Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Humane Streitkultur

Bildungsarbeit als Gestalt protestantischer Kultur

Eveline Valtink

Begreift man Bildungsarbeit als Gestalt protestantischer Kultur, und geht man dabei vom Spezifischen des Protestantismus aus, dann hätte sich protestantische Bildungsarbeit u.U. von anderen Bildungsbegriffen zu unterscheiden. Bildungsarbeit im protestantischen Sinne hätte beispielsweise nichts zu tun mit Bildung als Anhäufung von enzyklopädischem oder Verfügungswissen, dessen gesellschaftlicher Ort, dessen politische Relevanz oder Funktionalisierbarkeit nicht mitreflektiert würden. Protestantische Bildungskultur - um die Begriffe nun zusammenzunehmen - hätte dem Spezifischen protestantischer Kultur, also elementaren Charakteristika und Anliegen, zumindest aber Tendenzen des Protestantismus zu entsprechen. Wie kann man sie beschreiben?

Einmal ist der Protestantismus nicht zu denken, ohne ein dezidiertes Verhältnis zu Krise und Kritik. Die Krise - so der ZEIT-Journalist und engagierte Protestant Robert Leicht - sei dem Protestantismus geradezu eingeboren. Die Reformation als Gründungsveranstaltung des Protestantismus sei an sich schon Ausdruck einer Modernitätskrise des institutionell verfassten Christentums als Reflex auf den Humanismus. Zudem antworteten die Reformatoren - so Leicht - auf diese Krise mit einem theologisch-kirchlichen Programm, das mit der voraufklärerischen Ermächtigung des durchaus noch gläubigen Individuums, also mit der antiklerikalen Emanzipation des reformatorischen Christen, die kritische Einstellung zur Kirche und Welt unwiderruflich auf Dauer stellte. Diese Aussage gelte für den Geist des Protestantismus ungeachtet aller historischen Rückfälle in eine lutherische Orthodoxie und in ein staatskonformes Luthertum. Dass sie historisch nicht durchgängig zu verifizieren sei, sage nicht, dass diese Aussage über den Geist des Protestantismus falsch sei.

Dies umso mehr, als es doch erst die Reformation war, die dem priesterlichen Amt in der Kirche das prophetische gegenübergestellt hat, dem beharrenden Moment institutionalisierter Kirchlichkeit das kritisch - antihierarchisch - emanzipatorische der Bewegung. Damit hängt das protestantische Paradigma der Pluriformität eng zusammen, das die päpstliche Lehrhoheit ablehne. Nicht nur in seinen emanzipatorischen, sondern auch in seinen die Pluralität fördernden Grundtendenzen erweist sich somit der Protestantismus als Projekt der Moderne. Nichts kennzeichnet ihn mehr als sein doppelter Krisenzustand: kritisch nach innen und kritisch nach außen. Jenem Geist des Protestantismus entspricht nach innen die ecclesia semper reformanda. In ihr sind sowohl die institutionellen Strukturen der Kirche der steten (Selbst-)Kritik ausgesetzt und im Dauerreformprozess befindlich, wie auch die Lehre nicht mehr als uniform zu verstehen, als deduktiv von oben verordnet, sondern als pluriform, im Prozess steter Auseinandersetzung und somit als theologische Streitkultur zu charakterisieren ist. Ihm entspricht nach außen seine Politiknähe erstens insofern, als reformatorische Vor-Aufklärung wesentlich auf Emanzipation und bürgerliche Selbstbestimmung angelegt war und zweitens weil in den protestantischen Territorien seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Staatsführung und Kirchenleitung identisch waren. Diese institutionelle Nähe zwischen Protestantismus und Macht zerbrach mit dem Ende des Bündnisses zwischen Thron und Altar. Die Nähe zur Politik aber hat sich gehalten, wenngleich in anderer Gestalt: in diesem Jahrhundert war es eher die jeweilige politische Opposition, in deren Nähe sich Protestanten ansiedelten. Dies mag mit der politisch-gesellschaftlich-kulturellen Krise, dem Fragwürdigwerden aller Werte nach dem 1. Weltkrieg zusammenhängen, der zu einer Renaissance des Theologischen beitrug und so große (in ihrer Frühphase expressionistisch zu nennende) Protestanten wie Karl Barth und Paul Tillich oder die religiös-soziale Bewegung hervorgebracht hat. Obwohl für die Zeit des Nationalsozialismus externe Determinanten für die evangelische Kirche in Rechnung gestellt werden müssen, war es doch in Sonderheu der Protestantismus, der das kleine Häuflein des Widerstands und immerhin die Barmer Theologische Erklärung hervorbrachte. Dieser tendenzielle Hang zum Widerständigen gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen hat mit der neuen Ins-Recht-Setzung der biblischen Tradition durch die Reformatoren zu tun wie auch mit der Rechtfertigungslehre, die u. a. insofern widerständiges politisches Potential birgt, als das Subjekt in ihr nicht als identisch mit der Summe seiner Taten und Untaten, seiner Leistungen und Fehlleistungen gesehen wird. Es geht nicht darin auf, sondern hat einen Mehrwert, einen Wert und eine Würde, die nicht durch Verhalten, sondern durch Annahme konstituiert ist. Dies kann als Grundlegung einer allem Staat und allen Pflichten vorgelagerten Menschenwürde und als Kritik an einem technokratisch - ökonomistischen Leistungsfetischismus dienen.

Das gebrochene Verhältnis des Protestantismus zur staatlichen Macht

Eine institutionelle Nähe zur Macht hat es dann für die Evangelische Kirche nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben, es sei denn in Gestalt von Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann, Erhard Eppler, Jürgen Schmude, Johannes Rau oder Helmut Schmidt, aber auch Hermann Ehlers, Luden Gerstenmaier, Elisabeth Schwarzhaupt oder Roman Herzog, die in hohe politische Ämter gelangt sind. Das gebrochene Verhältnis des Protestantismus - auch seiner Kirchenleitungen - zur institutionalisierten staatlichen Macht zeigt sich auch in seinem kaum ausgeprägten Hang zur Diplomatie, der eher in der katholischen Kirche m Hause ist. Das beste Beispiel dafür ist die Abschaffung des Buß- und Bettags, bei dem - da es sich um einen evangelischen Feiertag handelt - aufseiten der Länder offensichtlich weniger Widerstand erwartet wurde, als hätte es sich um einen katholischen Feiertag gehandelt. Protestantische Kultur, für die Einrichtungen wie Evangelische Akademien und der Deutsche Evangelische Kirchentag prägend waren (und sind), ist im Nachkriegsdeutschland von daher eher im linken, oppositionellen Lager und im Umkreis neuer sozialer Bewegungen auszumachen als anderswo. Die Innenverfasstheit des Protestantismus mit seinem Credo zum Priestertum aller Gläubigen und zu einer synodalen Grundstruktur wirkte immer eher grundierend und stabilisierend für demokratische und zivilgesellschaftliche Entwicklungen in unserer Gesellschaft als stabilisierend für das jeweils herrschende staatliche System.

Entwicklung einer humanen Streitkultur

Das spezifisch Protestantische evangelischer Bildungsarbeit ließe sich nach dem Gesagten vielleicht als Entwicklung einer humanen Streitkultur beschreiben, als genaue Wahrnehmung und kritische Begleitung gesellschaftlicher, kultureller und politischer Phänomene und Entwicklungen. Protestantische Bildungsarbeit hätte darüber hinaus biblische Traditionen ins Spiel zu bringen und ihrer Wirkkraft in den gesellschaftlichen Kontexten und Auseinandersetzungen etwas zuzutrauen. Weiterhin müsste es in unserer Bildungsarbeit um die Ausbildung von Urteils- und Kommunikationsfähigkeit im Hinblick auf die Förderung politischer Willensbildung gehen, um so zur Lösung der in Gesellschaft und Politik anstehenden Aufgaben und Probleme beizutragen. Damit ginge die Entwicklung der Fähigkeit einher, die Geister zu scheiden und Ideologien zu identifizieren.

Protestantische Bildungsarbeit sollte sich nicht dem im Impulspapier der EKD "Gestaltung und Kritik - Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert" vorherrschenden Gestus der Defensive im Hinblick auf den Protestantismus und seine kulturelle Prägekraft und seine kulturellen Dimensionen anschließen. Denn es wären, wie oben schon erwähnt, viele kulturelle, geistesgeschichtliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen, besonders Aufklärung und Moderne und in deren Folge Pluralisierung und Individualisierung ohne das Ferment des Protestantismus als solche gar nicht denkbar gewesen.

So geht das Impulspapier davon aus, dass die "Bindekraft der Kirchen und die Prägekraft des Christentums ... in Deutschland während der letzten Jahrzehnte zurückgegangen" sei. Dabei hätte sich die Geschichte Ost- und Westdeutschlands sehr unterschiedlich entwickelt. Hätten im Westen Individualitätsprozesse "eine Mentalität befördert, die das Christentum für kulturell irrelevant" hält, so wurde im Osten "infolge der staatssozialistischen Indoktrination" Religion "überhaupt als schädlich betrachtet': Beide Entwicklungslinien seien Folgen der Säkularisierung, der Entkirchlichung und Entchristlichung der Gesellschaft, die in der postmodernen Situation ihre kulturkämpferischen Aspekte verloren habe und durch den "Zwang zur Häresie" (P. L. Berger) gekennzeichnet sei. Demnach müssten die Individuen "ihre Lebensformen selbst wählen, gestalten und verantworten. Die Befreiung zur Wahl wird deshalb oft zugleich als Überforderung erfahren": Vor lauter Möglichkeiten der Wahl gerieten die Ziele aus den Augen, und dieser Zielverlust werde als Sinnverlust erlebt. Die Folgen der Modernisierung erreichten ein solches Ausmaß, dass die "traditionellen Sinnstützen der individuellen Existenz aus Familie, Kirche, Beruf und Kultur" strukturell gefährdet seien. "Auch sie müssen jetzt gewählt werden, verwandeln sich in kontingente, geschaffene ... Institutionen." Dass der mit den Stichworten wie Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung zu kennzeichnende Prozess der Moderne nicht nur mit Beliebigkeit, Traditions- und Sinnverlust einhergeht, sondern auch untrennbar mit Rechten und Freiheiten des Individuums verbunden ist, gerät bei diesem Abgesang auf Kirchlichkeit und Christlichkeit in der Postmoderne, wie er in der Einleitung des EKD-Papiers erfolgt, aus dem Blick.

Positiver Individualisierungsschub

Eigentlich müsste die protestantische Kirche den Individualisierungsschub der Moderne, der ja als eine Folge der Freiheitsgeschichte des reformatorischen Christentums zu begreifen ist, positiv werten und sich auf ihre Fahnen schreiben (wobei die Rechte des Individuums immer auch dessen Freiheiten zivilisieren müssen). "Denn in den Formen einer individuellen Kultur erblicken wir uns selbst wie in einem Spiegel. Man könnte mit Wilhelm Schmied (Philosophie der Lebenskunst, Ffm 1999, S. 130) von ,Kultur als Lebensgestaltung' sprechen. In ihr sind nicht mehr ,anonyme Strukturen die Kulturträger, sondern Individuen, die bewusst die Gestaltung äußerer Verhältnisse wie auch die Gestaltung ihrer selbst unternehmen, und zwar auf der Grundlage einer Kultur des Selbst, die vom einzelnen Subjekt ausgeht und die Gestaltung seines Verhältnisses zu sich, zu anderen und zur Welt umfasst. Kultur ist die Haltung des Selbst und wie es sich verhält, wie es wohnt und anderen begegnet, wie es denkt und fühlt: Sieht man es so, wird man bei der Frage, was zu tun sei, weniger gegen die Individualisierungsprozesse argumentieren, sondern sich selbstkritisch fragen müssen, ob Religion und Kirche gerade durch Antiindividualisierungstendenzen jene Mentalität förderten und fördern, die das Christentum kulturell irrelevant gemacht haben oder machen." (Klaus Röhring in einer unveröffentlichten Stellungnahme zum EKD-Impulspapier)

Auch Fritz Erich Anhelm kritisiert das Papier in ähnlicher Richtung: "Wer das Prinzip individueller Verantwortung aus der christlichen Überzeugung ableitet, dass ,jeder Mensch vor Gott rechenschaftspflichtig ist', hat es nicht leicht, erklären zu müssen, warum er es bedauert, dass die ,Folgen der Modernisierung im alltäglichen Leben' ein solches Ausmaß erreichen, ,dass die traditionellen Sinnstützen der individuellen Existenz aus Familie, Kirche, Beruf und Kultur strukturell gefährdet sind'" (Ev. Kommentare 8/99). Und so ist auch die Säkularisierung für den Rückgang der Bedeutung von Christentum und Kirche nicht die Ursache, vielmehr ist sie das Ergebnis einer historischen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Entwicklung, die nicht zuletzt auf das Christentum und das Prinzip der individuellen Verantwortung selbst zurückgeht. Wenn "um der Menschwerdung Gottes willen" der Glaube sich verweltlicht, damit es der Welt zugute kommt, wie das EKD-Papier betont, dann darf protestantische Theologie sich "am wenigsten darüber wundern und es beklagen, dass diese Verweltlichung des Glaubens säkulare Formen annimmt. Ihr käme es zu, genau diesen Prozess theologisch deutend aufzuspüren und in seiner Bedeutung wahrnehmbar zu machen" (ebd.).

Protestantische Bildungsarbeit soll sprach- und kommunikationsfähig machen

Bildungsarbeit als Gestalt protestantischer Kultur hätte folglich dazu beizutragen, ihre Klientel in den durch den Modernisierungsprozess ausdifferenzierten, autonomen, d.h. von kirchlicher Heteronomisierung befreiten gesellschaftlichen Teilbereichen sprach- und kommunikationsfähig zu machen. Mit gesellschaftlich ausdifferenzierten Teilbereichen meine ich Kunst, Politik, Medien, Recht, Sozial- und Schulwesen, Erziehung, Human- und Naturwissenschaften etc., die alle nicht mehr von einem einheitlichen Wertsystem, sondern von einem grundsätzlichen weltanschaulichen Pluralismus bestimmt sind. Sprach- und Kommunikationsfähigkeit in der durch Pluralität und Autonomie bestimmten Gegenwartskultur erwerben, hieße für protestantische Bildungsarbeit zunächst einmal: wahrnehmen lernen, was besonders im engeren kulturellen Teilbereich der Kunst eine gewaltige Herausforderung für die Kirche darstellt. Hier aisthesis, Wahrnehmungsfähigkeit auszubilden, Ausdrucksformen zeitgenössischer Kunst buchstabieren lernen, ist gerade für den kunstabstinenten Protestantismus an der Zeit. "Kirche in der multikulturellen Gesellschaft wird vielleicht eine flanierende Kirche sein, wenn denn Flanieren heißt: Zeit haben nicht für desinteressierte, sondern im Gegenteil für engagierte Aufmerksamkeit, um das Flanieren in den Passagen der Kultur (W. Benjamin)", so der praktische Theologe Albrecht Grözinger.

Fähigkeit zum Dialog

Sprach- und Kommunikationsfähigkeit in jenen Passagen der Kultur zu erwerben, meint aber auch die Fähigkeit zum Dialog. Denn dass Kirche nicht mehr die Haltung des Kultur-Monopolisten (Christliches Abendland) einnehmen kann, heißt ja nicht sofort, dass sie sich in der postmodernen Unverbindlichkeit des "anything goes" einrichtet. Der Dialog setzt vielmehr die Beheimatung in der jüdisch-christlichen Tradition bzw. theologische Urteilskraft voraus, was bedeutet: Wie ist die Gottes- und Lebenserfahrung in der jüdisch-christlichen Tradition Gestalt geworden? Wie ist sie im jeweiligen kulturellen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhang ins Spiel zu bringen? Dies könnte beispielsweise heißen, an einer städtischen Kultur, die am versöhnten Zusammenleben der Verschiedenen orientiert ist, mitzuarbeiten, eine menschengerechte Bau-, Wohnungs- und Planungskultur befördern zu helfen, sich an der Entwicklung politischer Kultur zu beteiligen, ebenso an der Entwicklung von Wissenschafts- und Medienethik etc. Sich mit den eigenen Traditionen und Erzählungen in die kulturellen Zusammenhänge einzumischen hieße auch, die Zeit- und Sonntagskultur, die Gedenk- und Bestattungskultur in unserem Lande mitzugestalten. "Die Kirche steht in Gefahr, gesellschaftlich marginal zu werden", schreibt Henning Schröer in seiner Einleitung zum Kultur-Bericht der EKD von 1996. "Dem kann sie nachgeben und sich als profilierte Minderheit, die in der Nische ihre Identität bewahrt und ihre Kultur pflegt, auf sich selbst zurückzuziehen oder zu einer neuen Landnahme in die Gesellschaft aufbrechen." Dies kann freilich nicht mehr in dem Sinne von Missionsanwandlungen passieren oder im Sinne theologischer Heteronomisierung, die die Vielfalt der kulturellen Phänomene unter ein protestantisches Prinzip zwingen will, sondern im oben skizzierten Modus von Wahrnehmung, Dialog und Ins-Spiel-Bringen der eigenen Tradition.

Protestantischer Ur-Instinkt

Der Basler Theologe Albrecht Grözinger weist auf einen protestantischen Ur-Instinkt hin, der alle Syntheseversuche von Religion und Kultur dorthin verweist, wo sie hingehören: ins christliche Mittelalter. Dort hat das christlich zentrierte Weltbild noch alle Gesellschaftsbereiche bestimmt, doch dieses Einheitsdenken sollte mit der Geburtsstunde der Reformation der Vergangenheit angehören. Grözinger zeigt, dass gerade der Kulturprotestantismus, der erklärtermaßen die Pluralisierung und Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zurückzudrehen, sondern an ihnen zu partizipieren und sich mit ihnen auseinander zu setzen gewillt war, letzen Endes doch wieder religiös dominierte Synthesemodelle von Protestantismus und Kultur entwickelt hat. Auch bei den Kritikern des Kulturprotestantismus, den Protestanten Karl Barth und Paul Tillich, läuft letzten Endes alles auf eine theologische Heteronomisierung, bzw. auf systematisch-theologische Integrationsversuche der kulturellen Phänomene ihrer jeweiligen Gegenwart hinaus. "Unter den Bedingungen der Postmoderne werden Theologie und Kirche jedoch nur noch Gehör finden, wenn sie ihr Eigenes in die kulturellen Phänomene der Gegenwart einzuzeichnen vermögen. Die abstrakte Berufung auf die Groß-Erzählungen, aus denen die Theologie herkommt, vermag sicher nicht mehr zu überzeugen" (A. Grözinger, Die Kirche, ist sie noch zu retten?, S. 54). Darin, dass es Theologie nur geben kann, wenn sie auf Kultur bezogen und in Kultur verwoben ist, meldet sich nun jener protestantische Urinstinkt, der laut Grözinger auf keinen geringeren als Martin Luther zurückgeht, und zwar auf dessen Interesse an der Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Gotteswortes: "Alßo haben wir vorhin offt gesagt, das das Evangelion eygentlich sey nit das geschriben ist ynn Büchern, ßondern eyn leybliche predigt, die da erschallen sol und gehört werden in aller wett und ßo frey auß geruffen werden fur allen creaturen, das sie es alle hören mochten ... man sol es ßo offentlich predigen, das es nicht kund offentlicher gepredigt werden" (ebd. S. 59).

Aus diesen Sätzen sei zu entnehmen, dass das Wort Gottes nach Luther ein aktuales Wort ist, das in den jeweils sich ereignenden Akten der Wahrnehmung zu vernehmen sei; zum anderen insistiere Luther auf der Öffentlichkeit der Gottesrede - dort, wo das Wort Gottes aktual wahrgenommen wird, entstehe zugleich ein öffentlicher Raum der Wahrnehmung. Kirche und Gemeinde sind nicht abgeschottet nach innen gerichtet, sondern Bestandteil der pluriformen und pluralen Öffentlichkeit. Luther benötigt keine theologische Definition von Kultur, um die Kulturbezogenheit von Theologie und Kirche zum Ausdruck zu bringen.

"Weder kann heute noch die Einsicht in die lebensgeschichtliche Relevanz der Groß-Erzählung Christentum vorausgesetzt werden, noch gibt es einen gemeinsamen unbestrittenen Fundus verbindender kultureller Überlieferungen. Lebensgeschichtliche Bedeutung kann also nur dort entstehen, wo einzelne Elemente der Groß-Erzählung Christentum sich mit Elementen gegenwärtiger kultureller Lebenswelten verbinden ... Es geht um aktuale Konstellationen und Inszenierungen, in denen ,Bedeutung' freigesetzt wird ... dass sich im Verlauf dieser Inszenierungen eine neue Tragfähigkeit der kulturell vermittelten Gottesgeschichte einstellt, ist eine Ausgangsvermutung ... Dies ist das Wagnis, das ich eingehe. Vielleicht könnte man dieses Wagnis - analog zum protestantischen Urinstinkt - das protestantische Urrisiko nennen. Dieses Risiko zu wagen, ist ein Kennzeichen des Protestantismus" (ebd. S. 60).

Themenkanon erweitert sich

Protestantische Bildungsarbeit in der Postmoderne, die sich überwiegend kulturell vermittelt, hätte sich verstärkt der Figur der Konstellation in ihrer Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen der Gegenwart zu bedienen. Dabei erweitert und verwandelt sich der traditionelle Kanon der Themen evangelischer Bildungsarbeit. Und sie wird insofern spannender, als wir nie wissen können, wie verwandelt wir aus einer Konstellation, in die wir uns hineinbegeben, wieder herauskommen. Und neben den aktualen Konstellationen sollte unsere Bildungsarbeit auch Phantasie für aktuale Inszenierungen aufwenden. "Denkbar wäre folgendes: Von einer funktionslos gewordenen Altstadtkirche werden die Türen entfernt, damit sie Tag und Nacht öffentlich begehbar ist. Man räumt Sitzgelegenheiten aus, die an einen Hörsaal denken lassen, beseitigt die Orgel, die zum Musentempel prädestiniert, und kommt überein, in ihr keine Predigt und keinen Gottesdienst mehr zu halten. Nur die historische Sakralarchitektur mit dem Kruzifix als Blickfang in der Apsis, über einer geschlossenen Bibel trohnend, den ungelesenen Memoiren des Hausherren von einst. Im übrigen Stille, Totenstille, Ruhe. Grabesruhe, wie auf dem Friedhof, dem Gottesacker. Menschenleere, Gottesleere. Metropolis - Nekropolis, wie ein protestantisches Mausoleum, von öffentlicher Hand und kirchlicher Lehre gemeinsam in diese Bedeutung eingesetzt, um den vergessenen, den verleugneten, verdrängten Kulturort der Urbanität zu erinnern schweigend. Das könnte eine beiderseits ehrliche Symbolisierung der Situation sein, ohne dass man sich auf den konfessionellen Kirchenzentrismus von gestern verpflichtete ... Stadtkirche, zeige deine Wunde" (Hermann Timm, Das ästhetische Jahrzehnt, S. 132).


© Eveline Valtink 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/ev1.htm