universitäten verbunden wurde und seit 1952 den Namen ›Nanjing University‹ trägt. Steinerne und architektonische Zeugnisse der Universitätsgeschichte und andere Monumente, auch Objekte moderner Kunst finden sich in der Regel auf jedem Campus. Gern setze ich mich zum Lesen auf eine Bank, bevorzugt auf eine um eine Baumgruppe gebaute Rundbank. Am Samstagnachmittag ist offenbar Spiel- und Beschäftigungszeit für Kinder, die unter Aufsicht der Eltern und Großeltern oder auch mit diesen auf den Rasenflächen toben. In der alten Aula auf dem Campus, einem ehemaligen Theater, wird eine Peking-Oper von Studierenden aufgeführt, was mich wegen der besonderen Tonfolgen, Vortragsart, Instrumente, der charakteristischen bunten Kostüme und Masken der typischen Figuren, ihrer symbolsprachlichen Mimik und Gestik und nicht zuletzt des Engagements der Beteiligten sehr beeindruckt und geradezu in eine andere Welt versetzt. Im Publikum sind – wie bei studentischen Aufführungen in Deutschland – Eltern, Dozenten und viele Kommilitoninnen und Kommilitonen. Die Aula besticht durch ihre gemalte Kassettendecke und viel Holz an den Wänden, als Kulisse dienen lange Stoffbahnen mit floralem Motiv (Pfingstrosen). Meine Eintrittskarte verdanke ich Kollegen, denen gegenüber ich mein besonderes Interesse bekundet hatte; denn im Rahmen meines Besuchs an der Universität Suzhou hatte ich das Museum für die Geschichte der Kun-Oper (auch Kunqu, älter als die Peking-Oper) besucht und im Museum erhielt ich von der mich begleitenden Studentin, deren Hobby die Gesangspraxis der Kun-Oper ist, eine Kostprobe ihres Könnens, die dann auch Museumswärter und andere Museumsbesucher voller Bewunderung anzog. Insgesamt engagieren sich die Studierenden für zahlreiche kulturelle Aktivitäten wie Chöre, Orchester, Pflege traditioneller chinesischer Musik auf historischen Instrumenten, Traditionspflege von Kun- und Peking-Oper, Spezialgruppen für einzelne Instrumente wie Celli oder Schlagzeug, Theatergruppen usw.

Zur Ausstattung jedes Campus' gehören neben den Funktionsgebäuden für Lehre und Forschung, neben Sporteinrichtungen und Wohnheimen für die Studierenden auch ein im Angebot überschaubarer Supermarkt, zumeist mehrere Mensen und Cafés, ein für Theater- oder Filmvorführungen geeigneter Raum und mitunter auch ein Badehaus für Studierende, da in älteren Wohnheimen mit Mehrbettzimmern (zumeist vier Betten, für Examenskandidaten und -kandidatinnen sowie für Doktoranden und Doktorandinnen zwei Betten) nicht immer genügend Duschen zur Verfügung stehen.

Zum Angebot des Supermarkts gehören einfache Dauerbackwaren, Süßigkeiten, Konserven, Fertiggerichte, Trinkwasser in Kanistern und Flaschen, einige Obstsorten, wenig Gemüse, Getränke, Joghurt, Eis, aber auch Hygieneartikel, Textilien wie Hand- und Geschirrtücher, Standardgläser, einfache Geschirre und Schreibwaren. Man kann dort auch die Unikarte aufladen, mit der man das Mensaessen, Kopien und andere Angebote im Campus bezahlt. Saisonal gibt es Mondkuchen zu kaufen, die sehr kalorienreiche Spezialität zum chinesischen Mondfest, das sich als Familienfest hoher Bedeutung erfreut. Von der Universitätsverwaltung erhalte ich – wie andere Gastwissenschaftler – eine Packung mit einzeln verpackten Mondkuchen als Geschenk. Dazu haben mir einige Kollegen und Kolleginnen Zweierpackungen von Mondkuchen ihrer Herkunftsregion geschenkt. Es sind runde, unterschiedlich – je nach Region – mit einer Marzipanmasse, einem Eidotter, Schokolade, geriebenem Lotussamen und anderen Zutaten gefüllte und mit Eigelb bestrichene Kuchenteilchen, ca. 4 cm hoch und 8 cm im Durchmesser, die Füllung kann eher süß oder salzig sein, die Oberfläche ist in der Regel verziert mit Glückszeichen oder anderen positiven Symbolen. Als Beilage zum Tee haben mir die Mondkuchen für mehrere Wochen gereicht. Um das an dieser Stelle einzufügen, so gibt es über die Stadt verteilt Supermärkte mit umfassenden Angeboten an Lebensmitteln und Getränken jeder Art, an Obst und Gemüse, Fleisch und – z.T. lebenden – Fischen und Meeresfrüchten, Kleidung, Schuhen, Elektrogeräten, Baumarktobjekten, Schreibwaren usw. Importierte Waren (z.B. Käse, Wurst, Wein, Bier, Maschinen) aus Europa, Australien, Japan, den USA gehören auch dazu. Beim Obst und Gemüse, den Nüssen und Fischen wirken zahlreiche Angebote exotisch, ich kenne sie nicht und kann leider auch die Beschriftung nicht lesen. Beeindruckend ist die Angebotsform gängiger Reissorten in großen, holzgefertigten Behältern in Rondellform mit mehreren Fächern, Schaufeln mit geschätztem Volumen von einem Kilo und starke Papiertüten, die mehrere Schaufelfüllungen aufnehmen können, liegen zur Selbstbedienung bereit. Ansonsten wird Reis in allen möglichen Mengen angeboten, auch Säcke mit 30 oder 40 kg gehören zum Sortiment.

In der Mensa – wie auch in Hotels – gibt es täglich drei warme Mahlzeitenangebote, Frühstück, Mittag- und Abendessen. Auf dem Speiseplan stehen typische chinesische Speisen wie Reissuppe, – die bei Ausländern im Allgemeinen nicht beliebt sei, wie mir eine Servicekraft erzählt, weil sie überrascht ist, dass ich diese Suppe gern esse, – Baudzi und Yiangzi, das sind unterschiedlich gefüllte Teigtaschen vergleichbar mit Ravioli, aber auch Fettgebäck, vergleichbar deutschen Fastnachtskrapfen, hart gekochte Eier und in Brühe zubereitetes Gemüse, dazu Reis und als Getränk warme Sojamilch zum Frühstück. Mittags und abends ist das Angebot sehr viel reichhaltiger und umfasst Reisgemüseangebote mit Hühnerfleisch und je nach Vorliebe scharfen oder milderen Gewürzen, gefüllte und ungefüllte Teigtaschen und Pfannkuchen, unterschiedlich zubereitete Fleischspeisen (vor allem Schwein und Geflügel), Algen, Fischspezialitäten und diverse Desserts, für jeden Geschmack das Passende. Schälchen mit Reis wie auch Weißbrot stehen zu einem geringen Preis als Sättigungsbeilage zu jeder Mahlzeit zur Verfügung. Im Xianlin-Campus hat man auch verpflegungstechnisch der Internationalität der Studierenden dadurch Rechnung getragen, dass man neben der üblichen Mensa noch ein International Student Restaurant eingerichtet hat, wo Speisen aus allen Kontinenten angeboten werden. Organisiert ist die Mensa wie ein überdimensioniertes Büfett, bei dem allerdings keine Selbstbedienung möglich ist. In langen Reihen, verteilt auch über mehrere Etagen sind Kochkojen nebeneinander eingerichtet, in denen jeweils bestimmte Speisen und Beilagen (z.B. Pilze, eingelegtes Gemüse, saisonale Angebote, Meeresfrüchte) vor den Augen der Studierenden und Lehrkräfte für eine begrenzte Anzahl von Portionen zubereitet werden. Sind alle Portionen ausgegeben, muss man auf die nächste Quantität warten. Selbstverständlich sind vegetarische und – begrenzt – auch vegane Angebote. Zwischen den Speisen gibt es Preisdifferenzen, zumeist ist für jede Preiskategorie ein bestimmter Bereich der Mensa vorgesehen, mitunter sind die unterschiedlichen Preiskategorien auch auf verschiedene Etagen verteilt. Für alle Speisen jeder Preiskategorie gilt, dass sie schmackhaft zubereitet, wenig fetthaltig und daher gut bekömmlich sind. Bestimmte regionale Spezialitäten aus Südchina (kantonesische Küche) werden wegen ihrer Außergewöhnlichkeit – Dort isst man alles, heißt es – in anderen Regionen im Allgemeinen nicht oder nur in Spezialrestaurants angeboten. Möbliert ist die Mensa mit im Boden verankerten Einheiten aus einem Tisch und je zwei gegenüber stehenden Sitzschalen oder frei stehenden, schweren, dunklen Holztischen und vier zugehörigen Stühlen. Stäbchen, Löffel und Servietten werden zur Selbstbedienung in Spendervorrichtungen bereitgehalten, Geschirr gibt es bei der Essensausgabe. Die zahlreichen Speisen, bei denen Spaghetti oder Bandnudeln in Brühe serviert werden, führen unweigerlich dazu, dass man seinen Mund dicht zum Teller führen und die Nudeln dann mehr oder weniger geräuschvoll schlürfen muss.

Jeder Campus betreibt ein Universitätsrestaurant entweder als architektonisch selbständige Einheit oder als selbständige Abteilung im Mensagebäude. Diese Restaurants entsprechen in Angebot, Ausstattung, Service und Preis dem allgemeinen Niveau guter Restaurants in der Stadt. Aus Anlass von Tagungen, Vorträgen oder Besuchen auswärtiger Wissenschaftler wird zum Essen im Unirestaurant eingeladen. Hier habe ich besondere Spezialitäten wie Entenzungen, seltene Reis- und Gemüsesorten und Fisch aus regionalen Gewässern probieren dürfen.

Auf dem Gelände meines Wohncampus' befindet sich ein in westlichem Villenstil aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts erbautes, sehr geräumiges Haus, das die amerikanische Schriftstellerin Pearl S. Buck (1892-1973) von 1923 bis 1933 bewohnt hat, während sie an der Universität englische Literatur und Sprache lehrte. Wegweiser führen aus allen Campusrichtungen dorthin. Schon als Kind hat sie mit ihren Eltern – der Vater war Missionar – mehrere Jahre an verschiedenen Orten Chinas gelebt, wie die Informationstafeln im als Museum eingerichteten Haus mitteilen. Angeblich hat sie aufgrund des täglichen Umgangs mit ihrer chinesischen Kinderfrau und chinesischen Spielkameraden früher chinesisch als englisch gesprochen. Im Buck-Museum sind zahlreiche Ausgaben ihres China-Romans The good earth (1931) in Übersetzungen in vielen Sprachen ausgestellt. Schon 1932 erhält sie den Pulitzer-Preis für diesen Roman, 1938 den Nobelpreis für Literatur. Dieser Familienroman erzählt vor dem Hintergrund des traditionellen bäuerlichen Lebens in China von Modernisierungsprozessen und damit verbundenen kulturellen Brüchen sowie grundlegendem, irreversiblem Einstellungswandel in weiten Teilen der Bevölkerung am Anfang des 20. Jahrhunderts. So verständigen sich die Söhne des sterbenden Protagonisten entgegen dessen programmatischem Vermächtnis, kein Stück des in Familienbesitz befindlichen umfangreichen Grundbesitzes zu verkaufen, weil es allein ›die gute Erde‹ sei, die Wohlstand, Sicherheit, Orientierung in jeder Hinsicht sowie familiären Frieden sichere, welche ›Filetstücke‹ sie zu welchem Preis als erste verkaufen. Damit ist der Konflikt zwischen Tradition und gesellschaftlicher Innovation programmiert.

2. Lehrtätigkeit

Zu meiner Lehre in einem Bachelor- (14 Studierende) und einem Masterkurs (9 Studierende), gehören Prüfungstätigkeit, Doktorandenbetreuung und allgemeine fachliche Beratung. Angesichts der Teilnehmerzahlen ist eine intensive Förderung möglich. Da ich ein eigenes Büro mit entsprechender elektronischer Ausstattung – und was unbedingt dazugehört mit einer Dose Tee und einem Heißwasserkocher – erhalte, bin ich für die Studierenden leicht und beständig erreichbar. Mit Hilfe meiner Unikarte, des Gebäudecodes und meines Schlüssels steht mir das Büro jederzeit offen. Die Unterstützung meiner Forschungsarbeit ist hervorragend. Texte, die ich für die Arbeit an Veröffentlichungen benötige, erhalte ich digital.

Gleich in der jeweils ersten Sitzung beeindrucken mich die durchgehend guten bis sehr guten Deutschkenntnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Alle Studierenden haben den vorgesehenen Text gelesen, was in Deutschland nicht unbedingt immer vorauszusetzen ist. So sind ohne weiteres inhaltsbezogene, reproduktive, paraphrasierende Gespräche möglich. Dagegen bereitet die selbständige Erkenntnis problemorientierter, weiterführender thematischer Konstellationen und Abstraktionen noch Schwierigkeiten. Innovationsfähigkeit und -vermögen erscheinen entwicklungsfähig. Im Bachelorkurs geht es um Hermann Hesses (1877-1962) Schülerroman Unterm Rad (1906) gerahmt von Zusatztexten wie Ellen Keys Das Jahrhundert des Kindes (1900; deutsch 1902) und der Vorstellung weiterer literarischer Texte zu Kindheit und Jugend um 1900. Im Masterkurs werden die beiden Erzähltexte von Herbert Rosendorfer (1934-2012) Briefe in die chinesische Vergangenheit (1983) und Die große Umwendung: Neue Briefe in die chinesische Vergangenheit (1998) behandelt.

Damit die Studierenden ihre Diskussionsbereitschaft und -fähigkeit steigern sowie wissenschaftliche Präsentationen üben können, stelle ich – nach Absprache mit ihnen – für jede Sitzung ein Thema zur Präsentation, die dann als Einführung in die Diskussion gehalten wird. Nachdem sich jemand in dieser Weise beteiligt und das heißt auch exponiert hat, ist er oder sie in der Regel zu weiteren Beiträgen von sich aus bereit. Auch sollen die Studierenden lernen, untereinander, ohne meine ständige Vermittlung, ein Thema zu erarbeiten. Zwei Studentinnen nehmen am überregionalen Debattierwettbewerb in deutscher Sprache teil und gewinnen den zweiten Preis, was die Diskussionsbereitschaft und die Entwicklung eigener Perspektiven in der Gruppe merklich fördert. Ich stelle Aufgaben in der Regel so, dass keine Lösungsangebote dafür im Internet zur Verfügung stehen.

Für die Master-Studierenden ist es besonders motivierend, die Reaktionen des Protagonisten, der aus dem alten China aus der Zeit um das Jahr 1000 mittels einer Art Zeitmaschine in das Deutschland um 1980 kommt, auf die moderne Lebenswelt in Deutschland vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen in China und in Deutschland zu sehen. Waren doch die meisten von ihnen schon mehrmals in Deutschland, darunter in der Regel für einen zweisemestrigen Aufenthalt. Zu erarbeiten sind zumeist systematische Aufgaben, die immer wieder die Durcharbeitung des gesamten Textes erfordern. Weil Konzepte von Inter- und Transkulturalität grundsätzlich bekannt sind, können diese durch Einführungen in kulturwissenschaftliches Wissen und Analysemethoden (z.B. Erinnerungs-, Gedächtnis-, Ritualtheorie, Bourdieus Kultursoziologie) ergänzt werden, wobei Transferkompetenz vermittelt wird. Ich bin immer wieder erstaunt über die genaue Kenntnis der Studierenden von aktuellen Vorgängen in Deutschland und von Neologismen wie z.B. Querdenker und Ausdrücken der Jugendsprache. Fast alle haben und nutzen die Möglichkeit, über spezielle VPN-Verbindungen sich Informationen aus deutschen Medien zu beschaffen.

Sowohl die im Laufe des Semesters deutlich zunehmende Diskussionskompetenz der Studierenden als auch die Qualität der schriftlichen Abschlussarbeiten spiegeln ein positives Ergebnis wider. Spezielle Fragen können in meiner regelmäßig stattfindenden Sprechstunde besprochen werden. Mir fällt der sehr persönliche Umgang zwischen Lehrkräften und Studierenden auf, jene kennen diese durchgehend nicht nur mit Namen, sondern wissen auch um mögliche Probleme. Dies mag am besonderen Betreuungs- und Auswahlsystem liegen. So stellen sich Interessenten für das Bachelor- und Masterstudium bei den Professorinnen und Professoren in einem Bewerbungsgespräch vor, das über die Aufnahme entscheidet. Da zu jedem Bewerbungstermin aufgrund der strengen Maßstäbe nur wenige Bewerber angenommen werden, besteht von Anfang an ein persönliches Verhältnis. Auch spielt der Platz der Universität auf der nationalen Ranking-Liste eine nicht unbedeutende Rolle für die Anzahl der Bewerbungen, das Anforderungsniveau und die Zahl der Zulassungen. ›Meine‹ Universität ist sehr gut platziert.

Kolleginnen und Kollegen einer Fakultät kennen sich in der Regel nicht nur durch Sitzungen, Konferenzen und Prüfungen, sondern auch durch die für feste Mitarbeiter obligatorische Mitgliedschaft in der jeweiligen beruflichen Interessenvertretung. Zu deren Aufgaben gehört auch die Organisation gemeinschaftlicher, geselliger Aktivitäten. Zum Semesterausflug, diesmal eine Wanderung zu einem nicht allzu weit entfernten Stausee, werde ich als Gast mit selbstverständlicher Offenheit und freundlichem Entgegenkommen eingeladen. Zunächst verläuft die Route über öffentliche Straßen, dann über Nebenstraßen und -wege, vorangetragen wird ein Banner mit Namen und Logo der Organisation, so dass spontan der – nicht zutreffende – Vergleich mit einer Demonstration in Deutschland aufkommen mag. Völlig zwanglos ergeben sich bei diesem Ausflug für mich Gelegenheiten zu Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen anderer Abteilungen z.B. über das Universitätsleben in China und in Deutschland sowie in anderen Ländern. Selbstverständlich werde ich hier wie auch in anderen Situationen als ein offensichtlich nicht Einheimischer gefragt, woher ich komme, ich kann auf diese Frage chinesisch antworten. Dass eine solche naheliegende, gleichsam natürliche Frage nach der Herkunft in Deutschland bei manchen Gruppen als Ausdruck von Rassismus gelten kann, ist mir völlig unverständlich. Die meisten Kollegen haben sowohl studienbedingte als auch forschungsbezogene Auslandserfahrungen. Eine Kollegin erläutert mir die besondere Logik der chinesischen Sprache, die es von Anfang an erfordere, die Schriftzeichen neben dem mündlichen Spracherwerb zu erlernen, um die Konstruktion der Zeichen zu verstehen, da man es eben nicht mit Buchstaben, sondern mit je eigenen Zeichen (Charakteren) zu tun habe, die verbunden werden und je nach Betonung – vier Töne des Chinesischen – unterschiedliche Bedeutungen haben. Wichtig sei, die Wiedererkennbarkeit der Zeichen systematisch durch ständige Wiederholung zu trainieren. In der Grundschule würden chinesische Kinder dies schlicht und einfach so lange machen, bis sie das jeweilige Zeichen dauerhaft beherrschten. So leite die Didaktik des Muttersprachenunterrichts zur exakten Konzentration auf das Gegebene und dessen ebenso exakte Wiedergabe an, jede selbständige, kreative Veränderung werde als fehlerhaft markiert. Mit Blick auf mich als erwachsenen Lerner meint die Kollegin, dass das Erlernen der chinesischen Zeichen durchaus ökonomisch sei, da es keine anderen Sprachen vergleichbare Deklinationen und Konjugationen gebe, die gerade das Erlernen der deutschen Sprache so schwierig machten.

Am Ziel angekommen gibt es für alle – auch für mich als Gast – eine kleine, gesunde Erfrischung in Form von Mandarinen und Mineralwasser, dazu ein offenbar obligatorisches Geschenk zur Erinnerung, diesmal ein T-Shirt mit Logo, das ich – wie mir erklärt wird – später erhalten werde. Auch wird ein Gruppenfoto gemacht, das für alle außeralltäglichen universitären Veranstaltungen zur Erinnerung und Dokumentation obligatorisch ist und von dem jedem Teilnehmer ein Exemplar zugestellt wird.

Ich schätze die spontanen Besuche im französisch aufgemachten ›Bistro‹ auf dem Campus mit Croissants und Baguettes usw. und einem Café noir. Hier lassen sich in entspannter Atmosphäre gut Fragen des Unterrichts, der Forschung und allgemeine Themen besprechen. Weil ich keine Kinder auf dem Campus sehe, erfahre ich auf meine Frage, dass Schwangerschaft und Geburt eines Kindes für eine Studentin einer Katastrophe gleich käme. Es drohe der Abbruch des Studiums, weil sie sich des vom Staat ermöglichten Studiums nicht würdig erwiesen und es nicht angemessen durch Leistung erwidert habe. Hinzu kommen der Verlust des Platzes im Studentinnenheim, der sozialen Vergünstigungen und die Notwendigkeit, ohne Abschluss praktisch zu arbeiten. Noch vor ca. 20 Jahren sei die Verpflichtung von Studentinnen zu unterschreiben gewesen, dass sie sich während des Studiums eines Intimverhältnisses enthielten.

Gern wahrgenommene Höhepunkte im Semesteralltag stellen Lesungen und Vorträge von Gästen aus Deutschland dar. (Ein Netz internationaler wissenschaftlicher Kooperationen und Austauschvereinbarungen besteht in der Regel von Seiten der Gesamtuniversität und einzelner Abteilungen.) Während meines Aufenthalts kommt z.B. Navid Kermani für zwei Lesungen aus seinem Buch Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan (2018) nach Nanjing. Seine öffentliche Lesung in der zentralen Buchhandlung ›Avantgarde‹ wird vom Repräsentanten des Goethe-Instituts in China in fließendem Chinesisch eingeführt; eine zweite geschlossene Lesung bietet er für die Deutsche Abteilung der Universität an. Beide Veranstaltungen sind stark besucht, von der Möglichkeit, Fragen an den Autor zu stellen, wird rege Gebrauch gemacht, allerdings weniger von den Studierenden. Gern angenommen wird auch ein Vortrag über Stiftungen und Institutionen in Deutschland, die Stipendien für einen Studienaufenthalt in Deutschland an Studierende nicht nur der Germanistik vergeben.

Zu den außeralltäglichen Ereignissen gehört in der Deutschen Abteilung die Weihnachts- oder Winterfeier, deren Programm von den Studierenden vorbereitet wird. Darbietungen unterschiedlicher Art in deutscher Sprache wie Sketche, Gesang, Instrumentenvorspiele, Gedichtvorträge, Maskeraden, aber auch Wettspiele unter Beteiligung der Dozentinnen und Dozenten kommen zur Aufführung. Für mich als Gast gibt es einen besonders auf- und ausgeführten Dank. Auch bei dieser Gelegenheit werden die Fotos nicht vergessen.

Insgesamt scheinen die Menschen, junge und ältere, nach eigenen Äußerungen mit ihren Lebensbedingungen und daher auch mit Staat und Regierung zufrieden zu sein, die vielen Uniformen, auch jener Kinder, die zu Nachwuchsorganisationen gehören, drückten Identifikation aus, die Kontrollen fügten sich ins Leben ein, garantierten Sicherheit, man müsse nicht extra darüber sprechen. Vielmehr könne man stolz sein auf das, was China im Alltag sichtbar in relativ kurzer Zeit vor allem bildungs-, sozial- und gesundheitspolitisch geschafft habe und noch schaffen werde. Man könne quasi überallhin reisen und sei willkommen, z.B. seien die meisten Touristen in Marokko Chinesen, sie brauchten kein Visum, mehrere Hunderttausend Chinesen arbeiteten in Afrika, Weingüter und vieles Andere in Frankreich – ähnlich in anderen Ländern – gehöre Chinesen, chinesische Oligarchen spendeten Millionen zum Aufbau neuer Universitäten, die – oder zumindest einzelne Institute – zum Dank nach den Spendern benannt seien. Auch brauche China aufgrund seiner hohen Bevölkerungszahl keine Angst vor einem Krieg zu haben, es gebe so viele Chinesen, da würde kein Land China militärisch angreifen.

Während sich das John Rabe-Haus in unmittelbarer Nachbarschaft zu meiner Wohnung im Gästehaus des Gulou-Campus befindet, ergibt sich auch eine Verbindung zwischen meinem Arbeitscampus und dem Rabe-Museum. Denn 2019 findet zum ersten Mal eine besondere öffentliche Gedenkfeier für Rabe und seinen Einsatz für die Opfer der japanischen Besetzung Nanjings statt, wobei das Rabe-Haus Zentrum und Ausgangspunkt darstellt. In diesem Zusammenhang muss ich erwähnen, dass schon 1985 im Südwesten der Stadt ›The Memorial Hall of the Victims in Nanjing Massacre by Japanes Invaders‹ gebaut und 1995 zu seinem heutigen Erscheinungsbild – Ausmaße, Architektur, Gestaltung der Außenflächen, Exponate – erneuert worden ist. Es bietet umfangreiche Informationen in Form von Fotos, Videos – spezielle Würdigung John Rabes und seines Kreises –, Interviews mit Zeitzeugen, topografischen Modellen, Karten, Objekten. Wohl wegen der politischen Bedeutung dieses Museums wird kein Eintrittsgeld erhoben; in der Regel zahlen Besucher ab 60 Jahren in Museen den halben Eintrittspreis, während für Besucher ab 70 Jahren der Eintritt entfällt.

Für den 30. November 2019 sind alle Interessierten aufgerufen, an der öffentlichen Gedenkfeier für Rabe teilzunehmen. Dabei soll die historische Sicherheitszone in einer feierlichen Umgehung – von der Idee vielleicht vergleichbar der antiken ›pompa‹ – nachgezeichnet werden. Dafür versammelt sich eine große Menschenmenge, Einzelne, Gruppen und Repräsentanten von Institutionen im Garten der Nanjing Normal University, dem ehemaligen Ginling Girls College, deren Rektorin, Minnie Vautrin, sich für den Schutz der Schülerinnen vor Vergewaltigungen eingesetzt hatte. Zunächst tragen sich die meisten Teilnehmer auf einer großen Leinwand ein und bekennen sich zu Rabes Zielen, das Ereignis wird vielfach fotografisch dokumentiert. Unter Polizeischutz bewegt sich dann der ›International Peace Hiking‹ durch jene Straßen, die die Sicherheitszone begrenzten. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer erhält einen ›Passport‹, in dem die Teilnahme durch fünf Stempel an vier historisch bedeutsamen Stationen und am Ziel bestätigt wird. Außerdem gibt es eine Teilnahme-Medaille, Interviews und Fotos für regionale Medien.

Aufgrund meiner Kenntnis von Rabes Tagebüchern kann ich der in chinesischer Sprache aufgeführten Rabe-Oper von Tang Jianping ohne Probleme folgen und mich auf Musik und darstellerische Leistung der Akteure konzentrieren. Ähnlich stehen für mich – aufgrund meiner genauen Textkenntnis – bei einer Aufführung von Goethes Faust in chinesischer Sprache Bühnenbild, Kostüme, Beleuchtung, Sprechen und Spiel im Mittelpunkt. Ein schräg stehender, begehbarer, haushoher textiler Kubus in der Mitte der Bühne, dessen Seiten Bibliothekswände darstellen, repräsentiert in höchster Verdichtung das Zentrum von Fausts Welt. Zu beiden Aufführungen im Theater in Nanjing sind zahlreiche Kolleginnen und Kollegen sowie auch Studierende anwesend.

Vorbereitet wird das ›Peace Hiking‹ durch eine Ausstellung zu Erich Maria Remarque als pazifistischem Schriftsteller im Rabe-Haus, die am 23. November 2019 (Samstag) offiziell durch chinesische und deutsche Repräsentanten eröffnet und durch Begleitveranstaltungen der Universität unterstützt wird. Bei sehr mildem Wetter gibt es einen Empfang für die offiziellen Gäste im Garten des Rabe-Hauses mit Begrüßungsansprachen und einführenden Statements zu Remarque, z.B. vom Leiter des Remarque Friedenszentrums in Osnabrück und vom Professor für Friedens-Studien an der Universität Nanjing. Eine Kollegin und ich veranstalten im Rabe-Haus einen Workshop mit Studierenden zu Rabe und Remarque, an dem auch die Fachkollegen teilnehmen. Rabe führte in Nanjing vom 21. September 1937 bis zum 26. Februar 1938 Tagebuch unter dem Titel Feindliche Flieger über Nanking. Tagebuchblätter. Darin hat er zahlreiche Presseberichte eingeklebt und den Wortlaut von Verträgen maschinenschriftlich wiedergegeben. Bei Durchsicht der technisch hervorragend gemachten 6-bändigen Ausgabe dieser Tagebücher (Beijing 2017) sind mir Parallelen zu Passagen in Remarques Welterfolg Im Westen nichts Neues (1929) aufgefallen. So lag der Gedanke nahe, dieser Parallele einmal zu folgen, die sich über bloße Beobachtungen und Ereignisse hinaus auf Einstellungen, Beurteilungen des Erlebten und Folgerungen daraus bezieht. Aus Rabes Tagebüchern und Remarques Roman habe ich Zitate für die Studierenden zur Vorbereitung auf den Workshop zusammengestellt. So ist die Diskussion wieder lebhaft, mehrere Studierende haben eigene Perspektiven auf das Thema Pazifismus entwickelt, dennoch wirkt die Atmosphäre wohl wegen des ungewohnten Rahmens – fremde Umgebung, Anwesenheit mehrerer den Studierenden unbekannter Spezialisten – deutlich offizieller. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1938 wurde es Rabe – sogar in geschlossener Veranstaltung – untersagt, in Vorträgen mit Fotomaterial über die Ereignisse zu berichten und dabei für Pazifismus und diplomatische Konfliktlösungen zu werben. Remarques Antikriegsroman wie seine anderen Bücher durften in Deutschland von 1933 bis 1945 weder erscheinen noch gelesen werden, sie fielen der Bücherverbrennung 1933 zum Opfer. Rabes und Remarques Texte sind hinsichtlich ihrer programmatischen Ausrichtung auf Friedfertigkeit, Toleranz und Humanität über Grenzen und Kulturen hinweg unzweifelhaft. Am 9.11. 1937 findet sich folgende geradezu visionäre Passage in Rabes Tagebuch: »... und dabei ist das, was wir hier in China erleben, vielleicht nur ein Kinderspiel im Vergleich zu dem was ein neuer Weltkrieg für Europa bedeuten würde, vor dem ein gütiges Geschick uns in Gnaden bewahren möge«. Als weiteres Zeichen der aktuellen Wertschätzung Rabes in China mag – neben dem neu eingeführten Gedenktag – eine ganzseitige, mit historischen und aktuellen (Szenenfoto einer Wiener Aufführung der chinesischen Oper über John Rabe von 2019, Foto von der Übergabe chinesischer medizinischer Hilfsmittel im April 2020 an den Enkel von Rabe) Fotos bebilderte Anzeige ›John Rabe, Held von Nanjing‹ (FAZ 3. Sept. 2020) gelten, die über Rabes Biographie und vor allem sein Engagement zugunsten der chinesischen Zivilisten informiert.

3. Unterwegs in Nanjing und anderswo

Vor allem für meinen Aufenthalt außerhalb des Campus erhalte ich ungewohnte Instruktionen. So sei es in China üblich, Gegenstände, die auf der Straße oder einer Bank scheinbar herrenlos herumliegen, auf keinen Fall aufzuheben, mitzunehmen und bei einer für zuständig gehaltenen Stelle abgeben zu wollen, da man damit rechnen müsse, von einer in der Nähe befindlichen Person als Dieb festgehalten und angezeigt zu werden. Ebenfalls ungewöhnlich für Ausländer ist der Hinweis, sich um Personen, die einen hilflosen oder verletzten Eindruck machen, vielleicht sogar am Boden liegen, auf keinen Fall zu kümmern, ihnen nicht behilflich zu sein. Es sei durchaus nicht auszuschließen, dass die Person nur simuliere, dann den Helfer oder die Helferin beschuldige, sie niedergeschlagen oder geschädigt zu haben, ihn/sie bei der Polizei anzeige und sich im Krankenhaus auf Kosten der helfenden Person für irgend etwas behandeln lasse. Während in Deutschland unterlassene Hilfeleistung ein Straftatbestand ist, scheint hier direkte und spontane Unterstützung, die immer einen Kontakt voraussetzt oder herstellt, sanktioniert zu sein. Was auf den ersten Blick unverständlich erscheinen mag, scheint zu einem Bericht in der FAZ zu passen, der von chinesischen Privatpersonen berichtet, die während des Ausbruchs der Corona-Pandemie den öffentlichen Einrichtungen durch freiwillige und unentgeltliche Tätigkeiten bei der Lebensmittelverteilung geholfen haben, dafür aber weder Anerkennung noch Dank erhielten, sondern aufgefordert wurden, ihre Tätigkeit im Rahmen einer von der Partei legitimierten Initiative fortzusetzen, nicht aber als Aktion einer privaten, spontan abrufbaren Gruppe. »Soziales Engagement ist in Chinas autoritärem System nicht vorgesehen. […] Bürgergruppen […] sind aus Sicht der Partei wegen ihrer Mobilisierungskraft eine potentielle Bedrohung«.[2]

Auf den vielen mehrspurigen Straßen herrscht bis nachts unentwegt starker Verkehr. Busse, Lkws, Pkws, Motor- und Elektroroller, Fahrräder und Fußgänger in großer Zahl sind ständig unterwegs, aber ohne Unfall. Während meines Aufenthalts habe ich kaum Unfälle bemerkt. Besonders viele Kleinfahrzeuge wie Roller, Mopeds, Kleinmotorräder, dreirädrige Kleinlieferwagen mit Ladefläche oder Sitzplätzen, offen oder überdacht sind überall in der Stadt unterwegs. Überall ist durchaus im Wortsinne zu nehmen, denn das schließt auch Gehwege ein. Daher leben Fußgänger nach meinem Eindruck mitunter gefährlich. Nicht selten müssen sie sich den Bürgersteig mit geparkten Fahrrädern und Rollern teilen, dazu kommt der fließende Zweiradverkehr, dessen Fahrer häufig das Handy vor Augen haben. Meine besondere Aufmerksamkeit finden dreirädrige Motorräder mit Ladefläche hinten, die stets riesige Mengen an hängenden und gestapelten Taschen, Kisten, Säcken und anderen Behältnissen transportieren. Viele Fußgänger gehen eher langsam und bleiben auch unvermittelt stehen. Man muss aufpassen, niemanden anzustoßen. An Kreuzungen verknäueln sich die Fahrzeuge, dennoch fließt der Verkehr rasch wieder. Allerdings wird häufig und anhaltend gehupt und geklingelt, wobei besondere Signaltöne, geradezu wie Melodien auffallen. Vor dem Kinderkrankenhaus (es gibt keine Arztpraxen) in meiner Nachbarschaft bieten Händler auf dem Gehweg Spielzeug, Süßigkeiten und Leuchtelemente an. Während der sehr heißen Tage im September sind Sprühwagen im Einsatz, die aus einer Höhe von vier bis fünf Metern Wasser versprühen, das den Staub von den Straßen nehmen, die Luft reinigen und den Menschen Erfrischung verschaffen soll. Von der Dämmerung an sind die Straßen von einer Fülle bunter Lichtreklamen erhellt, manche Hochhäuser versuchen, sich durch erleuchtete Logos oder Schriftzüge ein Alleinstellungsmerkmal zu geben. Während es überall in der Stadt Kameras zur Kontrolle des Verkehrs gibt, sind an wenigen großen Kreuzungen überdimensionierte Bildschirme aufgestellt, die zentriert das Bild einer Person zeigen, die von der Kamera beim Überqueren der Straße bei roter Ampel oder bei ähnlichen Delikten aufgenommen worden ist. Neben dem Bild sind Kenndaten der Person angegeben. Mir scheint, dass besonders an diesen Kreuzungen korrekt von allen Verkehrsteilnehmern gewartet wird, bis die Ampel grün für sie zeigt, auch wenn – selten genug – ein ungefährliches Passieren für Fußgänger bei Rot möglich wäre. Fahrpreise für den vorbildlich ausgebauten öffentlichen Nahverkehr mit Bussen und U-Bahnen sind angesichts der Entfernungen überraschend moderat. Morgens und nachmittags sind die U-Bahnen besonders voll, man drängt sich, kann die Arme kaum bewegen. Mitunter wird mir ein Sitzplatz angeboten. Fast alle Fahrgäste jeder Altersstufe tragen Turnschuhe – in den Fernzügen überwiegend Lederschuhe – und Jacken, Mäntel sind außer meinem so gut wie nicht sichtbar. Fast jeder und jede ist mit dem Handy beschäftigt, ganz selten sehe ich jemanden, der sich in ein Buch vertieft, wenn, dann ein junger Mensch. Ich habe weder Handy noch Buch in der Hand, sondern beschränke mich darauf, meine Umgebung zu betrachten. Fahrgäste kommen mit z.T. unförmigem Gepäck wie zu einem Umzug, Kinder werden – wenn möglich – auf die Sitze gehievt und dort irgendwie ruhig gehalten, zu essen und zu trinken ist verboten. Wie überall auf der Welt gelten sogenannte bürgerliche Manieren offenbar nicht allgemein als Verhaltensnorm, so gähnen manche Fahrgäste ungeniert mit offenem Mund oder bohren sich mit dem Finger in Nase und Ohren, niesen, ohne Hand oder Taschentuch vor die Nase zu halten. Insgesamt ist es sauber und sehr leise im Zug, keine Sitzbank ist zerkratzt oder beschädigt, überall sind auf Bildschirmen Werbung und politische Erfolgsmeldungen zu sehen, aber ohne Ton. Haltestellen und Umsteigemöglichkeiten werden auf Chinesisch und Englisch mitgeteilt, außerdem erscheinen diese Informationen auf Displays als Endlosband im Waggon. Weil die U-Bahnlinie zum neuen Campus auch oberirdische Abschnitte hat, sehe ich viel von der Stadt, wobei besonders die enorme Bautätigkeit auffällt. Überall in Richtung auf die Außenbezirke entstehen neue Hochhäuser von über 30 Stockwerken. Wie viele Menschen mögen darin wohnen? Ich höre, dass es gerade wegen der hohen Bautätigkeit schon einen gewissen Leerstand an Wohnungen gebe und dass die Mietpreise auch wegen angeblicher Unsicherheiten bezüglich des gewohnten Wirtschaftswachstums tendenziell sinken würden. Wie ich erfahre, wohnt man nur in Ausnahmefällen zur Miete, üblicherweise kauft man sich eine Wohnung. Eine eigene Wohnung gehört – wie mir erzählt wird – zu den Bedingungen, die eine Braut an ihren Zukünftigen stellen kann, neben einer festen beruflichen Position und einem eigenen Auto. Eltern von Söhnen fühlen sich mitunter gegenüber denen von Töchtern benachteiligt. Obwohl seit einiger Zeit die Einkindehe weitgehend abgeschafft ist und für junge Ehepaare seit kurzem aus demografischen Gründen sogar drei Kinder erlaubt sind, wollen viele junge Leute vor allem aus zwei Gründen gar kein Kind: Es sei zu teuer wegen des üblichen Privat- und Zusatzunterrichts (Musikinstrument, Ballett, Fremdsprachen) für die Karriere des Kindes, auch der womöglich mehrmalige Umzug zur ›guten‹ Kita, dann zur ›guten‹ Grundschule und zur ›guten‹ weiterführenden Schule, um dem Kind weite Schulwege zu ersparen, sei kostspielig. Denn es gebe bekanntlich gute und weniger gute Einrichtungen mit je entsprechendem Personal. Daher wolle die Regierung auch einen regelmäßigen Wechsel der guten Lehrer und Erzieher an die weniger guten Einrichtungen einführen und umgekehrt, damit sich Chancengleichheit durchsetze. Außerdem nehme die Konkurrenz zwischen Kindern zu, die Mieten bzw. Kaufpreise für Wohnungen seien sehr hoch – heißt es entgegen den Vermutungen über sinkende Mieten –und der eigene Lebensstandard mit allen Freiheiten und Bequemlichkeiten werde eingeschränkt.

Neu ist für mich, dass es weder in der U-Bahn noch in Zügen Schaffner gibt, die die Fahrkarten kontrollieren. Diese Funktion übernehmen Automaten, denn man gelangt auf einen Bahnsteig nur, nachdem man sein Gepäck hat durchleuchten und seinen Chip an der Abfahrtsstation von einem Automaten hat kontrollieren lassen, während er am Zielbahnhof vom Automaten ›geschluckt‹ wird. Meine Dauerkarte wird vom Automaten lediglich gelesen, dann öffnet er die Barriere zum Betreten oder Verlassen der Station. Dieses System erinnert mich entfernt an die ›Sperren‹, die in Deutschland bis in die 1960er Jahre den Zugang zum Bahnsteig kontrollierten. Für meine Fahrten mit den Fernzügen (Spitzengeschwindigkeit 350 kmh) zu Vorträgen oder Tagungen nach Beijing (auch Besuch der Verbotenen Stadt), Xian (auch Besuch der Terrakotta-Armee), Guangzhou, Shanghai oder in andere Städte besorge ich mir eine Fahrkarte, wofür ich meinen Pass mit dem Visum vorlegen muss, die personalisiert wird und mir einen Sitzplatz zuweist. In Zügen gibt es keine Stehplätze. Ein einziges Mal war mein Platz schon besetzt; wie sich dann beim Abgleich der Fahrkarten zeigte, war der andere Fahrgast offenbar Analphabet, der nur die Zahlenangaben lesen konnte. Servicekräfte bieten Getränke und verschiedene Speisen an. In kurzen Intervallen geht eine Reinigungskraft durch den Mittelgang, sammelt auf dem Boden liegende Abfälle und Papier ein und nimmt Reste der Mahlzeiten der Fahrgäste entgegen. Für Sicherheit und Schutz der Fahrgäste in Fernzügen sorgen offenbar begleitende Sicherheitskräfte, die ich einmal wohl im Einsatz erlebte. Um den Bahnhof überhaupt betreten zu können, wird das Gepäck wie im Flughafen durchleuchtet, Ausweis und Fahrkarte werden von einem Automaten kontrolliert, für Ausländer gibt es spezielle Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen, die Pass und Visum kontrollieren, danach ist der Weg zur Wartehalle frei, die in aller Regel nicht kleiner ist als Wartehallen in europäischen Flughäfen. Man kann sich an Verkaufsständen mit Getränken und Backwaren versorgen, ausländische Zeitungen habe ich nirgendwo gesehen. Ständig halten sich Hunderte von Fahrgästen in der Halle auf. Auf großen Tafeln werden Abfahrtszeiten, Zug- und Gleisnummern bekannt gegeben, auf der Fahrkarte sind Zug-, Wagen-, Sitzplatznummer und Abfahrtszeit aufgedruckt, so dass man in der Nähe des Zugangs zum betreffenden Gleis Platz nimmt. Erst wenige Minuten vor Abfahrt des Zuges wird der Zugang durch ein Blinklicht markiert, die Passagiere stellen sich in Reihen an und warten auf die Freigabe des Zugangs. Dafür postieren sich mehrere Sicherheitskräfte, die die Fahrkartenkontrolle im Automaten kontrollieren und für Ausländer nach einem Blick auf den Pass den Zugang öffnen. Am Gleis befinden sich in regelmäßigen Abständen Zahlen auf dem Boden, die der Wagennummer entsprechen, so dass sich jeder Fahrgast an der für ihn passenden Einstiegsstelle aufstellt. Die sehr langen Fernzüge kommen geradezu auf die Sekunde pünktlich an und die Wagen stehen exakt an den vorgesehenen Stellen, so dass man direkt einsteigen kann. Dieses System ist wegen seiner Perfektion beeindruckend, es macht Schwarzfahren unmöglich, Schaffner überflüssig und sorgt für einen extrem schnellen Ein- und Ausstieg.

Wer sich in Nanjing aufhält, sollte neben den wichtigen Spezialmuseen zur Stadt- und Regionalgeschichte, zur Kunst- und Theatergeschichte, zu Volkskunde und Paläontologie auch eine Reihe historischer und kultur- bzw. architekturgeschichtlicher Sehenswürdigkeiten besuchen. Dazu zählt als relativ junges Beispiel ›die‹ Brücke über den Yangtsekiang, den längsten Fluss Chinas. Es ist dies eine beeindruckende Konstruktion für den Eisenbahn- und Straßenverkehr hoch über dem Fluss, auf beiden Seiten gerahmt durch Brückentürme. Mit einem Aufzug kann man auf eine Aussichtsplattform fahren, um einen Panoramablick über den Verlauf des Flusses und die Stadt zu genießen. Symbolische Bedeutung hat die Brücke, weil sie in einer Zeit chinesisch-sowjetischer Konflikte von 1960-1968 ohne Unterstützung sowjetischer Ingenieure fertiggestellt worden ist.

Mehrmals bin ich über die sehr gut erhaltene Stadtmauer spaziert, die während der Ming-Dynastie in den 1360er Jahren erbaut worden ist. Sie hat eine Länge von über 30 km, eine Höhe von ca. 20 m und ist ca. 10 m breit, sie gilt als die größte Stadtmauer Chinas. Man darf sie mit einem Leihfahrrad befahren oder sich von einem Spezialwagen kutschieren lassen. Museumstürme dokumentieren die Geschichte der Mauer, deren Stadttore architektonisch und sicherheitstechnisch sehenswert sind. Zu den besonderen Sehenswürdigkeiten im Stadtzentrum zählt auch der 1382 errichtete Trommel-Turm, dessen Trommeln der Zeitangabe dienten. Nach einem Besuch des Kaisers 1684 wird der beschädigte Turm erneuert und zum repräsentativen Kaiser-Denkmal erweitert.

Zu Nanjing gehört auch das Mausoleum von Dr. Sun Yat-sen (1866-1925), der sich für die Abschaffung der Monarchie zugunsten einer Republik eingesetzt hat. Das monumentale Grabmal auf einem Hügel am Stadtrand, dem berühmten Purpur-Berg (Purple Mountain), ist weithin sichtbar mit seiner imposanten Treppenkonstruktion. Es ist auch mit einer Seilbahn erreichbar. Beherrscht wird die Halle des Mausoleums von der überlebensgroßen Statue von Dr. Sun, die nicht fotografiert werden darf, vor der sich viele Besucher verneigen und schweigend in dieser Haltung verharren. In der Nähe des Mausoleums befindet sich die eindrucksvolle Grabanlage für den ersten Ming-Kaiser Zhu Yuanzhang. Eine breite Allee mit steinernen Tierfiguren auf beiden Seiten führt zum Grab. Zum Komplex der historischen Anlagen gehört auch der Linggu-Tempel. Man kann bequem zu Fuß – oder mit kleinen Bussen oder Pferdewagen – alle diese Gebäude erreichen, auf gut eingerichteten Wegen durch einen parkartigen Wald. Während der Öffnungszeiten halten sich zahlreiche Besucher dort auf, ständig wird fotografiert, an Kiosken kann man Getränke und Süßigkeiten kaufen.

Wegen meines besonderen Interesses für Bestattungsrituale und Friedhofsgestaltungen besucht meine Kollegin mit mir einen chinesischen Friedhof. Friedhöfe liegen in der Regel weitab von jedem Wohnviertel, auch von Fabriken, zumeist irgendwo außerhalb in einem unbebauten Terrain, weil man glaubt, dass Friedhöfe eine negative Aura hätten, die sich den Menschen entsprechend mitteilte. Auch meine Kollegin musste sich meinem Wunsch zunächst als Ausdruck sachlichen Interesses reflexiv nähern. Außer uns ist fast kein anderer Besucher auf dem großen, an einem Hang angelegten, terrassierten und seit Anfang des 20. Jahrhunderts genutzten Friedhof zu sehen. Es ist lange geübte Tradition, nur an einem bestimmten Tag im Jahr, dem Totengedenktag Anfang April, meistens am 5. April, die Verstorbenen auf dem Friedhof zu besuchen und bei dieser Gelegenheit die Gräber zu reinigen und Blumen – häufig künstliche – auf die Grabplatte zu stellen, Räucherstäbchen zu entzünden und Papiergeld zu verbrennen. Dass Friedhöfe wohl überall auf der Welt jeweils soziale Entwicklungen widerspiegeln, zeigt sich auch hier: Auf der obersten Ebene hat offenbar die Belegung begonnen, hier finden sich einige repräsentative Familienbegräbnisstätten, mit niedrigen Mauern begrenzte Grablegen mit gemauertem Sarkophag in der Mitte. Daran schließen sich große Grabstellen für mehrere Personen an mit Grabplatte und Blumenschmuck, auf den unteren Ebenen werden die Gräber zunehmend kleiner, d.h. die Feuerbestattung hat sich durchgesetzt, bis schließlich zum aktuellen Gräberfeld, auf dem eine Grabstätte gerade Platz für zwei Urnen und die Mitteilung der Namen bietet. Bis Anfang dieses Jahrhunderts war es üblich, beim Tod eines Ehepartners auch Namen, Geburtsdatum und eine Trauerformel des hinterbliebenen Ehepartners auf den Grabstein gravieren zu lassen, so dass nur noch das Sterbedatum einzutragen war. Nicht zuletzt aus Datenschutzgründen, aber auch für den Fall einer Wiederverheiratung der Witwe oder des Witwers und wegen des zunehmend beschränkten Umfangs heutiger Grabstellen vollzieht sich hier gerade ein grundsätzlicher Traditionswandel.

Aber auch im Stadtzentrum gibt es viele Sehenswürdigkeiten und pittoreske Abschnitte am Qinhuai-Fluss, dessen Ufer am Abend illuminiert sind für die Touristen, die sich für eine Bootsfahrt entscheiden. Wegen der übermäßig langen Schlange vor dem Kartenschalter verzichten meine Kollegin und ich auf eine Bootsfahrt und erkunden die malerischen Orte von Uferwegen und Straßen aus. Der berühmte Konfuzius-Tempel mitten in einem Geschäftsviertel ist – für meinen Geschmack – mit allzu vielen Zugeständnissen an die Künstlichkeit der Ausstattung hergerichtet.

Überall in der Stadt gibt es kleine und große Parks und mehrere Seen. Im Freizeitpark am See hinter der Stadtmauer halten sich dauernd große Besuchermengen auf, die meisten gehen spazieren, oft zu einem Picknickplatz, viele praktizieren ihre individuellen Freizeitvorlieben, so hören manche Besucher sehr laute Musik, live-Sänger und Sängerinnen geben ihr Können zum besten, alles sehr laut, alles Mögliche wird zum Kauf angeboten, Gymnastikdamen und -herren zeigen ihr Können, jemand spielt auf dem Akkordeon La paloma, ein anderer singt auf lalala dazu. Dazwischen Gärtner, die scheinbar lustlos zwischen den Pflanzen fegen. Paare und Familien fahren Tretboot auf dem See. Ich falle als weit und breit einziger auf, der mit einem Stift in ein Notizbuch schreibt, ziehe viele Blicke auf mich. In einem anderen Park gibt es eine sogenannte Liebesinsel, auf der sich Hochzeitspaare vor einer Baumgruppe oder einer Statue in sehr konventioneller Kleidung fotografieren lassen, die Bräute in langem weißem Kleid, die Bräutigame in grauen Anzügen. Immer wieder fällt vor Tempeln, Denkmalen in Parks oder auf freien Plätzen der besonders reichliche Blumenschmuck auf, wobei es sich nicht um Blumenbeete, also eingepflanzte Blumen handelt, sondern um eine enorme Anzahl gleich- oder verschiedenfarbig blühender Pflanzen in Blumentöpfen; diese sind so aufgestellt, dass sich je gewünschte Formen ergeben. So werden kahle Steinplätze verschönert. Zu erwähnen sind auch die vielen Bäume an den Straßenrändern, die Nanjing das Gepräge einer grünen Stadt geben.

Samstagnachmittag: Im Freizeitpark herrscht der übliche Betrieb, Großeltern führen Enkel aus, vor einer Wand mit künstlichen roten Rosen und dem Satz I (Herzform) China, fotografieren sich viele Paare, zum 70. Jubiläum der Volksrepublik gibt es die Bewegung wo ai ni (ni = China, Ich liebe China). In Parks und auf kleinen Plätzen vor Verwaltungsgebäuden gibt es abends Turn- und Tanzübungen, am Nachmittag in Parks auch oft Paare, abends vor allem Frauen, ballettförmige Tanzbewegungen, häufig eine Lehrerin mit älteren Personen. Viele Fußgänger sind mit transparenten Plastiktüten unterwegs, in denen durchsichtige Plastikschachteln, -dosen mit suppigen Speisen sind, niemand kümmert sich um andere, man kann aussehen, gekleidet sein, Haare gefärbt wie man will. In einem eher versteckten, aber dennoch allgemein bekannten Winkel des Freizeitparks – viele junge Frauen sind hier unterwegs – halten Eltern Fotos ihrer Söhne hoch oder haben die Fotos an Tafeln angebracht, offenbar eine private Eheanbahnungsbörse.

Ein ähnliches Bild von Freizeitaktivitäten erlebe ich in Guangzhou (Kanton) im Süden Chinas, wo es einen großen parkartigen Campus mit altem Baumbestand gibt. Ich bin dort zur Tagung in der zweiten Hälfte Dezember, es ist wie im Frühling, sehr mild, grüne Rasenflächen, blühende Judasbäume. Die Klinkerhäuser auf dem Campus erinnern an nachgebaute Originalität in Shanghai. Frühstückstisch im Uni-Hotel mit Blick auf Grünfläche, Liegewiese, ein Paar sitzt auf dem Rasen, Bäume ringsum vollständig belaubt, lange Luftwurzeln, die sich dem Erdboden nähern, um dann einzuwachsen. In interessanten engen Altstadtstraßen laden gemütliche Straßencafés und Teestuben ein, die Fußgängerzone als Kommerzmeile wie in deutschen Städten. Auf Einladung einer Kollegin setzen wir uns in eine Teestube, die eigentlich ein Antiquitätenladen ist und den Blick auf alte Häuser in chinesischer Anmutung erlaubt.

Am Montagmorgen gehört die Uferpromenade am Perl-Fluss vor allem den Seniorinnen und Senioren, die gymnastische Übungen machen, ältere Männer laufen im Schnellschritt – Disziplin Gehen – verbissenen, verzerrten Gesichts vor Anstrengung, vor allem jüngere und ältere Frauen heben und strecken ein Bein gegen einen Baumstamm oder das Geländer der Flusspromenade, andere joggen, machen zu relativ leiser Musik Ballettbewegungen, strecken Beine und Arme, beugen Rümpfe, klopfen Schenkel, Rollstühle werden geschoben, Fahrradfahrer dazwischen, Hundebesitzer, Kot wird in Plastiktüten entsorgt, ein Senior steht minutenlang auf dem Kopf, andere Senioren haben kegelförmige, unten spitz wie eine Feder zulaufende, mit Wasser gefüllte Gefäße und schreiben mit Wasserschrift auf die Steinplatten der Promenade, ob es ein Spiel mit Zeichen ist? Jemand gibt ein Zeichen vor, andere müssen einen Satz formen? Wieder andere haben eine Art Dartpfeil oder beschwerten Federball, den sie sich zu mehreren mit den Fersen oder Unterschenkeln zuwerfen oder -schießen, überall wehende, große, bunte Tücher, die mit ballettförmigen Bewegungen geschwungen, gewirbelt, um den Körper gedreht werden, dazwischen ein Ausländer, der schreibt und von den meisten Vorübergehenden zur Kenntnis genommen wird, viele schauen auf oder in das kleine Buch, um zu sehen, wie seine Zeichen aussehen, andere nehmen ihn wie alle anderen mit ihren Videokameras oder Handys auf, Tourismus in der eigenen Stadt, ein Schreibender unter Turnern oder Tänzern ist ein Solitär, vielleicht gibt es bald mehrere? Eine Frauengruppe singt mehrstimmig, Kanon?, Männer spielen traditionelle Musikinstrumente, dann wieder eine Gruppe mit Federballschlägern und einem Softball darauf, die Kunst besteht darin, die Schläger über Kopf und Schultern zu bewegen, ohne dass der Ball fällt. Hundehalter nehmen Kontakt auf, begrüßen sich, das ist Stadt am Fluss, auf der jenseitigen Seite auch eine Promenade, das Wahrzeichen Kanton-Tower erreicht, unter der rippen- oder wellenförmigen Verkleidung wirkt der Turm desillusionierend, neben der diesseitigen Promenade Tramtrasse, sehr viele Großeltern mit Enkelkindern unterwegs. Ein Angler hat einen großen Fang gemacht, riesiger Fisch, viele Passanten bleiben stehen, um den Todgeweihten in der Plastikwanne zu sehen, 10 Personen jetzt, dann wird der Fisch in einem Netz wieder in den Fluss hinuntergelassen, wohl damit er frisch bleibt, auch ist eine scheinbar Mondäne mit hochgeschlitztem rotem Kleid unterwegs, spontan: hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein, im besten Sinn. Jeder lässt jeden machen, was er oder sie will, nur konkurrenzloses Interesse für alles, kein Streit um den besten Platz. Ein Barbier bietet seine Dienste ebenso an wie eine Maniküre, der Kunde / die Kundin sitzt auf einem Hocker, der Meister / Shifu hat seine wenigen Utensilien auf der Baumscheibenumrandung abgelegt.

Bei der zweiten Brücke mündet ein Zufluss aus der Stadt, der seinerseits von einer Brücke überspannt wird, offenbar gibt es vom Meer her Gezeitenwirkung, jedenfalls gerade Niedrigwasser, der Flussboden sieht aus wie Schlick und riecht wie Schlick der Nordsee, man sieht hineingeworfene Fahrräder, Blechkästen und anderen Abfall. Auf der gegenüberliegenden Seite die Skyline? Viele Hochhäuser.

Südliche Vegetation: große Palmen, Bananenbäume, blühende Bäume und Blumen, dazu wieder weit über 20 Grad, Gärtner beregnen die Anlagen, mein Schreiben weckt weiterhin Aufmerksamkeit, manche Personen kommen direkt zu mir, um zu sehen, was ich mache, unbeeindruckt wenn ich aufschaue und sie anschaue, dann jedoch verlegenes Lächeln, nicht unsympathisch, schreibender Europäer auf Uferpromenade, das ist allzu außeralltäglich. Selbst für touristische Flussbootsfahrten muss der security check in der üblichen Form sein, auf der gegenüberliegenden Flussseite Tribünen vor vier Metalltürmen: Sprungübungen, Bunge jumping?

Ist man in Nanjing unterwegs, bleibt es nicht aus, dass man irgendwann zur sogenannten deutschen Bäckerei kommt, einem kleinen – zumindest sichtbar von chinesischem Personal geführten – Bäckereigeschäft mit einigen Tischen und Stühlen bzw. Sofas auf der Empore, in dem man tatsächlich Kaffee und Schwarzwälderkirschtorte, Käsekuchen, Salzbrezeln, Brötchen und Brot nach deutschem Rezept bekommt. Aber auch deutsche Bierausschänke gibt es, wo aus Deutschland importiertes Fassbier gezapft und Schnitzel Wiener Art mit Pommes Frites, Flammkuchen, Weißwurst oder Sauerkraut angeboten werden. In der Regel sind diese Gaststätten sehr gut besucht, die größte, in bayrischem Stil eingerichtete, mit einer Vielzahl von Biersorten und Speiseangeboten und chinesischen Kellnerinnen im Dirndl, Kellnern in trachtenähnlichen Anzügen, wird besonders von chinesischen Gästen besucht. ›Kneipen‹ kommen bei chinesischen und ausländischen Studierenden gleichermaßen gut an. Zu den besonderen Orten gehört auf jeden Fall auch die Buchhandlung ›Avantgarde‹, die tatsächlich so heißt, der Name ist in großen lateinischen Buchstaben am Eingang und auf Prospekten angebracht. Aus europäischer Perspektive sind die Nanjinger um diese Buchhandlung durchaus zu beneiden. Es ist eine wahrhaft riesige Buchhandlung, die in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Tiefgarage eingerichtet ist, die wiederum in die Hangseite eines innerstädtischen Hügels eingebaut worden war. Zugang und Eingangsbereich der Buchhandlung haben eine leichte Senkung – Einfahrt in den Hügel –, dann im Innern kontinuierlicher Anstieg und Verbreiterung der Räumlichkeit. An den Seitenwänden sind Porträtplakate vor allem europäischer und amerikanischer Schriftsteller, Schriftstellerinnen und Avantgardisten mit faksimilierter Unterschrift aufgehängt. Während die Buchhandlung nach meinem Eindruck einfach ein schier unerschöpfliches Angebot aller Fach- und Wissensbereiche bereithalten muss, bestätigen meine chinesischen Kollegen, dass hier ein Präsenzangebot chinesischsprachiger Bücher zu finden sei, das die allermeisten Interessen- und Wissenschaftsbereiche bis in spezialisierte Ausformungen abdecke. Aktuelle belletristische Werke ebenso wie übersetzte Texte ausländischer Autoren sind in vielen Exemplaren vorrätig. Auch die Vielzahl an Übersetzungen wissenschaftlicher Bücher ist beeindruckend. Leider fehlt eine fremdsprachige Abteilung, es gibt nur ein relativ schmales Angebot zweisprachiger Ausgaben. – (Beim Besuch eines auf die Vermittlung ausländischer – auch moderner – Klassiker spezialisierten Nanjinger Verlags wurde ich in die marktorientierte Auswahl der zu übersetzenden Texte und deren aufwändige und sorgfältig gemachte Ausstattung für ein entsprechend auf internationale Bildung ausgerichtetes Publikum informiert. An der Fremdsprachenhochschule in Beijing werden – wenn ich richtig informiert bin – über 140 Sprachen gelehrt.) – Besonders angenommen wird auch ein stattlicher Lesebereich, in dem man in bequemen Sesseln sitzend Bücher aus dem Angebot der Buchhandlung ohne Kaufverpflichtung lesen, sich Notizen machen oder im Laptop schreiben kann. Allem Anschein nach wird diese Möglichkeit eines warmen, ruhigen Arbeitsplatzes von Studierenden gern genutzt. Dazu gibt es einen Cafébereich, wo man sich bei diversen Getränken und Snacks von der Lesearbeit erholen oder bei Gesprächen inspirieren lassen kann. Architektonisch ist das Café so situiert, dass die benachbarten Abteilungen der Buchhandlung nicht durch einen ständigen Geräuschteppich beeinträchtigt werden. Neben Büchern werden auch kunstgewerbliche Artikel und Nanjingiana angeboten. Beim Rückweg fällt ein überdimensioniertes schwarzes Kreuz hoch an der Stirnwand auf, der Inhaber sei, so erfahre ich, Christ.

Durch Vermittlung eines Kollegen mache ich die überaus anregende Bekanntschaft mit dem international bekannten Buchkünstler Zhu Yingchun in Nanjing, der schon mehrere bedeutende Buchkunstpreise – auch in Deutschland – gewonnen hat. Zhu lässt sich von Naturformen für seine Kunstformen anregen. So haben ihn Formen des Vogelkots zu ungewohnten Vogelfiguren (cacaform birds) inspiriert, die er dann in Tusche gezeichnet hat. Bewegungsabläufe von Ameisen und Insekten, speziell Wanzen, dienen ihm als Basis für Gestaltungen von Linienverläufen und für ein Bild auf die Welt aus der Perspektive der scheinbar von Natur aus Unterlegenen, die allerdings stets die große Welt durchschauen. Bekannt ist er für seine Gestaltungen von Buchumschlägen und Einbänden. Er erzählt, dass sich jemand zwischen fünf seiner Vorschläge nicht habe entscheiden können, daher habe er kurzerhand einen Doppel- oder Wendeumschlag (vier Vorschläge) gemacht, den fünften habe er auf das Buch selbst gesetzt. So könne der Leser jederzeit entscheiden, welchen Umschlag oder welche Einbandgestaltung er gerade wolle. Für die Buchmesse 2020 planen wir ein Treffen in Frankfurt. Er führt uns – meinen Nachbarn, den Lyriker, zwei studentische Begleiter und mich – durch sein beeindruckendes Atelier, das er aus alten, verfallenen Gemäuern und Schuppenteilen selbst hergerichtet hat. Das Ganze befindet sich auf dem Campus der Nanjing Normal University (vergleichbar einer PH), wo er auch ein Institut für Buchkunst leitet, inmitten vieler historischer Gebäude, sehr schöner Parkanlagen, eines kleinen, naturbelassenen oder entsprechend rekultivierten Sees mit Wasserfall und Springbrunnen, Park, Wald.

Besuch eines Gottesdienstes in chinesischer Sprache an Heiligabend in der protestantischen St. Paul-Kirche. Beim Betreten des großen Kirchengrundstücks Kontrolle durch Polizisten, viele Uniformierte vor und mehrere in der Kirche, während des Gottesdienstes patrouillieren sie durch die Kirche, beziehen an offenbar strategisch wichtigen Stellen Posten, behindern den Ablauf des Gottesdienstes aber nicht. Nach Abschluss des Gottesdienstes gegen 20.30 Uhr viel mehr Polizei vor dem Kirchengelände, sogar eine Maschinenpistole ist zu sehen, mehrere Polizeifahrzeuge parken auf der Straße, was den Verkehrsfluss beeinträchtigt. Der Gottesdienst ist sehr gut besucht bis überfüllt, obwohl nur so vielen Personen Einlass gewährt wird, wie Sitzplätze vorhanden sind, aber man kann zusammenrücken. Insgesamt ist es sehr unruhig, denn ständig stehen Gottesdienstbesucher auf, um warmes Wasser in Flaschen zu holen oder – vermutlich – zur Toilette zu gehen. Auch wird ständig mit dem Handy hantiert. Als wir um 16.50 Uhr ankommen, ist die Kirche fast ganz voll, freudige Erwartung dass der Gottesdienst um 17 Uhr beginnen werde. Die Erwartung wird enttäuscht, Beginn ist pünktlich um 18 Uhr. Leute kommen, werden platziert, gehen herum, begrüßen Bekannte, verlassen die Kirche. Gehört Besinnlichkeit zur chinesischen Kultur? Viele Besucher trinken, wenige essen. Um 17.00 Uhr tritt ein Vorsänger ans Mikrophon und beginnt Weihnachtslieder zu singen, deren Texte den Besuchern auf einem Faltblatt verteilt worden sind. Er singt jeweils die erste Strophe, dann singen alle Anwesenden: Stille Nacht..., Wir wollen nun anbeten …, O come ye, o faithful …, Die Pfarrerin begrüßt dann die Gemeinde, es gibt Lesungen, die von Gemeindegliedern ausgeführt werden, Fürbitten, eine sehr lange Predigt (40-45 Minuten), eine instrumentale Musikdarbietung. Als der vielköpfige Kirchenchor durch den Hauptgang bis zum Altar einzieht, herrscht hörbare Stille und fast jede Beleuchtung ist gelöscht oder gedimmt, jedes Chormitglied trägt ein langes weißes Gewand und in der Hand einen Teller mit einer Kerze, der Chor unterstützt dann den Gemeindegesang und führt Kanons auf, die Pfarrerin spricht das Vater unser, und erteilt den Segen. Danach ist noch ein Treffen mit Kuchen und Tee im Gemeindehaus angesetzt.

Heute, 1. Jan. 2020, Gang durch die traditionelle Marktstraße von Gaochun, einem Stadtteil von Nanjing, der ca. 100 km vom Zentrum entfernt ist und als Dorf gilt, weil – oder für uns obwohl – er nur 400 000 Einwohner hat. Zu sehen gibt es vor der Kulisse kleiner, traditionell gebauter und originaler Häuser viel getrocknetes Fleisch – Enten, Gänse, Schweinsköpfe – und Fisch, in Binsen lebend verpackte, sehr große Krebse, die dann in kochendem Wasser gegart werden. Wir werden hier, im ›Dorf‹ Gaochun, durchgehend als Fremde, als Nicht-Chinesen wahrgenommen, gefilmt, fotografiert, Eltern machen ihre Kinder auf uns aufmerksam, in Deutschland wäre das für manche politische Positionen Rassismus, wenn Deutsche Ausländer, Farbige so anstarrten, man ging sehr dicht an uns vorüber und drehte sich dann um, um uns von vorn wahrzunehmen. Zwar ist die fehlende Distanz gewöhnungsbedürftig, wirkt aber in keiner Weise diskriminierend oder bedrohlich. Mitunter werden wir freundlich auf englisch gefragt, ob wir bereit sind, uns mit den chinesischen Passanten fotografieren zu lassen. Wir besichtigen in der Hauptstraße ein repräsentatives, völlig original erhaltenes Wohnhaus einer Großfamilie aus dem 18. Jahrhundert mit einigen originalen Einrichtungsstücken. Die Aufteilung der Räume nach dem Rang der Familienmitglieder veranschaulicht die Familienstruktur der Zeit und die unterschiedliche Geltung der Geschlechter. In einer kommerziellen Ausstellung informieren wir uns über aktuelle Geschirrformen aus Porzellan und Steingut.

Gespräch mit einem jungen Kollegen, der vor kurzem geheiratet hat und erzählt, dass der Tag der Hochzeit von einer Wahrsagerin nach bestimmten Merkmalen wie Alter, Tierzeichen des Geburtsjahres der Brautleute im Rahmen des Mondkalenders festgelegt, d.h. wohl nach magischen Formeln berechnet wird, dass also an schicksalhafte, übermenschliche Einflüsse geglaubt werde. In Jahren des Schafes, eines Tieres, das in der chinesischen Kalender-Mythologie als dumm gilt, werden signifikant weniger Kinder geboren als in Jahren des Pferdes und des Affen, die das des Schafes rahmen. Dies habe zur Folge, dass einige Jahre später in den Schulen weniger Konkurrenz herrsche. Ich frage ihn, ob nicht eine nennenswerte Gruppe von Eltern gerade von dieser konkurrenzreduzierten Konstellation zu profitieren hoffte, indem sie ihr Kind entgegen dem Trend im Jahr des Schafes zur Welt brächte. Dies scheint keine Alternative zu sein, die ernsthafte Erwägung verdiente. Am angesehensten sei das Jahr der als besonders intelligent geltenden Ratte, das gerade wieder – 2020 – begonnen hat und in dem folgerichtig das erste Kind meines Kollegen geboren werden solle. Übrigens ist die Finanzierung der Hochzeit, in seinem Fall eine mittlere von unter 400 Gästen, wie er sagt, auch Sache des Vaters bzw. der Eltern des Bräutigams. Würden die Brauteltern sich beteiligen, würde das einen Gesichtsverlust seines Vaters bedeuten. Immer wieder begegnet mir der Ausdruck ›sein Gesicht verlieren‹, was auf die große Bedeutung der Einhaltung sozialer Stereotype hinweist.

Freundliches Erlebnis im Golden Eagle (Shopping Mall): Nichtsahnend auf der Suche nach einer chinesischen Teekanne – die wir nicht gefunden haben – stehen wir vor der großen Wedgwood-Präsentation und werden eingeladen, am britisch, mit Wedgwood-Geschirr gedeckten Teetisch Platz zu nehmen, um aus Wedgwood-Tassen britischen schwarzen Tee zu trinken, der uns außergewöhnlich gut, aber ganz anders als manche ebenso gute chinesische Teesorte schmeckt. Inzwischen haben sich die übrigen Tische mit anderen Zufallsbesuchern, potentiellen Wedgwood-Kunden, gefüllt; ein wie ein Schüler einer Butlerschule gekleideter junger Mann – mutmaßlich aufgrund seines Englisch-Akzents ein Osteuropäer – tritt auf und erklärt den angemessenen, d.h. wohl britischen Umgang mit Tee, d.h. der richtigen Haltung der Teetasse, des richtigen Sitzens, Sich-Setzens und Aufstehens sowie des Sich-Bedienens und des Essens der auf je zwei Etageren pro Tisch für vier Personen von weiß behandschuhten Bedienungen präsentierten Snacks, Sandwiches, süßen Teilen (Macarons, oben auf der Etagere). Gesellschaftsfähig und daher zu empfehlen sei, eine Tasse mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger am Henkel zu halten, diesen gleichsam zwischen die Finger einzupressen, nicht – wie üblich – den Zeigefinger durch den Henkel zu stecken, um eine unweigerlich dabei entstehende Faust – unelegant – zu vermeiden. Alle Gäste machen es probeweise nach, benutzen aber vorsorglich, um Scherben und Teeflecken auf ihrer Kleidung zu vermeiden, auch die zweite Hand, wir verwerfen diese Methode als zu risikoreich gerade angesichts so teurer Geschirre wie Wedgwood, denn die Belastung durch eine gefüllte Tasse ist beim Einklemmen des Henkels zwischen den drei Fingern für diese und das Handgelenk sehr groß, leicht kann die Tasse in Folge einer Verkrampfung entfallen und zerspringen. Vor allem ich labe mich an Tee und Beilagen.

Wir kommen mit zwei chinesischen Tischnachbarinnen, die sich nicht kennen, auf Englisch ins Gespräch, beide setzen sich sehr für unsere Suche nach einer typischen chinesischen Teekanne ein, zeigen uns mit Hilfe ihrer Handys den Weg zu Fachgeschäften, die womöglich die gesuchten Teekannen führen, was die immer wieder von mir erfahrene chinesische Hilfsbereitschaft bestätigt. Als wir nach der Veranstaltung auf dieser Etage der Mall weiter schlendern, sehen wir den hochgewachsenen mutmaßlichen Butlerschüler mit seiner chinesischen Begleiterin, die alles Englische übersetzte, auf einer Bank sitzen, aber überhaupt nicht vorschriftsmäßig gerade und aufrecht, sondern zusammengeknickt, Ellenbogen auf die Knie gestützt, Kopf in die Hände gelegt, Gesten, die er zuvor als unelegant und unmöglich verurteilt hatte. Aber jetzt ist er im Anorak, nicht mehr im schwarzen Anzug als Berufskleidung. Die beiden Chinesinnen an unserem Tisch sitzen noch immer dort und plaudern offenbar wie neue alte Bekannte. Wir sind sehr überrascht über die Luxus-Shopping-Malls in Nanjing, die es in größeren Städten wahrscheinlich noch aufwändiger, imposanter und häufiger geben mag, die man in Deutschland eher selten trifft, wo schon die Warenhäuser schließen. Worauf mag aber dieser eher wenig besuchte Luxus hinweisen?

Bei meinen Gängen durch verschiedene Stadtteile fällt mir mehrmals auf, dass auf Gehwegen symbolisches Papiergeld verbrannt wird, was, wie ich aus der Literatur weiß, zum traditionellen Trauer- und Begräbnisritual gehört, um der Seele des / der Verstorbenen den Weg zum und den Aufenthalt im Totenreich durch das mitgegebene Geld angenehm zu machen, so dass sie nicht wieder zu den Angehörigen zurückkommen muss. An Häusern oder Brücken gibt es keine Graffiti, wohl aber in fast jedem Haus nicht nur an Hauptstraßen einen Laden, Gemüse, Obst, Mode, Apotheke, Elektrogeräte, Unterwäsche, Klaviere, Blumen, Spielzeug, Milchprodukte, Garküchen, Fleischspezialitäten: braun und kross gebratene oder gegrillte panierte Geflügelhälse, -füße, dazu viele Straßenhändler, die Obst, Frühstückssnacks, Pfannkuchen, Reissuppe anbieten. Fast alle Produkte sind made in China. An vielen Stellen begegnen Geruchsmischungen aus Küchen, Garküchen, Gullys, U-Bahnschächten. Immer wieder neu enttäuschend, zugleich motivierend für den Spracherwerb ist die Erfahrung, dass ich so einfache Informationen wie Werbung für Konsumartikel, Süßigkeiten, Pizza, Kleidung usw., Plakate für Naturschutz und Aushänge mit geringen Textmengen nicht lesen kann. Weihnachtsdekorationen (Nikolaus, Tanne, Plastikweihnachtsbaum, Spruchband Merry Christmas) kommen weitgehend ohne Text aus, weil dieser durch die pikturalen Elemente ausgeglichen wird. Dennoch: Das erzeugt ein Gefühl von Unzugehörigkeit ungeachtet der vielen Menschen, die sich zu jeder Zeit auf Straßen, Plätzen, in Parks, Freizeitanlagen usw. aufhalten. Vor und auf den Rolltreppen drängt sich alles zusammen, so dass man zu Fuß auf der Treppe schneller und besser vorankommt, alle verhalten sich allerdings diszipliniert. Auf den Verbindungswegen zwischen den U-Bahnlinien schieben sich die Fahrgäste langsam vor, plötzlich bleiben alle scheinbar ohne Grund stehen. Kreatives Alleinsein ist möglich auf weitläufigen Unicamps, die z.T. in Waldgebiete gebaut worden sind.

Mitunter fällt die Gleichzeitigkeit von Modernität, Größe, Weite, der Sichtbarkeit von Quantitäten und damit kontrastierender scheinbarer Unzeitgemäßheit und Enge auf. So sieht man Personen, die eine Stange über Nacken und Schultern gelegt haben, an deren beiden Seiten Seile hängen, die wiederum Körbe halten, in denen alle möglichen Gegenstände transportiert werden. An Nebenstraßen kann man in kleinen Läden, die wie eingerichtete Garagen wirken, seinen gesamten Hausstand inklusive Bettwäsche und Steppdecken erwerben. Die Reinigung der Gehwege erfolgt weitgehend von Hand mit Reisigbesen. Gebäudereiniger, die auf einer hydraulischen Hebebühne meterhoch über dem Boden stehen, waschen eine moderne Hochhausfassade mit einem kleinen Lappen in der Hand.

Heute heißt es Koffer packen, mein Aufenthalt geht zu Ende, ich habe mich schon von Kolleginnen und Kollegen, von Studierenden und Nachbarn verabschiedet. Dabei haben mir die Studierenden beider Kurse ein Abschiedsgeschenk zur Erinnerung überreicht: Ein Notizbuch – woher wissen die Studierenden von meinen Notizen bei meinen Stadtgängen – mit einer persönlichen Eintragung jeder und jedes Einzelnen auf den ersten Seiten und ein kunstvoll gestaltetes Lesezeichen, beides mit dem Emblem ›meiner‹, besser unserer Universität. Zum Mittagessen gibt es noch einmal gefüllte Teigtaschen von der Garküche, die vor kurzem eröffnet wurde (Start-Up-Unternehmen?), sehr schmackhaft, dazu chinesischen Rotwein (Great Wall). Spürbare Abschiedsstimmung, mein Semesteraufenthalt ist reich für mich an Erfahrungen, Kenntnissen und vor allem an Kontakten. Ich habe Menschen kennengelernt, die mit ihrer Lebenswelt zufrieden sind, insgesamt ein Leben in Dynamik, Offenheit und mit Perspektive. Die letzten Gespräche mit meiner Kollegin betreffen die Fortsetzung unserer Kooperation und meiner Tätigkeit in Nanjing. Fest geplant wird ein zweiwöchiger Aufenthalt einer Gruppe chinesischer Studierender und Dozenten in Deutschland im Frühsommer 2020, das Programm für je eine Woche in Heidelberg und Weimar haben wir gemeinsam erarbeitet. Im September 2020 werde ich dann wieder in Nanjing sein.



[1]   Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Textredaktion: Jost Perfahl. Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Wolfgang Pfeiffer-Belli sowie Anmerkungen und Bibliographie von Hansjörg Platschek. München 1972, S. 345.

[2]   Friederike Böge:Zwischen Normalität und Nervosität. Nirgendwo in China sind die Regeln im Kampf gegen das Coronavirus momentan so streng wie in Wuhan. Das liegt auch daran, dass die Stadt zum politischen Symbol geworden ist. In: FAZ 21.12.2020, S. 3.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/bd03.htm
© Burckhard Dücker, 2021