Ressource Kunst – Heaven meets earth

Streetart Festival in Eresing / Sankt Ottilien, 2012

Barbara Wucherer-Staar

>>Was unter all den trügerischen Erscheinungsformen nicht ebensoviel Daseinsberechtigung, soviel Wahrheit enthält, sich nicht den formalen Beschränkungen unterwirft wie ein Graffito, es sei als wertlos verworfen.<<                       G. H. Brassai, 1933[1]

Assoziationen bei einem Rundgang durch das Gelände der Erzabtei St. Ottilien im Herbst 2020.

Bei Besuchen in der Erzabtei St. Ottilien haben wir dort vor einigen Jahren die monumentalen StreetArt-Gemälde entdeckt. Bei unserem Aufenthalt im Oktober 2020 vor dem November-Lockdown entstanden diese Überlegungen. Die Inhalte der Bilder lassen einerseits die aktuelle Pandemie vergessen – sie stehen darüber. Führen aber gerade in ihrem assoziativen Gedankenlauf zu allgemeingültigen Überlegungen auch und gerade für unsere Jetzt-Zeit.

Einst taggten Sprayer Züge, damit ihr Name durch das ganze Land fahre. Diese Sprache, mit der eine ganze Generation groß geworden ist, die subversiv oder vehement Öffentlichkeit fordert - gestern wurde sie als Sachbeschädigung geahndet, heute erobert sie den etablierten Kunst- und Ausstellungsmarkt. Manche der neuen Künstler erhalten offizielle Aufträge. Eine an die Wand gesprühte Banane des Kölner Sprayers Thomas Baumgärtel gilt inzwischen bei Museen und Galerien als Auszeichnung.

Arkadien in Bayern?

12 international und regional renommierten Urban Artists - wie Mirko Reisser alias DAIM, Tobias Krug, AEC / Waone und Nychos - glückt auf dem Gelände des Klosters St. Ottilien eine hervorragende, pfiffige Schau, die zum lebendigen Dialog über high and low Art, über Tradition und Gegenwart lockt. Der Titel der Ausstellung „Heaven meets Earth“ greife, so die Kuratoren Christian Burchard und Pater Cyril Schäfer OSB, den Traum von einer gerechteren Welt auf. Ebenso den Wunsch von Erzabt Wolfgang Öxler, dass Menschen zugleich „gehimmelt und geerdet“ bleiben mögen.[2]

Farbenfroh gesprüht, gemalt, mit Schablonen und mit am Computer generierten Konzepten erobern sie große Wandflächen an Gebäuden. Sie alle haben ihre Techniken und Motive virtuos erweitert:  Von der Erschaffung Adams nach Michelangelo - (und vielleicht auch von der frühen Siebdrucktechnik (Punktemalerei) Sigmar Polkes inspiriert) - über ein Schiff, das die Lebensreise vom Räuber Mathias Kneißl symbolisiert, wenn er darin mit einem Indianer die Friedenspfeife raucht bis hin zu einem Memento Mori, dem Sensenmann mit Gamsbart, der im Sarg liegt anstatt - wie im Basler Totentanz - mit den Lebenden ins Jenseits zu tanzen.

Der Begriff „want“ aus dem Althochdeutschem, neutral definiert als ein mit Lehm bestrichenes Flechtwerk, schließt die Möglichkeit einer architektonischen Schutzfunktion ebenso ein wie eine räumliche Trennung. Eine sehr frühe Funktion von Wandmalerei war die symbolische Bannung von Gefahren. In der Felsenhöhle Alta Mira (Nordspanien) wurden gefährliche Tiere groß aufgemalt, bevor man sie erlegte. Diese Funktion hat sich über Jahrhunderte erhalten. (zum Beispiel in einem Stich Paul Gavarnis, darin schreibt ein Inhaftierter auf die Wand in einem Schuldgefängnis: “Dreimal Schande auf diese Hauptdenunzianten“).

Neben der Bannung drückt sich in Bildern auf der Wand auch Verehrung aus. In Ägypten malte man in der Pharaonenzeit Bilder für die Toten auf Grabwände. Bilderzyklen an Kirchenwänden und -decken illustrierten seit dem Mittelalter die Texte der Heiligen Schrift. Bildung im Sinne von Wissensvermittlung hat in einer Zeit, als nur wenige lesen konnten, ihren Ort an der Wand.[3]

Diese legitim in die Öffentlichkeit eingebundene Vermittlungsfunktion der Wand, mit magischem oder transzendentalem Charakter, die nach festgesetzten Regeln ablief, findet sich genauso in der verbotenen Bemalung der Wand. Graffiti kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor: Im Bereich der Subkultur, der „schlechten Gesellschaft“, finden wir die einfachen und individuellen Bildregeln der Straße, die jeder innerhalb dieser Gruppe kennt und beherrscht.

Zwischen diesen Polen rein künstlerischer, wertfreier und formaler Inspiration vor der Wand und dem praktisch-revolutionären Potential von Graffiti ergeben sich zahlreiche Impulse zur künstlerisch-malerischen Auseinandersetzung mit der Wand.

Heiligenlegenden neu erzählt

CONE schildert, wie der bärtige Heilige Laurentius, Schutzheiliger der Köche, mit einem Nimbus aus Weißwürsten, zünftig gekleidet in Lederhose, an der Nordwand am Klosterladen ins Schlaraffenland schwebt. Angelockt von wohlriechenden Spanferkeln, Brezen und Gemüse hinter der Hausecke streckt er die spindeldürren Finger aus. Brille, Schuhe und Socken fliegen davon.[4]

Spielzeugwelt und Jahrmarkt

An der Nordwand der Schulkantine dagegen entwerfen Interesni Kazki (= interessante Märchen) - die beiden Kiewer Streetartisten WAONE und AEC - ein präzis gearbeitetes, kurioses und fantasiereiches Szenario auf sorgfältig vorbereitetem grüngelbem Grund. Wie auf einem Votivbild kniet die Heilige Ottilia - Schutzpatronin für das „gute Sehen“ - mit Lehrbuch und Heiligenstab auf einem Kreisel, der sich auf dem Federhut eines schnurrbärtigen Kopfes mit bunter Halskrause befindet. Diese wiederum ist Dach eines Kettenkarussells, an dem angeleinte Puppen im Kreis schwingen. Weitere Versatzelemente auf diesem rätselhaften, surrealen Rummelplatz und Weltspiegel: eine kniende Figur mit dachähnlicher Kopfbedeckung und Taube und eine Hand mit ausgestrecktem Kelch.[5]

Paradies - und dann ? DOTMASTER

Die Erschaffung Adams nach einem der Fresken zur Genesis von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle kreiert der Brite Dotmaster am Eingang des Klostergartens in siebdruckähnlichen Punkten (dots). Gott-Vater erweckt Adam mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Leben.

Er zeigt aber auch das Ende des Paradieses: „We Were given paradise“, schreibt eine Figur an die Wand der Metzgerei und legt den Zeigefinger warnend an den Mund. Denn aus dem Paradies ist ein Kalvarienberg aus grauen und einigen farbigen Müllsäcken geworden, bekrönt mit Flaschen in einer gelben Tüte. Was an Wänden in Pariser Gassen von den Fotografen Eugene Atget und G. H. Brassai als Spur von Geschichte und Verfall entdeckt und fotografiert wurde – das Motiv des Zerfalls und des Pittoresken – wird bei Dotmaster zur ironischen Bestandsaufnahme und Warnung.[6] „Die Straße“, so der Graffiti-Aktivist des Londoner Underground, „ ist unmittelbar, es braucht keine Übersetzung. Ihre Vereinnahmung, Verschmutzung und Würde sind letztlich ein Ausdruck unserer heutigen Gesellschaft.“[7]

Ablasshandel? Alexander EWGRAF

Auf dem Menetekel „was kostet Deine Seele?“ will Mephisto in Businessanzug und dunkler Brille es stellvertretend für den Künstler Alexander EWGRAF wissen. Auf der leuchtend rot grundierten Ostwand hinter dem EOS-Verlagsgelände fordert er den Betrachter ebenso eindringlich wie der Mann auf der James Montgomery Flagg I Want You for U.S. Army (1917), einem Rekrutierungsplakat aus dem Ersten Weltkrieg.

„Die menschliche Seele“, so der deutsch-russische Maler und Installationskünstler EWGRAF, sei … „ein Ort, wo sich Himmel und Erde treffen. … Man kann die eigene Seele verlieren und sogar verkaufen. Auf seine ganz eigene Weise hält uns der Verführer Mephisto wach, da er … stets das Böse will und stets das Gute schafft … Seine verlockenden Versprechungen können uns aber aus der Gleichgültigkeit herausreißen - der Himmel muß nicht fern sein.“[8]

Bärchen im Krieg - FLYING FORTRESS

Auf dem Schuttplatz hinter der Druckerei und an weiteren Orten finden sich Kopf und ausgestreckte Pfoten großer blauer Bären unter einem Soldatenhelm. Das Logo der Gruppe Flying Fortress mahnt und erinnert zugleich an Spielzeug von Kindersoldaten.[9]

HERAKUT

Die GrafikerInnen Hera (Jasmin Siddiqui) & Akut (Falk Lehmann) arbeiten seit 2004 zusammen. Zwei ihrer feingliedrigen, dürren Figuren nörgeln und beschwichtigen an der Schulkirche am Eingang zum Gymnasium. Er sei anders, darauf pocht ein fast haushoch realistisch gemalter Junge, auch wenn ein ihm auf dem Dach gegenübersitzendes kleineres Mädchen im Marienkäferkostüm versucht, seinen Ärger umzulenken.[10]

Kosmischer Klangraum: lautlose impulse – eine Abbildung der (Kloster-) Zeit: Tobias KRUG

Auf dem Weg zur Baumallee nach Geltendorf hält Tobias Krug (* 1972) den zeitlichen Verfall, wie er an Mauern ablesbar ist, auf. Ein ornamentaler, geometrischer, leuchtend farbiger Fries veranschaulicht auf etwa 40 m Westwand am Geräteschuppen entlang „planetarische Rhythmen“: den Zeitraum von 111 Jahren - von der Weihe der Klosterkirche (29.06.1903) bis September 2012.

Für diese mathematische Übersetzung von Astronomie in Konkrete Malerei und Klang setzt er die Planetenkonstellation innerhalb der 111 Jahre in errechnete Bewegungspunkte um - grafisch, farblich und hörbar. Verschiedenfarbige Schwingungen kennzeichnen die Position der Planeten zur Sonne im Jahreszyklus. Dabei entspricht 1 mm einem Tag. Aufführungsdauer: 36:56 Minuten, 1 Jahr = ca. 20 Sekunden.

In seiner Arbeit bezieht er sich auf das dritte Planetengesetz des Astronomen, Mathematikers und Naturphilosophen Johannes Kepler (1571-1630), publiziert 1619 in Keplers fünftem Buch der „Harmonices Mundi“ (Weltharmonik).[11]

„Mittels Mathematik“, so Krug, „und der Kenntnis der physikalischen Gesetze, insbesondere des 3. Planetengesetzes von J. Kepler, lassen sich die Beobachtungen der Stellung der Planeten durch Berechnungen ersetzen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bezogen auf die Planetenpositionen, sind dadurch universell fassbar. Mittels Mathematik und Kenntnis der harmonischen musikalischen Intervalle lassen sich Zahlenverhältnisse in Tonfrequenzen wandeln.“[12] Ein von Krug entwickeltes Computerprogramm berechnet nach den Konstellationen der Planeten und einer Anzahl anderer astronomischer Parameter synthetische Klänge für 8 Planetenspuren. Die Musik entsteht in Zusammenarbeit mit dem Musiker Brian Cranford. Am Anfang entspricht ein Jahr 20 Sekunden, dann werden die Zeitabläufe zunehmend schneller.

Gemauerter Lebensraum - M-CITY

Kritischer Ausblick: eine ornamentale, menschenleere, computergenerierte Stadt-Landschaft des polnischen Künstlers Mariusz Waras, alias M-City. Er greift für seine Arbeit die getreppte Struktur des Giebels auf und ändert so die Ost-Wand der Scheune in eine barocke Scheinarchitektur. Ebenso wie die Gebäude sind auch die Tannenbäume gemauert.[13]

Der Tod trägt Gamsbart - NYCHOS

Lädt der Tod im Reigen des mittelalterlichen Basler Totentanzes alle Vertreter von Ständen - vom Kaiser bis zur Äbtissin und Malerin - ein, mit ihm ins Jenseits hinüber zu tanzen, liegt er hier, an der West-Seite des alten Bullenstalls selbst in einem Sarg. Der Grafiker und Designer Nychos kleidet ihn mit einer Lederhose und mit einem Hut mit Gamsbart. In seinem offengelegten Skelett finden sich Gedärme, Blutadern, Venen und innere Organe. Das Bild erinnert an die zur Ikone gewordene Darstellung „Tod von Basel“. Auch aus dessen aufgeschlitztem Bauch kommen Gedärme oder Schlangen hervor und manchmal trägt er einen Federhut. Krönung der skurrilen Szenerie: fallende Euroscheine („Memento money“) und eine Friedenstaube. Findet der Tod hier, im Refugium der Abtei, einen guten Weg zum Himmel wie im Mittelalter im Sinne einer „ars bene moriendi“?[14] [15]

Der Moskauer Künstler Stanislav SCHEME (geboren 1989) verfremdet die Fassade der EOS-Druckerei zu einem wandhohen, geometrischen und bunten Ornament. Eindrucksvoll ändert er so die Wahrnehmung der gesamten Architektur.[16]

Lebensreise ins Gelobte Land - Karl Witti

Auf der Wand an der Schwimmhalle am Eingang zum Gymnasium entwirft der Kunst- und Theatermaler Karl Witti das Szenario Matthias Kneißl fährt nach Amerika. Matthias Kneißl (1875-1902), bairischer Schreinergeselle, Räuber und Idealist, von der Bevölkerung geschätzt, von der Obrigkeit gejagt, ist - im Traum - entflohen. Neben seinem Fahrrad stehend raucht er mit einem Indianerhäuptling die Friedenspfeife. Das steinerne Segelboot, in dem die beiden stehen symbolisiert seine Lebensreise und seine Ankunft in einer idealen Welt, „einer utopischen Einheit von Mensch und Natur“.[17]

Anmerkungen


[1]    (G. H. Brassaï, in: Du murs des cavernes au mur d’usines (Von der Höhlenwand zur Fabrikmauer), in: Le Minotaure, 3/4, Paris 1933, S. 6-7. Der Fotograf Brassaï regte u.a. Jean Dubuffet zu „Mauerbildern“ an; bereits Leonardo da Vinci empfiehlt in seinem Traktat über Malerei, Mauerwerk als Inspiration für die Bildgestaltung zu nutzen.

[2]    Projektarbeiten und internationales Street Art Symposium im Kloster St. Ottilien, Kreis Landsberg am Lech, 24.09 bis 04.10.2012 / in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Vis-á-vis, Eresing., weitere Informationen und Abbildungen s. http://heavenmeetsearth.de/ und Katalog zur Ausstellung Heaven Meets Earth, 2012, Street Art in the Monastery, Ed. St. Ottilien, 2013.

[3]    Nach: Barbara Wucherer, Auch kannst Du da allerlei Schlachten sehen – Künstlerische Inspirationen vor der Wand, in: Johannes Stahl, An der Wand, Graffiti zwischen Anarchie und Galerie, Köln (duMont), 1989, S. 137 ff.

[6]    Zur Tradition des Pittoresken und Ästhetik des Verfalls s. Wucherer, wie Anm. 3.

[7]    Kat. Heaven meets earth, S. 35 /http://dotmasters.co.uk/; zum Projekt angeregt wurden die Künstler von den Aktionen des britischen Streetartisten Banksy. In dessen Kultfilm „Banksy - Exit Through the Gift Shop“ finden sich unter anderem auch von Dotmaster signierte Werke.

[8]    nach Kat. 2013, S. 43, http://likimix.de/

[12]   s.a. www.tobiaskrug.de; www.planeten-musik.de und Ausst.-Kat. 2013 (wie Anm. 2), S.83

[13]   www.m-city.org; auf seiner Webseite bietet Waras das Computerspiel City-Constructor an, mit dem jeder seine eigene Stadt bauen kann.

[14]   Todten-Tanz, wie derselbe in der löbl. und Welt-berühmten Stadt Basel als ein Spiegel menschlicher Beschaffenheit künstlich gemahlet und zu sehen ist: nach dem Original in Kupfer gebracht nebst einer Beschreibung von der Stadt Basel / [desinée et gravée sur l'original de feu Matthieu Merian]. Basel : Im-Hof, 1744 [erschienen] 1789), Digitalisat, Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, 2011, Zur Tradition der ars bene moriendi: Dagmar Preising, Der gute Weg zum Himmel. Spätmittelalterliche Bilder zum guten Sterben. Das Gemälde ars bene moriendi aus der Sammlung Peter und Irene Ludwig, Ausstellung Ludwig-Galerie Oberhausen, Bielefeld, 2016 (Rezensionen: Ars Bene Moriendi. Assoziationen von Marilyn Monroe beim Gang durch die Ausstellungen in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – „Der gute Weg zum Himmel“ und „American Pop Art sowie Jean Tinguelys „Mengeletotentanz“ in der Ausstellung „Tinguely -Super Meta Maxi im Kunstpalast Düsseldorf, in: www.theomag.de, Heft 102, August 2016) und Für Jedermann: Transzendenz und Öffentlichkeit. Stichworte zu HAP Grieshabers Totentanz von Basel (Rez. zur Ausstellung HAP Grieshaber im Folkwangmuseum, Essen) in: www.theomag.de, Heft 70, 2011.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/bws30.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2021