Cisalpino und zurück

Perugia – Frankfurt – Marburg – Münster

Karin Wendt

Corri …! Lauf …!

Der Sound Ende der 80er Jahre war für uns die Musik der italienischen Rockband Litfiba. Litfiba war die mythische und reale Sehnsucht nach dem Meer, die ironische Brechung kultureller Stereotypen und die Gewissheit, dass man jung ist, um Wut gegenüber allem gesellschaftlich Geronnenen zu empfinden und zu artikulieren. Nach dem Abitur nach Italien. Einen anderen Plan gab es nicht.

Vielleicht war es auch ein entferntes Echo dessen, was Joachim Fest ganz anders und in einer weit gefassten, historischen Perspektive in seinem Tagebuch einer italienischen Reise über die Italiensehnsucht der Reisenden vor ihm so beschreibt:

„Italien war stets die klassische Landschaft Europas, und im Grunde brach man dorthin zur Pilgerfahrt auf: anfangs im ganz buchstäblichen Sinn auf spirituellen Gewinn bedacht, mit Rom als Zielort. In der Kavalierstour seit dem späten 16. Jahrhundert, die von England ihren Ausgang nahm und bald zur europäischen Kulturmode wurde, hat sich diese Vorstellung zwar veräußerlicht. Der Gewinn, den sich die Söhne vor allem des Adels von der Reise versprachen, hatte eher urbanere Lebensformen, sprachliche Kenntnisse und erotische Abenteuer im Blick. Aber die Ahnung, von hier abzustammen, stand auch hinter dieser Wanderbewegung …“. Der Archäologe und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann hat dann „der Reise in den Süden auch den Charakter einer Pilgerfahrt, wiewohl humanistisch verweltlicht, zurückgegeben. Es war immer Arkadien, was die romantisch bewegten Reisenden seit Goethe in Italien suchten, eine ursprünglichere Daseinsform, die zugleich Befreiung von der Schwere und Verbindlichkeit verhieß … “.[1]

Ein Jahr Perugia

Eine Möglichkeit, ohne italienische Sprachkenntnisse in Italien zu studieren, war für eine Freundin und mich (und ist es wahrscheinlich auch heute noch), in die umbrische Hauptstadt Perugia zu gehen, um sich an der Università per Stranieri mit Sitz im Palazzo Gallenga einzuschreiben, für einen Monat, um die Sprache zu lernen oder für ein Anno Accademico, ein akademisches Jahr, mit einem breiten Studienangebot zur italienischen Kultur- und Geistesgeschichte. Die Unterlagen erhält man bei den jeweiligen italienischen Konsulaten einer Stadt, heute sicher auch auf digitalen Wegen.

Die 1925 gegründete Ausländeruniversität wählte als ihr Motto ein Zitat aus Vergils Aeneis: antiquam exquirite matrem („kehrt zurück zu eurer alten Mutter“). Der Rat, den der delphische Apollon auf der Insel Delos dem Königssohn Aeneas gegeben hatte, seine Urheimat aufzusuchen, die Keimzelle seiner künftigen Herrschaft, nachdem dieser mit Gefolgsleuten und seinem Vater auf den Schultern aus dem brennenden Troja geflohen war, wurde der zentrale Satz des römischen Gründungsmythos. Für die moderne Universität legitimierte dieser Wahlspruch die griechisch-römische Antike als kulturelle Heimat der westlichen Welt. An die Stelle eines nationalen, kulturimperialen Pathos ist heute eine kosmopolitische Haltung getreten: Die italienische Bildungslandschaft als Kulturbotschafter. Heimat, so deute ich den Satz von Vergil auch, ist zuerst die Sehnsucht danach, die nostalgia. Diese Orientierung bleibt, und sie reichert sich im Laufe des Lebens an mit Erfahrungen von dem, was die Sehnsucht ausmacht, stillt und immer wieder neu entfacht. Zuhause ist man in der Welt auch da, wo man etwas gelernt hat.

Die Valle Umbra, das umbrische Tal, war bereits zur Zeit der Villanovakultur besiedelt. Gut 300 v. Chr. taucht der Name Perusia auf. Im 6. Jahrhundert v. Chr. war Perugia Teil des Zwölfstädtebunds und die mächtigste Stadt Etruiens. Der Arco Etrusco, das Tor in der etruskischen Stadtmauer, war noch im Mittelalter der wichtigste Schutz der Stadt nach Norden, die ab dem 13. Jahrhundert von dem Adelsgeschlecht der Baglionen dominiert wurde. Von Süden führte die ehemalige Via Amerini durch die Porta Marzia ins Stadtzentrum. Heute liegt hier die Piazza Italia mit den Giardini Carducci, eine Gartenterrasse mit Blick in die Ebene.

Entlang des Hügelkamms verläuft der Corso Vanucci, wo man ab 17 Uhr flaniert, hin zur Piazza IV Novembre mit der Cattedrale San Lorenzo und dem Palazzo dei Priori, um sich an der Fontana Maggiore zu treffen. Seitlich der Flaniermeile erstreckt sich im Gefälle über breite, flach gestufte Treppen, Bögen und Brücken ein dicht verzweigtes Netz mittelalterlich geprägter Gassen und Häuser. In unserer Wohnung im alten Stadtkern in der Via Caporali ging der Blick auf die Dächer von Perugia, die wie viele italienische Altstädte eine Landschaft ausbilden; man konnte sich dort (unerlaubter Weise) auch sonnen.

Die heutige Stadt Perugia besteht eigentlich aus drei Städten: Vom Fuß des Hügels ausgehend breitet sich die Neustadt aus und geht nach und nach über in die Umgebung aus sanften Hügeln, Sonnenblumenfeldern und kleinen Pinienanpflanzungen bis hin zum Lago Trasimeno. Die dritte Stadt ist zunächst unsichtbar. Über Rolltreppen im Süden, die die Oberstadt mit der Unterstadt verbinden, gelangt man in eine unterirdische Festung, die Rocca Paolina, die Papst Paul III. im sogenannten Salzkrieg 1540 als Versteck und Rückzugsort errichten ließ. Zu sehen ist noch der ehemalige Eingang, die Porta Marzia. Die Peruginer hatten sich geweigert, eine Salzsteuer zu zahlen. Perugia unterlag und war mehr als 300 Jahre dem Kirchenstaat unterworfen. Als 1986 in Italien der Film „Der Name der Rose" anlief, ging das Gerücht, einige Szenen seien in der päpstlichen Festung gedreht worden. Vorstellbar war es allemal.

Zur Geschichte von Perugia gehört auch die enge und konfliktträchtige Verbindung zur Nachbarstadt Assisi. Während Perugia zum Einflussbereich der Welfen gehörte, lag Assisi im Machtbereich der Staufer. 1202 zog auch Giovanni di Pietro di Bernardone, der spätere Franz von Assisi, in den Krieg gegen Perugia. Nach der Niederlage Assisis kam er in Peruginer Gefangenschaft und wurde erst 1204 auf Lösegeldzahlung seines Vaters freigelassen.

Die lang währenden religiösen Ordensverbindungen zwischen Perugia und Assisi wurden mir bewusst, als ich viele Jahre später die Klarissen am Dom in Münster kennenlernte und einmal als messagiera ins einige Kilometer von Perugia entfernte Klarissenkloster Monteluce in S. Erminio fuhr, das im 15. und 16. Jahrhundert, so die Klarisse Ancilla Röttger, „ein intellektueller und spiritueller Brennpunkt der Klöster Italiens war".

In Italien zu studieren bedeutete, Italien zu studieren, das hieß, weniger Zeit im Hörsaal und dafür mehr Zeit mit Reisen zu verbringen. Bis heute gibt es die Cartaverde für Reisende bis 25 Jahre. Sie sieht nur nicht mehr so schön aus wie Anfang der 90er Jahre. Mit ihr fuhr man im ohnehin günstigen Nahverkehr fast umsonst. Unsere Reisen führten uns in die kleineren Städte Umbriens, der Toskana und des Latium, in das alte Land der Etrusker, nach Florenz und Rom, auf die Insel Sardinien und immer wieder ans ligurische Meer; aber auch weiter nach Sorrento und Positano in Calabrien bis nach Taormina auf Sizilien. Es waren keine geplanten Routen, sondern Entdeckungen auf der Suche nach Freundschaften quer durch das Land, einfach, weil man dort lebte und den Wunsch hatte zu bleiben.

Italiener beherrschen die Kunst, den öffentlichen Raum als Raum der Begegnung zwischen Subjekten zu gestalten, als Bühne, als Laufsteg, als lebendiges Theater. Die Lust an der menschlichen Gegenwart, die Achtung vor dem Gegenüber, der aufmerksame Blick für das Besondere im Alltag und umgekehrt, bedingt, das Sichtbare ernstzunehmen. Diese Haltung spiegelt auch die Kunst kurz vor und während der italienischen Renaissance, die zu unser aller kulturellem Bildergedächtnis geworden ist. Man findet sie nicht nur an prominenten Orten und in den großen Städten, sondern entdeckt sie überall, auch an entlegeneren Orten, in kleinen Kirchen oder Privathäusern. Prägende (künstlerische) Entdeckungen waren für mich die Malereien von Piero della Francesca in der Basilika San Francesco in Arezzo, die Fresken von Jacopo da Pontormo in der Sommervilla der Medici in Poggio a Caiano oder die Fassade des Doms von Orvieto, auf dessen Stufen wir oft die Abende verbrachten.

Frankfurt Sampling

Warum Frankfurt am Main? Ein Grund war, dass man von Frankfurt nach München oder nach Basel und von dort weiter mit dem Nachtzug am darauffolgenden Morgen in Mailand sein konnte.

Frankfurts architektonische Modernität war befreiend und cool. Der Campus der Johann Wolfgang Goethe-Universität liegt an der Grenze des Stadtteils Bockenheim, gehört aber zum Frankfurter Westend. Die Institute der geisteswissenschaftlichen Fakultäten befanden sich Anfang der 90er Jahre bis auf einige Seminare der evangelischen Fakultät in Gebäuden auf dem Campus. In Erinnerung ist mir vor allem der Nachkriegsbau der Philosophischen Fakultät, aber auch das Sozialzentrum mit der Mensa im zweiten Stock und das Studierendenhaus des Architekten Otto Apel mit dem Café KoZ und einer ökumenischen Kapelle.

Den Geist, den ich mit der Frankfurter Universität verbinde, drückt sehr schön eine Bewertung aus, die das Amt für Denkmalschutz zum Erhalt des Studierendenhauses formuliert hat:

„Das Studentenhaus steht geschichtlich für den frühen Frankfurter Wiederaufbau, als die Studentenschaft nicht nur sozial, sondern ebenso kulturell – und somit auch kirchlich – versorgt werden sollte. Nutzungsgeschichtlich bildet die Kapelle eines der seltenen erhaltenen Zeugnisse eines frühen ökumenischen Gottesdienstraumes in flexibler Nutzung. Apel bezog die Kapelle organisch ins Studentenhaus ein, um sie zugleich künstlerisch als besonderes Bauglied auszuzeichnen.“

Zum Frankfurter Curriculum der Kunstgeschichte gehörte neben dem Studium der Epochen, das die Kunstentwicklung bis zur amerikanischen Moderne einschloss, die Arbeit vor Originalen im Städel Museum und Grundkenntnisse der klassischen Archäologie. Bei der Philosophin Brigitte Scheer habe ich Leibniz‘ Monadologie und die Ästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten gelesen. Theologisch lernte ich bei Ingolf U. Dalferth, was es heißt, das eigene Denken analytisch zu sezieren als Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der theologischen Rede. Ich lernte, theologische Inhalte in existenziallogische Aussagen und allgemeinlogische Beschreibungen zu unterscheiden. Für die Auseinandersetzung mit verschiedenen trinitarischen Modellen initiierte Dalferth auch wechselseitige Begegnungen zwischen Studierenden und Lehrenden der Frankfurter und der Münchner Fakultät, die parallel zum Thema Trinität arbeiteten. Beides zusammen wurde für mich zu einem Bild gelebter Theologie.

Bis zur Gründung dieser Zeitschrift waren es noch acht Jahre. Dennoch gab es im Rückblick Vorzeichen einer nahen digitalen Zukunft. Der Synthesizer-Sound der Pet Shop Boys, Technohouse aus Detroit, das Sampling elektronischer Musik, die Feier der DJs im Dorian Gray am Frankfurter Flughafen. An der Städelschule, der Hochschule für Bildende Künste, performte Diedrich Diederichsen Kette rauchend auf Endlospapier die Kultur der Popmusik – dazu die Geschichte, dass es bald möglich sein würde, dreidimensionale Gegenstände zu programmieren und zu erzeugen. Wie man sich das vorstellen sollte, war völlig unklar, aber es klang aufregend.

Marburger Unterscheidungen ...

Aus dem Studium der Fächer Kunstgeschichte, Theologie und Philosophie sind für mich in den folgenden Jahren kleinere und größere Netzwerke, Kontakte und Projekte erwachsen. Nachdem ich für das weitere Theologie-Studium in Heidelberg Altgriechisch gelernt hatte, ging ich 1991 nach Marburg, auch weil am dortigen kunsthistorischen Institut Heinrich Dilly und Wolfgang Kemp lehrten. Das Funkkolleg Kunst, an dem Dilly beteiligt war, und Kemps Anwendung der Rezeptionsästhetik auf die Bildende Kunst waren Türen, die den Blick auf die eigene Disziplin und deren Verfahren weiteten.

Wie unterscheiden sich mittelalterliche Bilder und Werke der Renaissance in ihren Erzählformen? Kemp ermutigte uns auch zu experimentieren und zum Beispiel Gemälde von Delacroix mit den ästhetischen Codes aus Roland Barthes „S/Z“ (1970) zu lesen. Das war im Fach Kunstgeschichte etwas völlig Neues! Wichtig für ein genaueres Verständnis von Kunst als besonderer Fall des ästhetischen Bildes waren auch Seminare des Philosophen Oliver R. Scholz, heute Professor am Lehrstuhl in Münster, der die Frage nach dem Bild mit Nelson Goodman als Theorie(n) des Bildes entfaltete und analysierte.

In dieser Zeit begann ich auch das Kunstforum International zu lesen, die erste Fachzeitschrift, die ich abonnierte. Besonders wichtig für meinen eigenen Zugang zur gegenstandslosen Malerei war es, das Grundlagenbuch „Die suprematistischen Bilder von Kasimir Malewitsch“ von Gerd Steinmüller zu lesen, damals Leiter des Instituts für Kunstpädagogik an der Universität Gießen.

Bei Horst Schwebel, Andreas Mertin und Bodo Nebling am Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart lernte ich, Theologie und Ästhetik als ausdifferenzierte Felder zu begreifen und den jeweiligen Differenzierungsgewinn zu erschließen. Die abendlichen Seminare zu Theologie und Postmoderne bei Wein und Brot, mit Filmen von Peter Greenaway und Kunst von Mark Tansey, waren und sind bis heute Erfahrungen ohne Vergleich. Andreas Mertin lud mich und Anne Gidion, heute Leiterin des Pastoralkollegs der Nordkirche in Ratzeburg, in diesem Rahmen erstmals ein, gemeinsam zu publizieren. Dass dies der Anfang einer langjährigen Zusammenarbeit war und zur Gründung des ersten online-Magazins für Theologie und Ästhetik führen würde, war damals noch nicht absehbar. In Marburg erfuhr ich auch vom Arbeitskreis für Theologie und Ästhetik und konnte in der Folge die Diskussionskultur kirchlicher Akademien schätzen lernen, unter anderem auf den Tagungen „Kulturtheologie heute“ (1996) in Hofgeismar und „Die Grenzen des Ästhetischen“ (1997) in Arnoldshain.

... und Münsteraner Gegenwarten

Nach und nach verstand ich genauer, dass ästhetische Sinnbildung darin liegt, unsere außerästhetischen Verstehenszusammenhänge offenzulegen und zu unterlaufen, wie es Christoph Menke in seinem Buch die „Souveränität der Kunst“ (1988) so präzise beschreibt. Die künstlerische „Logik des Neuen“, das vermittelte mir Boris Groys, der einige Semester an der Philosophischen Fakultät in Münster lehrte, führt uns Augen, wie sich aus fortwährendem kulturellen Ein- und Ausschluss eine prozessuale Wertekultur bildet.

Eine fachliche Vertiefung bedeuteten auch die Seminare am Lehrstuhl von Eckhard Lessing in Münster, bei dem ich mein Promotionsstudium im Nebenfach Theologie 1999 abschloss. Lessing lehrte uns, dass die systematische Theologie zu allererst aus theologischen Systematiken besteht, die ohne ihren historischen Ort und ihren konfessionellen Kontext nicht aufrichtig zu denken sind. Dieses Interesse an der Erforschung faktischer Theologie und ihrer Geschichtlichkeit vermittelte er mit seiner ganzen Person als Freude an der wissenschaftlichen Erkenntnis. Intensive Erfahrungen waren auch die Seminare bei seinem Assistenten Ralf Stolina, heute Professor für Systematische Theologie und Leiter des Instituts für Aus-, Fort- und Weiterbildung der evangelischen Kirche von Westfalen, der mit uns kreuzestheologisches Denken vor dem Hintergrund christlicher Mystik reflektierte. Dieser bis heute gegenwärtigen Denk- und Lebenswelt bin ich durch Gespräche mit der Klarisse Ancilla Röttger in den letzten Jahren noch nähergekommen.

Während eines Praktikums 1993 an der neuen Nationalgalerie in Berlin hatte ich in Vorbereitung einer Retrospektive zum ersten Mal Arbeiten des Malers Günter Fruhtrunk gesehen, die ich ausgehend von den Analysen des Kunsthistorikers Erich Franz zum Ende meines Studiums in Münster zum Gegenstand einer Werkmonographie gemacht habe.

In Münster lernte ich auch junge Künstler*innen kennen und wurde 1996 Mitglied der Ausstellungsgruppe des 1994 von Künstlern ins Leben gerufenen Fördervereins Aktuelle Kunst, einer Produzentengalerie für zeitgenössische Kunst, deren Arbeit ich dann 1999 im Rahmen des Künstlernetzwerks Oreste im italienischen Pavillon auf der 48. Venedig Biennale stellvertretend vorstellen konnte. Zunächst wurden die Ausstellungen in einem alten Bunker am Hermannstadtweg organisiert, u.a. von Markus Kleine-Vehn, Christian Hasucha, Matthias Schamp und Achim Zeman. Nach dem Umzug in das Casino-Gebäude einer ehemaligen amerikanischen Kaserne an der Fresnostraße stellten wir dort Astrid Nippoldt, Judith Samen, Hartmut Böhm, Milo Köpp, Lars Wolter, Andreas Exner und viele weitere Künstler*innen aus.

Während der Skulptur Projekte 1997 wirkte ich an einem Projekt vom Senatsausschuss für Kunst und Kultur der Universität Münster mit, bei dem wir Schüler*innen mit dem Künstler Tobias Rehberger in Kontakt brachten, um mit ihm über dessen Arbeit Günter‘s (wiederbeleuchtet), zu diskutieren, eine Drum and Bass-Bar auf der Dachterrasse des H1, ausgelegt mit rotem Kunstteppich.

Die kuratorische Arbeit führte ich dann mit einer Dialogausstellung für die Kunsthalle Münster, damals noch eine Ausstellungshalle am Hawerkamp, weiter. „Persona mixta - Der Garten" (1999) stellte Werke der bildenden Künstlerin Silke Rehberg denen der Videokünstlerin Rotraut Pape gegenüber. Zu einer besonders wertvollen Erfahrung gehörte auch die kuratorische Assistenz der Ausstellung „Carbon“ (2003) von Simon Starling.

Nicht nur in der Kunstszene, sondern auch innerhalb der Geisteswissenschaften gewann Ende der 90er Jahre, beschleunigt durch die neuen Möglichkeiten des Internets das Netzwerken an Bedeutung. Eine Studienerfahrung, die viele von uns in diesen Jahren einte, war die, dass sich die Disziplinen immer mehr zu abgeschlossenen Echokammern entwickelt hatten, mit zu wenig Verbindung zwischen den Schulen, den Fächern und ins Außerakademische. Daran etwas zu ändern, war eine der Motivationen des von Frauke A. Kurbacher gegründeten interdisziplinären, wenig später auch internationalen, Arbeitskreises für philosophische Reflexion, eine Zeitlang gefördert durch das Kulturwissenschaftliche Institut Essen. In einem ersten Expose 2000 stellten wir - etwas steif - fest: "Angesichts der diskursiven Vielfalt gegenwärtiger Philosophie, die sich auf der einen Seite der Ausdifferenzierung in der Moderne verdankt, die auf der anderen Seite jedoch als ein 'offenes' Ende der in der Moderne angestrebten Aufklärung begriffen werden kann, scheint eine theoretische wie praktische Schwellensituation erreicht. Heute gilt es kritisch nach dem ... Potenzial aller kritischen Analysen zu fragen, gefordert ist aus unserer Sicht eine ... (Aus)-Formulierung der historisch-kritischen Pluralität." In vielfältigen Kooperationen sind wir in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts dann den Schwellen und Asymmetrien von Reflexion und Praxis nachgegangen. Die Begegnungen und Diskussionen mit Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Künstlern an inspirierenden Orten wie dem Heinrich Heine-Haus in Paris, dem Wielandgut Oßmannstedt bei Weimar oder der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel waren immer etwas Besonderes und bereichernd.

In der zusammen mit Andreas Mertin kuratierten Documenta-Begleitausstellung „Der freie Blick“ (2002) in der Kasseler Martinskirche hat mein Wunsch und Bemühen, dem Verhältnis von Kunst, Theologie und Ästhetik gedanklich und praktisch näherzukommen, dank der Künstler Thom Barth, Bjørn Melhus und Nicola Staeglich eine sichtbare Gestalt gewonnen.

Bis dahin hatte ich meinen Schwerpunkt auf die Kunst der Moderne gelegt und mich vor allem mit der abstrakten und konkreten Kunst bis in die Nachkriegszeit und mit der zeitgenössischen Kunst der Gegenwart beschäftigt. Dazu gehörte natürlich auch die Wahrnehmung dessen, welche Kunstwerke wie in Kunstmuseen und Galerien präsentiert, vermittelt und diskutiert werden. In den letzten Jahren konnte man hier eine Akzentverschiebung beobachten, die erstmals auch Entwicklungen einer anderen Moderne reflektiert und Kunst von Menschen in den Fokus rückt, die abseits des Kunstbetriebs und außerhalb der Akademien kreativ künstlerisch tätig sind, angefangen von der Art Brut zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur sogenannten Outsider Art der Gegenwart. Mit diesen Überlegungen eines erweiterten Kunstbegriffs kam ich konkret durch das Kunsthaus Kannen in Münster in Berührung, das in den letzten Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Sammlungs- und Ausstellungshäuser von Kunst im Umfeld der Psychiatrie wurde. Zusammen mit der Leiterin Lisa Inckmann entstand das „Kunsthaus Kannen Buch“ (2016), in dem wir die Geschichte des Hauses von der psychiatrischen Sammlung bis zur Gründung eines Museums für Outsider Art nachzeichnen und die dort in Ateliers arbeitenden Künstler mit ihren Arbeiten vorstellen. Die Beschäftigung mit diesen Werken und den Bedingungen ihrer Entstehung hat mein Verständnis von Kunst als besonderer Freiraum der Schöpfung noch einmal erweitert. Nur in der ästhetischen Überschreitung unserer sozialen und kulturellen Existenz erfahren wir uns als Menschen gleich.

Anmerkungen

[1]    Joachim Fest: Im Gegenlicht. Eine italienische Reise (Berlin 1988), Rowohlt Verlag: Hamburg 2008, S.23-24.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/kw091.htm
© Karin Wendt, 2021