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Magazin für Theologie und Ästhetik


Stadt-Kirchen-Kultur: Der Architop

Hermann Timm


Stadt, Kirche und Kultur - das mag noch angehen. Werden aber die drei Größen zur Stadtkirchenkultur zusammengezogen, drängt sich eine Lektüre auf, die der Stadt die Kulturhoheit über die Kirche zuweist - und das weckt Zweifel. Stadt statt Kirche, ist es das, was in den Stadtkirchen künftig kultiviert werden soll? Kommunale Kirchenkultur oder Kulturkirche? Dagegen muss sich Widerstand prinzipieller Art regen. Er reicht von der Kritik alttestamentlicher Propheten am Tempelkult der Priester bis zur neutestamentlichen Spiritualisierung der oikodome, der Erbauung Gottes im Glauben der Gemeinde. Und reicht weiter vom reformatorischen Definieren des Kircheseins durch Predigt- und Sakramentsvollzug - was "auch im Saustall geschehen kann", wie Luther meinte - bis zur Ernst-Bloch-Ära der Nachkriegszeit mit ihrer Idealisierung mobiler Nomadenkultur gegenüber dem Immobilismus bürgerlicher Sedentärkultur. Exodus aus den "Fleischtöpfen Ägyptens" in die wüstenfreie Utopie: ortlos, raumlos, rastlos fortschreitend im Zug der Zeit.

Zur Aufbruchtopik kommt zweitens die Konfessionskultur. Trotz Ökumene muss weiterhin gesagt werden können, was protestantisches Neuzeitchristentum vom altgläubigen "Rom" unterscheidet. Römisch-katholische Sakralbauten sind durch die Hostie im Tabernakel sichtbar als Heiligtümer ausgewiesen. Sie können Gottes-Häuser im strikten, materialen Sinn des Wortes genannt werden. Ihnen kommt eine Heiligkeit von der Art zu, die einst dem Erzvater Jacob in Bethel offenbart wurde. Sollten Protestanten von solcher Aura angeweht werden, ist zu erwarten, dass sie dem numinosen Zucken in den Kniekehlen um so standhafter mit dem Herrenwort begegnen, das unter freiem Himmel am Jakobsbrunnen in Sichem gesprochen wurde: "Es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berg (dem Garizim) noch in Jerusalem (auf dem Zion) den Vater anbeten werdet ... Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten".[1] Der Nazarener war ein "charismatischer Wanderprediger"[2], der mit den Nomaden das "unstet und flüchtig" der Vertreibung aus dem Paradies teilte.[3] Auch er hatte nicht "wohin er sein Haupt legen konnte".[4] Auch ihm fehlte die Sesshaftigkeit der Bauern und Städter. Also verwies er die Wo-Frage ans Pater noster: "Vater unser, der du bist im Himmel ..." "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt".[5]

In der Tat: Hinter das "prophetische Prinzip" gibt es für den Protestantismus kein Zurück (Paul Tillich). Es fragt sich aber, wie er darüber hinauskommt, um seinen Lokationen, Immobilien und Domizilierungen gerecht zu werden. Die bestehen nun einmal, und seien sie so kurzlebig wie das Asyl für die Nacht.

"Das Wort ... wohnte unter uns".[6] Eine dem Inkarnationsglauben verpflichtete Ekklesiologie kommt dauerhaft nicht umhin, die Monokultur des nomadisierenden Zeitbewusstseins auszugleichen mit einer postutopisch sedierten Raumbewohnung. Um dieses Zieles wegen benutze ich das Stichwort "Identität" - wenn auch differenzierend -, verbinde es mit phänomenologischen Einsichten zum Grundakt des Heiligtums und komme zur Stadtanthropologie, archäologische Abteilung: zur Kirche als Architop von Urbanität. Städtischer Kulturort - ein Wort, das zweifach hörbar ist: als Kult-Urort und Kultur-Ort.

I

Wenn jemand genötigt ist, sich zu identifizieren, kommt erstens sein Name, zweitens seine gesellschaftliche Funktion, drittens sein Werdegang und viertens seine Herkunft zur Sprache: Ich heiße Max Müller, bin Klempner von Beruf, habe einen kurvigen Lebenslauf hinter mir und wurde in Bullerby geboren. Sich räumlich verorten zu können, zählt zu den Selbstidentifizierungsleistungen, die jedem Erwachsenen abverlangt werden. Zur Rede gestellt, warten wir mit einer Geschichte auf, die rücklaufend irgendwo in der Geographie landet. Wer bist du? Sag mir deinen Namen. Was bist du? Nenne mir deinen Beruf. Wie bist du hierher gekommen? Erzähle mir dein curriculum vitae. Und schließlich: Woher kommst du? Wo hast du das Licht der Welt erblickt? Lasse deine diachrone Herleitung mit einer Lokation beginnen, die die Identität verankert in der Differenz von Raum und Zeit, Ort und Tag des Gebürtigseins: "Ich, XY, wurde am..., in ... geboren".

Die Geburtsstätte steht für ein Hingehörigkeitsbewusstsein, das die Biographie in ihrem vergangenen wie zukünftigen Teil übergreift und sie an die Ewigkeit heranrückt. In der Mönchskultur wurde die Konstanz stabilitas loci genannt. Umgangssprachlich sind vergleichbare Seelenwerte in Vokabeln wie Haus, Heimat und Erde abgelagert: sich an Ort und Stelle zu Hause fühlen. Ihren beredtesten Ausdruck haben sie in der Vegetationssymbolik der Stammbäume gefunden. Wohl dem, dessen Wurzeln bis zu paradiesnahen Ahnen hinabreichen. Sie sichern seinem Stammplatz eine Konstanz von fast metaphysischer Gravität. Ob mehr Dichtung als Wahrheit, wer will das wissen? Als finales Gegenstück dient die Sitte, sich am Ende der Verweildauer auf Erden wie die Patriarchen des Alten Testaments "zu seinen Vätern versammeln" zu lassen: Platz in einem Familiengrab zu finden, das Aus- und Eingang, Lebenseschatologie und Lebensarchäologie in der Einheit des Ortes abrundet. "Denn von Erde bist du, und zur Erde sollst du wieder werden"[7] - du, der Herr von und zu Bullerby.

II

Am Anfang dessen, was wir "Identität" nennen, steht also die Verortung ihrer Geschichte im Raum. Lateiner bezeichnen das als religio: eine Ligatur, einen Halt, Einhalt und Rückhalt bilden, der fundamental ist, unerschütterlich wie Steingrund. Der flüchtige, durch die Angst vor der Rache Esaus außer Landes getriebene Jacob hat es prototypisch vorgemacht: "Als er vom Schlaf erwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr wohnt an dieser Stätte und ich wusste es nicht. Und er fürchtete sich und sprach: Wie schaurig ist dieser Ort. Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, hier ist die Pforte des Himmels. Und Jacob stand auf und nahm den Stein, der unter seinem Haupt gelegen hatte, richtete ihn auf zu einem Steinmal, goss Öl darüber und nannte den Ort Bethel".[8] Die zuvor nur als Fluchtstrecke wahrgenommene Leere wird sakral gefüllt durch Aufrichten des Felsgrundes gen Himmel (Architektur), durch Stiften eines kultischen Rituals (Ölung) und durch Proklamation des Namens dessen, der Herr im Haus ist: Beth-El. Was so entsteht, ist das Heiligtum als Antwort auf die nächstens erfahrene Theophanie der Stätte. "Der Herr ist mein Fels".[9]

Heiligen heißt also unterscheiden, herausheben, pointieren in Welt bildender Absicht. Das erste Gebot des Homo religiosus lautet Heterogenisierung. Er weiß sich an einen exterritorialen Raum im Raum (Heterotopisierung) und an eine extemporale Zeit in der Zeit gebunden (Heterochronisierung). Sie werden ihm zum Nabel der Welt, zur Erdachse, zum Orient seiner Orientierung. Dort erfährt er die Wirklichkeit par excellence, anders, ganz anders in ihrer Übermächtigkeit als das dienstbar vertraute pro-fanum ringsum.

So ist der Sachverhalt seit dem berühmten "mysterium fascinosum et tremendum" Rudolf Ottos immer wieder beschrieben worden, am materialreichsten nachzulesen in den religionsphänomenologischen Schriften von Mircea Eliade. Das Heilige unter die Kategorie Identität zu bringen, mutet insofern wenig plausibel an. Man würde eher die der Differenz erwarten. Ich habe mir aber mit der Unterscheidung von Lokation und Datierung am Anfang der Vita die Möglichkeit bereitgelegt, beide Grundbegriffe - Identität und Differenz - architopisch zu verbinden. Und das soll jetzt für einen Strukturvergleich zwischen Individuum und Gemeinschaft, einzelnem und Kommune, Polis, Urbanität genutzt werden. Ziel: eine religiös grundierte Stadt-Anthropologie.

III

Trotz erfolgter Cityfizierung im McDonald-Stil gehören die Kirchenplätze nach wie vor und heute mehr denn je zum Integralbild der Städte. Ihre wie Zeigefinger gen Himmel weisenden Türme fungieren als Wahrzeichen des historischen Lokalkolorits. Die Ansichtskarten, die Steckbriefe der Metropolen zeigen es. Was wäre Hamburg ohne seinen Michel, Köln ohne den Dom, Ulm ohne das Münster und Dresden ohne die Frauenkirche - in welchem Zustand immer. Die Gotteshäuser haben einen Symbolwert, der über ihren Nutzwert für die Gemeinden weit hinausgeht. Sie sind ja auch rund ums Jahr Sammelpunkte einer Volkskirchlichkeit eigener Art - der touristischen.

Reisende, die eine Stadt anfahren, wenig Zeit mitbringen und doch einen Eindruck davontragen möchten, folgen der Zentralorientierung. Sie durchqueren unbesehen die Industrie-, Gewerbe-, Wohn- und Neubaugebiete in den Außenbezirken, suchen auf den Autokarten im dichtesten Straßengewühl nach den schwarzen Kreuzen und hoffen, dass nicht gar zu viele gleichzeitig das Gleiche tun. Sonst wird es eng.

Was magisch in die Mitte zieht, ist nicht der auf dem Straßenschild rechter Hand angezeigte Gottesdienst, unterschieden in katholische Messe und evangelische Predigt, wohl aber die Eingebundenheit des Kults in den Duft, der das alte Mauerwerk umgibt, in die zu Stein geronnene Stadtgeschichte, bis zu mythischen Ursprüngen zurückreichend, in eine lehrreich-anspruchsvolle Sakralästhetik, über die schnell noch einige Informationen aus dem Baedecker aufgelesen werden, und in ein plakatiertes Veranstaltungsprogramm - vor allem musikalischen Inhalts -, das als repräsentativ für die gegenwärtige Stadtseele gelten könnte. Die Schwelle wird auch mit Scheu und Ehrfurcht überschritten. Hofft man doch im Zentralheiligtum etwas von "archaischer Ontologie"[10] zu erspüren - Gänsehaut eingeschlossen, und "die Gänsehaut ist etwas 'Übernatürliches"'. Es wird kein Predigthörsaal und kein Kommunikationszentrum, aber auch kein steriles Stadtarchiv und kein Mausoleum der Religionshistorie erwartet, überschrieben: "Gott ist tot" (Nietzsche), "lasst fahren alle Hoffnung" (Dante). Leben muss schon noch darin sein, ein Rest zumindest, stark genug, um den Voyeuren das Gefühl ihrer gänzlichen Deplatziertheit vor Ort zu vermitteln. Es soll sie von ferne an Jacob in Bethel erinnern: "... vom Schlaf erwacht ..., wie schaurig ..., die Pforte des Himmels ..., ich wusste es nicht ...."

Kurzum: Was Touristen, diese Zivilisationsnomaden auf Rädern, massenhaft in den Altstadtkirchen suchen, ist ein aus Glaube, Halbglaube und Unglaube gemischtes Gespür von dem, was ihrer Unbehaustheit fehlt: der Kulturort der Urbanität.

IV

Den Sakraltourismus ernst nehmen zu wollen, ist nicht unverfänglich. Er gehört unter den primären Interpretationszugriff der Ideologiekritik: Säkularisierung, Profanisierung, Banalisierung des Heiligen..., veräußertes, verweltlichtes, vermarktetes Christentum..., Erlebnis-, Konsum-, Amüsiergesellschaft... Wer könnte sich als Mitläufer in dem Geschiebe solcher ätzenden Reflexionen erwehren? Man kann die neuerliche Attraktivität der alten Kultstätten aber auch metakritisch als Symptom eines Zeitgeistes betrachten, der sich des anderen seiner selbst erinnert, des Raumgeistes, des religiös pointierten genius loci, um im Verein mit ihm mehr Realitätspräsenz, mehr Gegenwartssinn zu gewinnen: Gegenwart in Raum und Zeit. Man kann es, muss es nicht, aber wenn man es kann, geschieht es ohne zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzukehren, ohne neue Tempel zu bauen und ohne Stabilitätsmythen zu frönen. Ein Mehr an Aufklärung - kein Abstrich - steht auf dem Programm, ein Fortschritt im postutopischen Bewusstsein der Freiheit des Geistes, von dem auch der Protestantismus profitieren sollte.

Kommt jemand in die Gefahr, sich in himmelstürmende Ideen zu versteigen und die Realität darunter aus dem Blick zu verlieren, rufen wir ihm zu: "Lass die Kirche im Dorf!" Im Dorf heißt mitten im Dorf, denn da steht sie nach altem Brauch: Kirche mitten im Dorf. Unsere Ekklesiologie - die protestantische zumal - tut sich schwer mit diesem Zentralitätsprinzip. Sie würde, um allen Zweideutigkeiten aus dem Weg zu gehen, am liebsten zum Exodus raten: Auszug aus den übergroßen, kalt und ungemütlich gewordenen Altstadtkirchen in die multifunktional nutzbaren und nach kommunikationspsychologischen Empfehlungen gebauten Gemeindezentren der letzten Jahrzehnte, draußen an der nachkriegszeitlichen Peripherie, wohin sich kein Tourist verirrt. Die Bürgerschafs wird es aber mit dem topischen, dem gemeinplätzigen Argument zu verhindern wissen: "Lasst die Kirche im Dorf!" Den Kirchbauten im Herzen der Altstädte sind Ligaturen atmosphärischer Art zugewachsen, deren Wert für die Stadtgemeinde insgesamt über ihren Nutzwert für die jeweiligen Kirchengemeinden hinausgeht. Sie fungieren als Psychotop für die Dialektik von Ortung und Entortung, Lokation und Dislokation, Topisierung und Utopisierung des Geistes in dürftiger Zeit. Eine ideologieresistente Sprache muss dafür noch gefunden werden.

Allenthalben steht heute die Frage im Raum, wie "Religion nach der Aufklärung" (Herman Lübbe), sprich: nach der am aufklärerischen Fortschrittglauben orientierten Religionskritik eines Feuerbach, Marx, Freud, Nietzsche, Barth und Bonhoeffer zu situieren sei. Sie gilt möglichen Lernorten, Ausbildungsstätten oder Studienplätzen für die Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen. Wo kann Tradition nicht traditionalistisch, wo können Konventionen unkonventionell vergegenwärtigt werden, um in einer sich rasch ändernden Lebenswelt die Kulturfähigkeit ihrer Bewohner zu erhalten? Die topographischen Kirchen im Kern von Dorf und Stadt haben dafür Standortvorteile, die sie der Konkurrenz nahezu konkurrenzlos überlegen machen. Sie besitzen ein architopisches Flair, das seitens der Reformationstheologie nur mit der Wendung "ohn all Verdienst und Würdigkeit" kommentiert werden könnte. Eine auf das Zentralitätsprinzip abgestellte Stadtkirchenekklesiologie würde bei Paul Tillich in das Kapitel gehören, das dem "prophetischen Prinzip" folgt und überschrieben ist: "Der Protestantismus als gestaltendes Prinzip".

Anmerkungen
  1. Johannes 4,21. 24.
  2. G. Theißen: Soziologie der Jesusbewegung, München 1977.
  3. Genesis 4,12.
  4. Matthäus 8,20.
  5. Hebräerbrief 13,14.
  6. Johannes 1,14.
  7. Genesis 3,19.
  8. Genesis 28,16ff.
  9. Psalm 18,3.
  10. P. Tillich: Protestantische Gestaltung, in: Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930.

© Hermann Timm 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/ht1.htm

 
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Hermann Timm, Wie kommen wir ins nächste Jahrtausend? Die Theologie vor dem Millenium des Geistes. Hannover 1998