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Utopie und DystopieOder: Wovon träumen eigentlich Sci-Fi-Filmer*innen?Andreas Mertin The American Dream[1]
Daraufhin beschloss die Bürgerrechtsbewegung, einen Marsch auf Washington zu veranstalten, der dann zur größten Massenveranstaltung in den USA werden sollte. 250.000 Menschen nahmen daran teil und als einer der letzten Redner sollte Martin Luther King sprechen, als „moralischer Anführer der Nation“. Seine Rede würde das sein, was man von der Veranstaltung im Gedächtnis behalten würde. Martin Luther King machte sich vorher viele Gedanken zu seiner Rede. Er befragte seinen Freund Wyatt Tee Walker, denn er hatte bereits verschiedene Ideen, unter anderem die emphatische Formel „I have a dream!“ Walker riet ihm davon ab, diese Phrase zu verwenden, da sie klischeehaft und abgenutzt sei. Diesen Einwand kann man nur verstehen, wenn man bedenkt, dass der amerikanische Traum The American Dream schon seit der Unabhängigkeitserklärung 1776 beschworen worden war, ohne jemals für die nicht-weiße Bevölkerung gegolten zu haben. Das war die Herausforderung für Martin Luther King. Konnte er sich auf eine Sprachformel beziehen, die seit Jahrhunderten vorgetragen wurde und gleichzeitig aber niemals für die afroamerikanische Bevölkerung gegolten hatte? Und so beschloss er in der Nacht, die Formel „I have a dream“ aus seiner Rede zu streichen. The German Angst
„Angst“ war tatsächlich etwas, was nach Ansicht der ganzen Welt das Denken und Träumen der Deutschen gerade auch im 20. Jahrhundert charakterisierte, so dass der Moment Of Angst es 1981 sogar auf das Titelbild der Time brachte. Unsere Träume von der Zukunft sind angstbesetzt. Man kann das am Google Ngram-Viewer nachvollziehen, der den Wortbestand von Millionen gescannter Texte auswertet (books.google.com/ngrams): Danach kommt „German Angst“ im angelsächsischen Bereich zum ersten Mal Ende des 19. Jahrhunderts in den Blick, erreicht einen ersten Höhepunkt in den 50er Jahren und bleibt dann etwa 40 Jahre lang auf diesem Niveau und bekommt seine Hochkonjunktur seit der Jahrtausendwende. Als ein Begriff der deutschen Selbst-Reflexion kommt er dagegen in Deutschland so richtig erst Mitte der 90er-Jahre auf und hat seitdem eine steile Karriere hingelegt und taucht immer wieder in den öffentlichen Diskussionen auf. Utopie und DystopieMan könnte nun überlegen, wie sich diese beiden Gefühlswelten, des progressiven Traums einer egalitären Gesellschaft (nach Ernst Blochs Prinzip Hoffnung) einerseits, und des regressiven Alp-Traums einer angstgetriebenen Gemeinschaft (nach der kontrollierten Gesellschaft a la George Orwells 1984) andererseits, zueinander verhalten. Mein für derartige Bestimmungsversuche geradezu reflexhafter erster Schritt versagt in diesem Falle vollständig. Der Blick auf Googles NGramViewer zeigt zwar eine ganz interessante Verlaufskurve, die aber im Blick auf unser Thema völlig nichtssagend ist und das liegt daran, dass das Wort Dystopie bis 1970 eine völlig andere Bedeutung hatte. Denn bis in die 70er Jahre war das Wort nahezu exklusiv an die medizinische Sprache gebunden. Das macht es schwer, durch Beobachtung der Sprachentwicklung etwas zu erschließen. Früher sprach man in aller Regel von Anti-Utopien, negativen Utopien oder Ähnlichem. Erst Mitte der 80er-Jahre beginnt das Wort „Dystopie“ an diese Stelle zu treten.[2] Aber auch dann muss man sagen, dass das Wort „Dystopie“ im Vergleich zum Wort „Utopie“ sehr selten in der deutschen Sprache vorkommt und auch die Utopie scheint uns verloren zu gehen. Mediale ReflexionNun kann man fragen, ob sich dieses Verhältnis von Utopie zu Dystopie auch medial spiegelt, ob also in Kinofilmen, Kurzfilmen oder etwa Musikvideos, Tendenzen in die eine oder andere Richtung wahrnehmbar sind. Wer auf den Überblicksseiten zum Kino das Stichwort „Utopie“ eingibt, bekommt automatisch die Kategorie „Utopien & Dystopien“ zugewiesen.[3] Das deutet darauf hin, dass es keine ausreichende Zahl an Kinofilmen gibt, die man in einer Einzelrubrik „Utopie“ bündeln könnte. Und tatsächlich zeigt ein Blick auf die dann vorgestellten Kinofilme in der Kategorie „Utopien & Dystopien“, dass es sich nahezu ausschließlich um Dystopien handelt.[4] Auch in der Wikipedia gibt es nur eine Zusammenstellung der dystopischen Filme und keine der utopischen Filme.[5] Offenkundig spiegelt das cineastische Medienuniversum seit nun über 100 Jahren weniger unsere Hoffnungen, Wünsche und positiven Entwürfe, als vielmehr unsere Ängste und Alpträume. Natürlich gibt es auch die Pretty-Woman-Filme mit dem „Happy-End als Kino-Illusion“, aber das ist noch keine Utopie, sondern Hollywood-Massenware.
Vielleicht ist die zugrunde liegende Logik aber auch eine andere. So hatte Alexander Kluge schon vor 35 Jahren in seinem Klassiker über die Macht der Gefühle im Film geschrieben: „Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang“.[6] Und dazu muss vielleicht die Stimmung zunächst einmal so sehr dramatisiert werden, so ins Negative gedreht werden, dass am Ende noch das Überleben als Positives erscheint. Vielleicht lieben wir unsere dystopischen Träume und Fantasien, weil es uns so gut geht und wir uns fragen, ob es so weiter gehen kann. The German Angst als weltweites Phänomen. Vermutlich der bedeutendste dystopische Filmzyklus der letzten Jahre ist jedenfalls in den Augen der jugendlichen Fans Die Tribute von Panem. Allerdings ist ihre Perspektive begrenzt, wie der Filmkritiker Georg Seeßlen schrieb:
Harte Worte.
Science-Fiction-Shorts als ErkundungsfeldMeine Idee ist es nun, aktuelle Zukunftsbilder im Genre des Science-Fiction-Kurzfilms zu suchen. Eine Möglichkeit dazu bietet ein Sci-Fi-Kanal auf Youtube: DUST, der Woche für Woche Science-Fiction-Kurzfilme veröffentlicht.[8] Wenn Science-Fiction ein Seismograph unserer Ängste und Sehnsüchte ist, dann erfährt man vielleicht hier etwas Genaueres. Der Vorteil gegenüber den großen Hollywood-Filmproduktionen ist nicht nur, dass die Filme praktikabel kurz sind, sondern auch, dass die Kurzfilm-Regisseure weder auf ein Happy-End noch auf die Stilisierung des Helden angewiesen sind. Sie können sich ganz ihren cineastischen Träumen hingeben.
Der letzte RoboterOnline: https://www.youtube.com/watch?v=00GVUa3Rgt4
Das Motiv des letzten Überlebenden (I am legend, The last man on earth, The Divide, Human Nature, Die letzte Stunde …) wird hier am Beispiel eines überlebenden Roboters durchgespielt. Dystopisch ist der Kurzfilm darin, dass es so gut wie keine Hoffnung auf eine Zukunft gibt. Bist Du nicht willigWebsite: http://www.donnythedrone.com/
Das Motiv der Rettung durch eine empathisch werdende Maschine könnte man zu den utopischen Elementen zählen: der Errettung der Menschheit aus der Versklavung und der Aufbruch ins gelobte Land (Exodus). Dystopisch schlägt der Kurzfilm dann vom Rettungsmotiv in das der Erziehungsdiktatur um. Follow the white RabbitOnline: https://www.youtube.com/watch?v=kgVzbK86aDI
Waltzing Tilda setzt an als Dystopie, die individuell zunächst als Utopie vom endlich allein bestimmten Leben gedeutet wird. Diese individualistische Utopie kommt schnell an ihre Grenzen. Zum Schluss geht es aber nicht um die Anerkenntnis der Dystopie, sondern um die Hoffnung auf ein Ende der Geschichte. Was in uns stecktOnline: https://www.youtube.com/watch?v=V7Fi5o4WUrw
Utopisch ist an diesem Kurzfilm nur die Idee, der Mensch wäre fähig, Kopien von Menschen anzulegen. Alles Weitere ist durch und durch dystopisch. Interessant ist der Gedanke, dass der Klon das Potential aufzeigt, das im Einzelnen gelegen hätte, wenn er seine Möglichkeiten nur konsequent genutzt hätte. Was ist schon ein Paradies?Online: https://www.youtube.com/watch?v=YvLH0sy_lu8
Radiergummi oder: Die Zukunft ist ein DonutOnline: https://www.youtube.com/watch?v=0KtrQJcKeyk
„I have a dream!“1963 hatte Martin Luther King seine Rede schließlich fertig geschrieben und in ihr jede Anspielung auf den amerikanischen Traum gestrichen, er war also dem Ratschlag seines Beraters gefolgt. Er begann die Rede vor den 250.000 Demonstranten. Aber dieses eine Mal erreichte er nicht jene besondere Beziehung zu seinem Publikum, die ihn bisher ausgezeichnet hatte. So hielt er mitten in der Rede ein. Da soll ihm, so erzählt es die Legende, die Gospelsängerin Mahalia Jackson zugerufen haben: „Erzähl ihnen von dem Traum, Martin!“[9]
Die Rede wird zu den Meisterwerken der Rhetorik gezählt. King verwendet darin als Allusionen zahlreiche Zitate, etwa aus der Bibel, der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, der amerikanischen Verfassung, der Nationalhymne, aus der Emanzipationsproklamation und der Gettysburg Address, beide von Präsident Abraham Lincoln sowie aus William Shakespeares Drama Richard III. Die Kenntnis dieser Texte wird bei den Zuhörern vorausgesetzt. Der „Traum“ ist die zentrale Formel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung geworden. Und trotz aller dystopischen Erfahrungen in der Zwischenzeit, irgendwann wird er auch in Erfüllung gehen. Vielleicht beginnt es mit den Worten von Amanda Gorman:
Aber das kann erst der Anfang sein:
Anmerkungen
[1] Dieser Text basiert auf Überlegungen, die unter dem Titel „‘I have a dream‘ Mediale Zukunftsbilder“ in der Zeitschrift Das Baugerüst, im Heft 4 des Jahres 2019, (S. 16-19) erschienen ist. In der vorliegenden Form wurde er vorgetragen auf der Spring School WS 2020/21 der Ruhr-Universität Bochum „Zukunft in einer hochtechnisierten Gesellschaft. Technologiebewusstsein zwischen Dystopie und Utopie“ 19.03.2021 [2] In diesem Sinn wirkt die Nutzung des Wortes „Dystopie“ wie ein Marker für Modernität der Forscher*innen. In auffällig vielen Fachbüchern (jenseits der cineastischen Spezialliteratur), die ich digital durchsuchen konnte, kommt das Wort „Dystopie“ nur ein einziges Mal vor, es ist als ob die Autoren andeuten wollen, dass sie auf der Höhe der Zeit sind. [3] https://www.kino.de/filme/genres/science-fiction-film/utopie-dystopie-film/ [4] Auch in Inge Kirsners jüngst erschienenem Buch „Komm und sieh: Religion im Film“ kündigt die Autorin in der Einleitung zwar an, sich im achten Kapitel mit „Dystopien und Utopien“ zu beschäftigen, setzt sich dann aber ausschließlich mit Dystopien auseinander. Auch populärkultur-theologisch scheint die „Lust am Untergang“ beliebter zu sein als der Entwurf des himmlischen Jerusalem. Vgl. Inge Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film. Analysen und Modelle (= pop.religion: lebensstil kultur theologie), Wiesbaden 12020. [6] Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle. Neue Geschichten, Frankfurt am Main 11984. |
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/130/nn.htm |