Ent-Festung
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Auf einem großen alten Bücherschrank in meinem Arbeitszimmer steht ein Kunstwerk, das mich seit bald einem Vierteljahrhundert begleitet. Es ist kein gemaltes Bild, das sein Erscheinungsbild im Lauf des Tages durch den Licht- bzw. Sonneneinfall ändert, keine traditionelle Skulptur, die auf vielfältige Weise Schatten werfen würde, sondern es ist in einem gewissen Sinn ein lebendiges Kunstwerk. Tag für Tag verliert es etwas von seiner Konsistenz, so wie der Mensch etwas von seiner Haut verliert. Feinste Teilchen fallen vom Kunstwerk ab und erfordern, dass ich sie zumindest einmal in der Woche zusammenkehre und vom Bücherschrank entferne. Ich kann sie nicht wieder ins Kunstwerk zurückbringen, sie sind im wörtlichen Sinn ein natürliches Abfallprodukt seines Werkprozesses. Dass dieses Kunstwerk nicht seine Form verliert, liegt daran, dass es von Stahl gehalten wird, ein zusammengeschweißtes Stahldreieck formt sein Äußeres derart, dass Theolog*innen dazu verführt sein könnten, von einem Auge Gottes zu sprechen. In diesem Dreieck sind nun sorgsam Erdschollen geschichtet, die in einem merkwürdigen Kontrastverhältnis zu dem sie umgebenden Stahl stehen. Und doch sind beide Elemente aufeinander angewiesen, ohne Erde wäre der Stahl nur eine leere Form, ohne den Stahl wäre die Erde nur eine ungeformte Masse, die schnell vergehen würde. Der Stahl wird die Erde auf Dauer nicht halten können, das Kunstwerk hat demnach eine zeitliche Grenze, die freilich erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten überschritten wird und nur eine leere Form übriglässt. Bis dahin „lebt“ das Kunstwerk still vor sich hin. Man kann, muss freilich aber nicht, diese Zuordnung beider Materialien als eine Art visuelle Metapher deuten, die extrem verdichtet einen epochalen menschheitsgeschichtlichen Wechsel vor Augen führt. Was jeweils für sich nur ein konkretes Material in einem Werk der konkreten Kunst[1] darstellt, kann im Zusammenspiel weitere Bedeutungen und Deutungen generieren. Und auch je nachdem, was die Betrachter*innen an biographisch ausgebildeten Hintergründen mitbringen, ergeben sich weitere Lesarten, in meinem Falle theologische. Man kann als ausgebildeter Theologe nicht davon abstrahieren, welche Rolle Erde und Eisen (und später auch Stahl) in der Geschichte Israels gespielt haben, zu tiefgreifend ist das auch mit der theologischen Theoriewerdung verbunden. Deshalb ein kurzes Intermezzo
Materialien, so lese ich daraus, haben auch theologische und politische Implikationen. Feste, be-festigte Städte können wieder zerfallen, Landwirtschaft kann eine neue, politische Bedeutung bekommen, Materialbeherrschung kann geschichtsbildend sein. Dort wo Materialien aufeinanderstoßen, kommt es zu Reibungen und neuen Konstellationen. Was eben noch die Festigkeit der Gruppe garantierte, kann im nächsten Moment zu Staub zerfallen. Selbst der scheinbar härteste Stoff kann durch einen anderen abgelöst werden und steter Tropfen höhlt den Stein.[3] Aber die „Feste“ spielen in der hebräischen Bibel noch eine ganz andere, durchaus ambivalente Rolle, sie sollen uns nach dem ersten Buch der Bibel vor dem Chaos und den herabstürzenden Urfluten schützen.
Wir brauchen demnach diese Feste und damit das Feste, sonst sind wir dem Chaos ausgeliefert. Diese nunmehr über 2500 Jahre alte Vorstellung hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis geprägt, sie spielt auch heute noch immer eine wichtige Rolle, sie wird nur politisch reaktionär umformuliert und instrumentalisiert. In den zurückliegenden Debatten um „die Festung Europas“ wird von den Fluten gesprochen, die über uns hereinbrechen und es wird eine drohende „Asylantenflut“ beschworen. Das knüpft unmittelbar an archaische Vorstellungen an. Andererseits wird man das emphatische Lob der „Feste“ in der Neuzeit unschwer dem Protestantismus zuordnen können. „Ein feste Burg ist unser Gott“ lautet eines der Programmlieder der lutherischen Konfession. Ob damit tatsächlich, wie ein Literaturlexikon meint, „die destruktive Kriegsmetaphorik jener Zeit für den religiösen Dienst umgewidmet wurde“[5] kann doch bezweifelt werden. Achim von Arnim spricht im Wunderhorn nicht umsonst von einem „Kriegslied des Glaubens“. Worum es aber geht, ist, in scheinbar oder auch offenbar unsicheren Zeiten Sicherheit zu beschwören, der Ent-Festung entgegenzutreten. Das ist ein Prozess, der Kunst und Gesellschaft seit vielen Jahren und Jahrzehnten beschäftigt. Madeleine DietzSeit mehr als einem Vierteljahrhundert begleitet mich das Werk der Künstlerin Madeleine Dietz, von der das einleitend beschriebene Kunstwerk auf meinem Bücherschrank stammt. Als Theologe und Kulturwissenschaftler ist es für mich eine Herausforderung, immer wieder neue Beobachtungen am Werk zu machen und in die Entwicklung ihres Oeuvres einzuordnen. Wie bei vielen großen Künstler*innen gibt es ja eine mehr oder minder kontinuierliche Werkentwicklung, manche Elemente tauchen auf, werden durchgespielt und verschwinden wieder, adere waren am Anfang des Werkprozesses gar nicht vorhanden und bilden nun einen konstitutiven Bestandteil des gesamten Oeuvres.[6] Ich möchte im Folgenden das Werk bis zu dem Punkt verfolgen, an dem es sich mit dem Thema „Ent-Festungen“ beschäftigt.[7] BiographieDie Künstlerin wurde 1953 in Mannheim geboren, studierte 1969-73 an der Werkkunstschule in Mannheim Buchgrafik und Buchillustration und begann 1986 erste Videoarbeiten, Performances, Rauminstallationen. 1992 wurde sie mit dem Daniel-Henry-Kahnweiler-Preis für Bildhauerei und Plastik ausgezeichnet. Im gleichen Jahr gab es die ersten Lichtinstallationen und Projektionen. 1993 kuratierte sie die Ausstellung „Kirchgänge“ mit Werken verschiedener Künstler*innen in 11 Landauer Kirchen. 1996 erhielt sie den Cité International des Arts Paris, ein Stipendium für Künstler*innen aus aller Welt. 1997 folgte ein Gaststipendium in der Villa Romana in Florenz, 1998 ein Arbeitsstipendium in Houston, Texas, USA. 2003 erhielt Madeleine Dietz den Ernst-Barlach-Preis. 2004 war sie in Barcelona zu einem Werkstattaufenthalt in der Radierwerkstatt Tristán Barbara, 2013 erhielt sie den Kulturpreis Kunst & Ethos des Verlags Schnell & Steiner in Regensburg. Madeleine Dietz ist Mitglied des Künstlerbunds Baden Württemberg und Mitglied des Deutschen Künstlerbunds. Sie lebt in Landau-Godramstein/Pfalz. Im Blick auf die zahlreichen Ausstellungen der Künstlerin verweise ich einfach auf die laufend aktualisierte Übersicht auf ihrer Webseite. Persönlich kennengelernt habe ich die Künstlerin im Vorfeld der Ausstellung zeitgenössischer Kunst auf dem Kirchentag in Hamburg 1995. Paul Gräb, mit dem ich die Ausstellung vorbereitete, schlug vor, auch eine Arbeit dieser bis dahin mir unbekannten Künstlerin zu zeigen. Madeleine Dietz war da aber durchaus schon bekannt, sie war 1989 von Hans Gercke im Heidelberger Kunstverein gezeigt worden und 1991 im Hospitalhof Stuttgart bei Helmut A. Müller. Kirchentag 1995, GruppenausstellungDer Sinn der Hamburger Ausstellung war es, den Kirchentagsbesucher*innen konzentriert einen Teil der zeitgenössischen bundesrepublikanischen Kunstszene zu zeigen. Zugleich waren mehrere kirchliche Kunstdienste mit ihrem Grafikprogramm mit einbezogen. Zur Ausstellung erschien ein kleiner, geradezu minimalistischer Katalog, ganz bewusst im Postkartenformat, damit die Kirchentagsbesucher*innen ihn erwerben und in ihren Rucksack stecken konnten. In diesem kleinen Katalog erschien mein erster beschreibender Text zum Werk der Künstlerin (mit einem ziemlich peinlichen Fehler meinerseits, der zu einer deutlichen Kritik der Künstlerin führte):
Man sollte einfach keine Texte zu Kunstwerken schreiben, die man nicht vorher „angefasst“ und richtig verstanden hat. Denn natürlich handelt es sich nicht um Torf, der von der Künstlerin verarbeitet wird, sondern um getrocknete Lehmerde, was ganz andere Konnotationen und Konstellationen beinhaltet. Spätestens vor Ort in Hamburg war mir das natürlich klar und wurde dann auch einsichtig. Es geht dabei nicht zuletzt um die Festigkeit des Materials, was nicht zuletzt beim Hausbau wichtig wird: Hoffentlich nicht auf Torf gebaut sagt man dem Häuslebauer. Bei Madeleine Dietz geht es aber um die konstruktive Schichtung des getrockneten Materials. Und die Erde ist nicht abgestorben, sondern enthält durchaus potentielles Leben, etwa Grassamen. Documenta-Begleitausstellung 1997Mehr Gelegenheit, das Werk von Madeleine Dietz kennenzulernen, bot 1997 die Documenta-Begleitausstellung der Ev. Kirche zur Documenta X. Die kuratorische Idee dieser Ausstellung unter dem Titel „Inszenierung und Vergegenwärtigung“ war, so schrieb ich bereits in der letzten Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, „liturgische Punkte der Kirche (Tympanon, Altar, Kanzel, Chorraum, Seitenschiff) so zu ‚besetzen‘, dass Gottesdienst zwar weiter möglich war, er aber aus seiner Selbstverständlichkeit gerissen wurde.“ Von Madeleine Dietz gab es dabei zwei Kunstinstallationen, eine, die viel Einsicht in den Entstehungsprozess ihrer Arbeiten vermittelte und sich über 100 Tage entwickelte und eine, die zentral in den Kirchenraum eingriff. Im Kurzführer der Ausstellung schrieb ich dazu:
Während diese Arbeit ihren Reiz und ihre Faszination vor Ort erst entfaltete, wenn man dem Trocknungs- und Verfestigungsprozess über eine längere Zeit beiwohnte, erregte das andere Kunstwerk gleich in mehrfacher Hinsicht die Aufmerksamkeit der Gemeindemitglieder und der Ausstellungsbesucher*innen. Im Gespräch mit Madeleine Dietz wurde mir damals zunächst klar, wie viel Respekt Künstler*innen dem religiösen Ritus und der Gestaltung einer Kirche entgegenbringen. Während ich den Kirchenraum durchaus als experimentellen Erkundungsraum begreife, haben Künstler*innen wesentlich bestimmtere Vorstellungen davon, wie „heilig“ etwa der Altarraum den Gläubigen wohl sein muss und scheuen davor, in ihn einzugreifen. Genau darum hatte ich Madeleine Dietz nämlich gebeten weil ich ihre Arbeit inzwischen kannte und ihr zutraute, eine außergewöhnliche künstlerische Lösung zu finden. Die ersten Entwürfe und Skizzen zeigen gegenüber der tatsächlich realisierten Lösung deutlich, wie vorsichtig tastend sie an den Altarraum herangegangen ist.
Man könnte auch sagen, dass die Arbeit einen Prozess der Ent-Festung eines geronnenen Erscheinungsbildes in Gang setzt, der in diesem Fall nach 15 Jahren zu neuen Gestaltungsformen im Kirchenraum führt. Aber es ist natürlich so, dass das ursprüngliche Werk ein autonomes Kunstwerk ist, während die jetzige Lösung aus funktionalen Gründen in den Bereich der „angewandten Kunst“ gerät. Der Gebrauchskontext droht stets den künstlerischen Charakter zu überlagern und erfordert von den Kirchenvertreter*innen und Gemeindegliedern, behutsam mit der Funktionalisierung des Kunstwerks umzugehen, sonst kommt es schnell zu einem ganz banalen Ikonoklasmus. Ver-Ortungen - Paderborn 19991999 ergab sich die Möglichkeit, in der Paderborner Abdinghofkirche jenes Projekt der künstlerischen Erschließung und Ent-Festung eines religiösen Raumes, das in Kassel von zahlreichen Künstler*innen getragen worden war, nun in eine Hand zu legen und durch Madeleine Dietz eine komplette mittelalterliche Kirche mit Werken autonomer Kunst in Szene setzen zu lassen. Wesentlich konsequenter, einheitlicher und stimmiger, als dies in einer Gruppenausstellung je hätte geschehen können, wurde so ein religiöser Raum intensiv ästhetisch befragt und untersucht. Besonders galt das im Blick auf das Hauptwerk der Ausstellung, den Stufenweg zum Altar:
Selten wurde die Ent-Festung des Vertrauten, das Fragmentarische unseres Wegs deutlicher als mit dieser Arbeit. Die damalige Eigentümlichkeit der Künstlerin, ihre Arbeiten mit negativ formulierten Titeln zu versehen („Kein Brunnen“, „Kein Schrein“, „Kein Fenster zum Himmel“), sich also der positiven Sinnsetzung durch Titelgebung zu entziehen, bildete im Kontext eines religiösen Raumes eine besondere Herausforderung. Nichts war, wie es schien. Permanent mussten die Besucher*innen eigene Urteile fällen.
Die Abdinghofkirche atmete trotz ihrer protestantischen Inbesitznahme dennoch weiterhin den Geist des katholischen Ordo, in dem sie geschaffen wurde. Das wurde deutlich, wenn man auf folgendes Objekt stieß, das so funktional schien und doch so dysfunktional eigenständig war:
Kann man Tote sammeln?Ein Projekt, das diese Zeitschrift über einen längeren Zeitraum (2003-2007) begleitet hat, war „Side by Side“ (Heft 24, Heft 30, Heft 48). Die Künstlerin schrieb dazu
Entstanden ist am Ende des Projektes 2007 ein weltweit generiertes Konzeptkunstwerk. Detailliert wird dokumentiert, wo die einzelnen Erdschichten entnommen wurden, welche Begleitumstände dazu zu notieren sind und auch, welche Probleme es vor Ort gab. Denn natürlich kann und darf man nicht einfach Friedhofserde aus aller Welt zusammentragen hier gibt es zahlreiche Grenzen und man berührt viele Tabus. Hier geht es um die elementarsten Vorgänge im Gefühlsleben der Menschen, um ihren Glauben, ihre Überzeugungen, ihre Bindungen.[15] Die Hebräische Bibel setzt die Toten dem Staub gleich, nennt die Toten ‚die im Staub wohnen’, ‚die im Staubland schlafen’ und bezeichnet die Sterbenden als ‚die sich in den Staub betten’, ‚die zum Staub hinabsteigen, niedersinken’. Auf der anderen Seite gibt es in der Bibel auch die Hinweise auf den Staub, der Gott teuer ist. Während ein guter Teil der literarischen Texte die Bedeutungslosigkeit des Staubes hervorhebt, die Demütigung, im Staub zu kriechen, und die Notwendigkeit, den Staub von den Füßen zu schütteln, ist ein anderer Teil daran interessiert, noch dem kleinsten Staubkorn auf der Erde Bedeutung zuzuweisen. Die „Verklärung des Gewöhnlichen“ (Arthur Danto), die gerade auch die Ästhetik Gottes und nicht nur die Kunst des 20. Jahrhunderts auszeichnet, führt dazu, noch dem Geringsten eine zentrale Bedeutung zu zuweisen. Nicht aus dem Staub erhebt sich etwas, sondern der Staub selbst wird erhoben. Staub hat daher auch etwas Subversives, wie aus einem Briefwechsel um den theologischen Begriff des Staubs zwischen dem Theologen Helmut Gollwitzer und der in Stammheim einsitzenden Terroristin Gudrun Ensslin deutlich wird: „Staub ist der mächtige Beton in unseren Städten, es ist aber auch in uns Staub, der sich empören wird.“[16] Und so wird aus einem Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsprojekt ein politisches Projekt. Ent-Festungen
Das schrieb der Medienphilosoph Vilém Flusser 1989 unter der Überschrift „Häuser bauen“. Seit 2016 verleiht Madeleine Dietz diesem epochalen Prozess vom Sichtbar- und Bewusstwerden unseres Unbehaustseins und der Rückkehr zum Nomadischen einen künstlerischen Ausdruck. Das Material ‚Stahl‘ steht zunächst für den Schein der Sicherheit, für Konstruktion und Abgrenzung, für Undurchdringbarkeit. In dem Moment, in dem wir uns unsicher fühlen, beginnen wir Mauern zu errichten und Zäune hochzuziehen und verwandeln zugleich das eigene Gebiet in ein Gefängnis. Die bei Madeleine Dietz sichtbar werdende künstliche Schichtung der Materialien, ihre an Instabilität grenzende Konstruktion verweist aber auch auf die Brüchigkeit dieses Prozesses. Ihre Objekte stehen im Weg, erzwingen Um-Wege, schließen sich aber nicht mehr. Dietz schichtet Stahlplatten, wie ehedem ihre Erdstücke, zu einem Gebilde, das bei aller scheinbaren Solidität zugleich auch fragmentarische Züge bekommt. Der Stahl behält so zwar seinen materialimmanenten konstruktiven Charakter, aber er wirkt nun vor-läufig, nicht mehr end-gültig. Er kann sich zwar noch zu einem Kubus erheben, aber die Stahlplatten rundherum lassen die Gegenkräfte erkennbar werden, die drohende tektonische Verwerfung, die Gefahr „einstürzender Neubauten“. Das Ganze wird zu einem Objekt, das Entwurfscharakter hat, weil es jederzeit sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden muss, damit seinen Festungs-Charakter verliert und potentiell nomadisch wird. Das ist unmittelbar politisch. Im Kontext der früheren Arbeiten von Dietz, die ebenfalls vom Ruinösen und vom Vergänglichen sprechen, tritt nun verstärkt das Element des Transitorischen, des Übergangs hervor. Es ist eine künstlerische Metapher. Die Gitterzäune, die wir heute erleben, bieten keine Sicherheit, sondern machen die Willkürlichkeit, die Künstlichkeit dieser Art der Grenzziehungen sichtbar. Die stählernen Gebilde können morgen schon andere Gehäuse bilden, aber sie können nicht mehr der End-Gültigkeit der Abgrenzung dienen, sie sind Konstruktionen, die auch dekonstruiert werden können. Gitter, Stahl, Erde gibt es weiterhin, aber sie sind nun reversible Elemente, Mittel im Prozess von Verflechtungen, Aufbrüchen und neuer Zusammenstellungen.
Als Flusser seinen Text schreibt, gab es zwar das Internet in der Form, in der wir es heute kennen, zumindest in Ansätzen bereits seit sechs Jahren, aber es griff noch nicht in dieser Dominanz in unsere Lebenswelten ein. Aber in dieser Zeit wurden die Grundlagen gelegt, die zur fortschreitenden Ent-Festung unserer Existenz beitragen. Erst waren es die Antennen, dann die Drähte, schließlich die Kabel und Netze, die aus den massiven Abgrenzungen gegenüber der Umwelt nahezu transparente Gitter werden ließen: „Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.“ Und die globale Kommunikation macht auch die nationalen Grenzziehungen, die immateriellen Grenzen immer willkürlicher. Die Ent-Festung unserer Existenz ist natürlich ein sich über Jahrhunderte vollziehender Prozess. Anfangs betraf dieser Prozess nur unsere Stadtgrenzen, deren Sicherung durch Mauern und Türme unsinnig geworden war, weshalb sie heute nur noch pittoresken Charakter haben. Schon im 19. Jahrhundert war die oder „ein feste Burg“ nur noch ein ahistorischer, historistischer Romantizismus. Es blieben die Nationengrenzen und die privaten Häusergrenzen. Während die Menschen über Jahrhunderte versuchten, sich in festen Häusern und Nationen einzurichten (‚Festung Europa‘), begannen ihre Behausungen in neuerer Zeit immer durchlässiger und fragiler zu werden. Wir können zwar weiterhin (verbal) Festungen errichten, aber wir kommen nicht umhin, unsere zunehmend instabiler und netzartiger werdende Existenz neu zu reflektieren. Die heimische Scholle ist heute nur noch ein Element, kein Argument mehr. Ent-Festung ist heute ein alle verbindender Teil der Lebenswirklichkeit mit der zu leben wir lernen müssen. Anmerkungen[1] Vgl. Hans Günter Golinski: Konkretum-Abstraktum. Madeleine Dietz und Margret Eicher, Ausstellungskatalog Museum, Bochum und Galerie Epikur, Wuppertal, 1996 [2] WiBiLex, art. Eisenzeit I von Ute Zwingenberger, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/17088/ [3] Nach Ovid: πέτρην κοιλαίνει ῥανὶς ὕδατος ἐνδελεχείῃ.. [4] Reicke, Bo; Rost, Leonhard (Hg.) (2003): Biblisch-historisches Handwörterbuch (BHH). Landeskunde, Geschichte, Religion, Kultur, Literatur. Berlin: Directmedia Publ (Digitale Bibliothek, 96). Bd. 1, S. 474 [5] Walther Killy, Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache (= Digitale Bibliothek, 9), Berlin 1998. Band 13 S. 474. [6] Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 103, Heft 14, 3. Quartal 2013: Madeleine Dietz. Text von Ute Strimmer. [7] Dabei kommen auch immer wieder Textelemente vor, die im Verlauf der Jahre auch schon im Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik publiziert wurden. Deshalb habe ich mich für eine Art Collage bzw. Montage als Form des Essays entschieden. [8] Andreas Mertin, Annäherung an die Kunstwerke der Ausstellung, in: Paul Gräb und Andreas Mertin (Hg.), Kunst zum Kirchentag '95. Ausstellungskatalog, Maulburg 1995, 4667, hier S. 50. [9] Kurzführer der Ausstellung „Inszenierung und Vergegenwärtigung“, Kassel 1997. [10] Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik (= Fischer-Taschenbücher Wissenschaft, 7340), Frankfurt am Main 1984. [11] Ebd. [12] Kurzführer durch die Ausstellung „Korrespondenzen“, Paderborn 1999. [13] Ebd. [14] Ebd. [15] Verf. Kann man die Toten sammeln? Zum Sammlungsprojekt "side by side" von Madeleine Dietz, kunst und kirche 2/2009 [16] überliefert von Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt 1981, S. 1020. [17] Flusser, Vilém (2005): Häuser bauen. In: Vilém Flusser: Medienkultur. 4. Aufl. Hg. v. Stefan Bollmann. Frankfurt/Main: Fischer (Fischer Taschenbücher, 13386), S. 160163, S. 160. [18] Ebd., S. 162. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/130/am721.htm |