Ent-Festung – Ent-Grenzung

Bewegungen durch Zeit und Raum

Barbara Wucherer-Staar

Der synthetische Mensch
Professor Bumke hat neulich Menschen erfunden
Die kosten zwar, laut Katalog, ziemlich viel Geld,
doch ihre Herstellung dauert nur sieben Stunden,
und außerdem kommen sie fix und fertig zur Welt. …
Professor Bumke hat mir das alles erklärt …
Die Bumkeschen Menschen sind das, was sie kosten auch wert.

Erich Kästner, 1932[1]

In Platons Höhle

Nach einem Jahr Covid-Warnungen und einem „Information Overkill“ in den Medien befinden wir uns jetzt in der so genannten „Dritten Welle“. Mit strengen Regeln für einen Rückzug aus dem öffentlichen Leben soll über Ostern, dem höchsten Fest der Christen, diese dritte Welle gebrochen werden. Wir sehen täglich die Kugel mit Stacheln, ähnlich einem mittelalterlichen Morgenstern, hören und lesen über das Corona-Virus Tag für Tag in allen Medien von seinen realen Auswirkungen. Doch es selbst ist unsichtbar. Stattdessen treffen wir, wenn wir aus dem sicheren Haus gehen, die anderen, die sich ebenfalls mit einer Maske zu schützen versuchen. Wir werden nervös, wenn Sicherheitsabstand und Maskenpflicht vergessen werden. Sind wir Gefangene – in den eigenen vier Wänden, in den sich überstürzenden Nachrichten über Lockerung, Verschärfung, Rücknahme, Ausgangssperre, Lockdown? Nein, nein? Sehen wir die Wirklichkeit als greifbare Wirklichkeit oder eher im Bild eines Spiegels. Des Spiegels, der immer zwei Seiten darstellt: zum einen begrenzt er die Sicht bis zum eigenen Spiegelbild, zum anderen lenkt er je nach Rückspiegelungs-Perspektive den Blick ins Unendliche.

Prolog: Zirkus als Sinnbild eines Spéctacle populaire mit Clowns, Harlekins und Fahrendem Volk

So ein Spiegel unserer Lebenswelt findet sich im Motiv des Zirkus‘ als künstlerischer Lebensentwurf und gesellschaftskritisches Modell. So finden wir das Motiv im Werk von Picasso (um 1905) und Wols (um 1939/1940).[2] Picasso war fasziniert von der ganz eigenen Welt des lärmenden, „fahrenden Volkes“, der Clowns, Harlekins, aber auch fasziniert von der individuellen Einsamkeit. Ein Schlüsselbild ist seine Allegorie auf das Künstlerleben La famille de Saltimbanques (1905). Es wird unter anderem als „Doppelbild einer idealen Gemeinschaft und einer Ästhetik des Risikos“[3] interpretiert.

Wols‘ Projekt eines Zirkus, das im Gefangenenlager entstand, wurde lediglich in Aquarellen und Zeichnungen realisiert. Sein „spéctacle populaire“ (Wols) zeigen drei erhaltene Aquarelle mit Szenen aus dieser Welt, entstanden während seiner Internierung durch die Vichy-Regierung in Südfrankreich (Camp des Milles).[4] In solchen makabren, surrealen Szenerien finden sich Bilder zwischen alltäglichen Situationen innerhalb der Mauern und dem Wunschtraum, mit einem an den Himmel gezeichneten Ballon zu fliehen.[5]

Goldene Zeiten?

Im Gegensatz zum „weichen“ Spiegelkabinett ist die reale Welt der Industrie „stahlhart“.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus
Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London, 1948

Reicher Mann und armer Mann
Standen da und sahn sich an.
Und der arme sagte bleich:
Wär ich nicht arm wärst Du nicht reich.
Berthold Brecht, Alfabet[6]

Kohle, Stahl und Textil – Anfänge der Industrialisierung im Wupper-Tal

Wuppertal. „Lassen Sie mich ( … ) ein Bild von Hübner, einem der besten deutschen Maler, erwähnen, das wirksamer für den Sozialismus agitiert hat als hundert Flugschriften. Es zeigt einige schlesische Weber, die einem Fabrikanten gewebtes Leinen bringen, und stellt sehr eindrucksvoll dem kaltherzigen Reichtum auf der einen Seite die verzweifelte Armut auf der anderen Seite gegenüber“.[7]

Wer war er, der Carl Wilhelm Hübners (1814-1879) Die schlesischen Weber (1844) hervorhebt? Es war Friedrich Engels (1820-1895), Gesellschaftstheoretiker und erfolgreicher Textilfabrikant, der mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in Barmen, Wuppertal und London gut vertraut war. In Briefe aus dem Wuppertal (1839 schildert er die Nachteile, die durch die Ablösung handwerklicher Textilproduktion durch eine zunehmend florierende Industrialisierung entstanden. Es gebe kein „frisches, tüchtiges Volkswesen“ mehr, … sondern „ein schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern“.[8]

In einem Text über „Grundsätze des Kommunismus“ (1948), einer Vorarbeit des zusammen mit Karl Marx erarbeiteten „Kommunistischen Manifest“ (1948)[9], entwirft er den Gedanken eines besseren Menschen nach der proletarischen Revolution und der Abschaffung des Privateigentums - eines Menschen, dessen „Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind“ und der das „gesamte System Produktion überschauen“ kann.[10]

Lenins Koffer (1984) von Stephan Huber (*1952) ist eine von rund 100 Arbeiten zum „Engels-Jubiläumsjahr“ im von der Heydt Museum. Der Reisekoffer auf Rädern aus Neonröhren in Form von Hochdruckventilen symbolisiert Wladimir Iljitsch Lenins (1870-1824) Reise aus dem Schweizer Exil über Deutschland und Finnland nach Petrograd 1917. Am Ende der Schau ein Verweis auf hochexplosives revolutionäres kommunistisches Potential, das im Koffer davon rollt? Im Gepäckstück dürfte auch Das Kapital von Karl Marx und Friedrich Engels seinen Platz gefunden haben.

Revolution und Industrie unter der Lupe

Engels, so die Kuratorinnen Ante Birthälmer, Beate Eickhoff und Anna Storm, habe im 19. Jh., erkannt, dass die „Vision“ einer besseren Moderne erst dann entstehen könne, wenn der „Schrecken“ des ungezügelten Kapitalismus gebannt wäre: Bis heute – das stellt die Schau heraus – bringen industrielle Errungenschaften Gewinn an Lebensqualität, fordern aber ihre Kosten von Mensch und Natur.

Eine Zeitreise quer durch acht Räume beginnt mit repräsentativen Porträts des (pietistisch geprägten) Großbürgertums in Wuppertal, deren Selbstverständnis das privilegierte Leben in einer von Gott gewollten Ordnung war. Zitate aus Adelsporträts wie antike Säule und kostbarer Vorhang im Hintergrund unterstreicht Heinrich Christoph Kolbe in den Bildnissen von Peter de Weerth, 1825, dargestellt als Kaufmann mit Zeitung und Uhr und Elisabeth Gertrud de Werth (1825), kostbar gekleidet mit Gebetbuch in einem Lehnstuhl. Zu den wichtigen gesellschaftlichen Treffen zählt Reiten (Fritz Roeber, Vor dem Ausritt, 1898).

Sozialer Brennpunkt Proletariat

Wilhelm Kleinenbroichs Kölnische Zeitung (Der Proletarier, 1845) zeigt dagegen einen Zeitung lesenden, verstörten Mann mit geflicktem Wams. Heroen körperlich anstrengender Arbeit sind Anfang des 20. Jahrhunderts ein Tauzieher (Bernhard Hoetger, 1902), ein Steinwälzer (Die Arbeit), (Wilhelm Lehmbruck 1904) und Le Martelleur (Der Hammerschmied) von Constantin Émile Meunier 1906.

Max Klinger, einer der einflussreichsten und umstrittensten Künstler der Wilhelminischen Zeit, schildert in dem sozialkritischen Grafikzyklus Dramen (1883) persönliche Not (Die Mutter), Aufruhr und Kampf auf den Barrikaden (Märztage).

Seine eindringliche Durchleuchtung setzt sich fort in Arbeiten von Käthe Kollwitz, etwa in den von Gerhard Hauptmann angeregten grafischen Zyklen Ein Weberaufstand. Angeregt wurde sie durch das gleichnamige Drama von Gerhard Hauptmann über den schlesischen Weberaufstand 1844, entstanden 1891/92. Ausgestellt wurde das Werk 1898 auf der großen Berliner Kunstausstellung). Zeigt Kollwitz eine in sich gekehrte, würdevolle Arbeiterfrau mit blauem Tuch (1903) strömen Hans Baluscheks Masse erschöpfter Arbeiterinnen (Proletarierinnen, 1900) scheinbar empfindungslos aus einer Fabrik.

Stadt, Land, verschmutze Gewässer

Idyllische Stadtlandschaften wandeln sich zu Panoramen, in denen Fabrikschornsteine höher sind als Kirchtürme. Industriehallen werden zu „Kathedralen der Moderne“. Doch auch wenn Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) eine der führenden Industrienationen war zeigt Marianne von Werefkins Eisengießerei in Oberstdorf (1912) eine düstere Fabrik bei Nacht.

Eine Allegorie auf die Faszination industrieller Fertigung dagegen nimmt Bezug auf Satyrn aus der Mythologie ebenso wie auf impressionistische Formulierungen von Licht und gewaltigem Feuer, um die Faszination der gigantischen Stahl-Produktion zu erfassen (Heinrich Kley (1863-1945), Die Krupp´schen Teufel, 1913/14). Arbeiter liefern den kuriosen Teufeln den flüssigen Stahl. Das Risiko scheint gefährlich, wirkt aber fast ästhetisch. Conrad Felixmüller malt - entgegen seinen kritischen Arbeiterporträts Anfang der 1920er Jahre -orange-gelb leuchtende Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts (1927). Als Symbol für die moderne Zeit, Reise und Geschwindigkeit steht Max Beckmanns Blick auf den Bahnhof Gesundbrunnen (1914).

Max Peiffer Watenphuls Landschaft an der Ruhr (1935/36) dagegen ist grau und verschmutzt, mit rauchenden Schloten.

Elend der Weimarer Republik nach dem industriell geführten Ersten Weltkrieg, zeigen mahnende Grafik-Zyklen von Max Beckmann (Die Hölle, 1919, Berliner Reise, 1922), Otto Dix (Der Krieg, 1924) und George Grosz (Im Schatten, 1920). Selbstbewusst dagegen stellt Dix ein gut gekleidetes Fabrikmädchen am Sonntag (1922) vor. John Heartfield kritisiert in Fotomontagen den Widersinn von Börsenspekulationen (So macht man Dollars, 1931).

Landwirtschaft und Industrie

Georg Scholz´ Satire auf Industriebauern (1920) nach dem Ersten Weltkrieg kritisiert reaktionäre Kräfte, Kriegsgewinnler, Fabrikbesitzer, Politiker und Kirche. Er führt Fortschritt und Porträtdarstellungen des Großbürgertums ad absurdum, wenn er deformierte Figuren in eine Wohnstube setzt: einen Bauer mit aufgeklebten Geldscheinen, eine Bäuerin mit Netzhandschuhen und einen Sohn mit geöffnetem, hohlen Schädel. Draußen, auf dem Feld vor dem Fenster segnet ein Geistlicher einen Mähdrescher.

Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise in den 1880er Jahren, des Ersten Weltkrieges (1914 – 1918), der Novemberrevolution 1918, der Inflation Anfang der 1920er Jahre und der Auflösung der Weimarer Republik (Weltwirtschaftskrise 1929) entwickelt sich ein künstlerisches Engagement für die durch Industrialisierung an den Rand gedrängte Bevölkerung.

Neben den Berliner Realisten, deren kritische Arbeit Kaiser Wilhelm als „Rinnsteinkunst“ diskreditierte, stellen Künstler wie Carl Grossberg monumentale Industrieanlagen vor. (Der gelbe Kessel, 1933). Andere Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ schematisieren Mensch und Gebäude: Heinrich Hoerle, Selbstbildnis vor Häusern (Arbeiter, 1932), Denkmal der unbekannten Prothesen (1930), Franz Wilhelm Seiwert (Der deutsche Bauernkrieg, 1932). Dass die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft scheitert wird besonders deutlich in den zum Piktogramm reduzierten Figuren in – wie Gerhard Arntz selbst beschreibt – „ihrer städtischen und technischen Umgebung“[11] (Häuser der Zeit II, Fabrik, 1927).

Ausgerichtet an den technischen Möglichkeiten des Kamera-Auges konzentriert sich Industriefotografie seit den 1920er Jahren auf Licht- und Schattenwirkungen und Strukturen, stellt Fabrikanlagen und Maschinen in den Mittelpunkt. Dazu zählen Arbeiten von Alfred Renger-Patsch (Kauper-Hochofenwerk, Herrenwyk, 1927/1979) und Peter Keetman (Felgen, Volkswagenwerk Wolfsburg, 1953). Industrie selbst ist Kunst in den Fotografien von Bernd und Hilla Becher, aufgenommen zu bestimmten Tageszeiten und stets gleichen Lichtverhältnissen (Wuppertaler Schwebebahn).

Industrie 4.0

Ist der Kampf für ein gutes soziales Leben in Lenins Koffer? Der Globus, zeigt Maarten Vanden Eyndes Plastic Planet 2, ist von Plastikmüll überzogen. Eine Auseinandersetzung mit der Kritik am Kapitalismus findet sich bei Thomas Lochner: 10. Marx / Capital (Value, Therefore, Does Not Stalk About With A Label (2007). Konsequent thematisiert Tobias Zielony von Anfang an in seiner dokumentarisch-künstlerischen Fotografie das Phänomen einer Jugendkultur in so genannten „No-go-areas“ und sozialen Brennpunkten in Kiew.

Ausstellungen:
Anmerkungen

[1]    Erich Kästner, Gesang zwischen den Stühlen, 1932, hier zit. nach: www.lyrikline.org/de/gedichte/der-synthetische-mensch

[2]     Zirkus. Paris – Picasso – Wols, in: www.theomag.de/120/bws23.htm, 2019 ; Und mischte zwischen Tag und Traum - Circus Wols. Eine Hommage, in: www.theomag.de/78/bws5.htm, 2012.

[3]    Richardson, Ausst.-Kat. Riehen, 2019, S.289, nach www.theomag.de/120/bws23.htm, 2019.

[4]    1939/1940. Auch Max Ernst, Hans Bellmer, Willy Maiwald, Lion Feuchtwanger, Anton Räderscheidt, Max Raphael, Alfred Kantorowicz und waren dort interniert. Ausst.-Kat. Wols: die Retrospektive, Kunsthalle Bremen und The Menil Collection, Houston, 2013 / 2014; ausführlich zum Motiv des Zirkus bei Wols s.: Barbara Wucherer, Ein Phänomen des Stolperns, Wols´ Bildnisse 1932-1951, Berlin 1999.

[5]    Eine Abbildung der Arbeit Le cirque (pris de vue et projection simultanée), 1939 findet sich auch unter: Wols (natalieseroussi.com)

[6]    Berthold Brecht, Alfabet, in: Robert Gernhardt, Klaus Cäsar Zehrer, Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten, Frankfurt am Main, 2004, S.387

[7]    Friedrich Engels, Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland, in: The New Moral World, Nr. 25 vom 13.12.1844, zit. nach Beate Eickhoff, Industrielle Revolution im Spiegel der Kunst des 19. Jahrhunderts, in: Antje Birthälmer, Roland Mönig (Hg.), Vision und Schrecken der Moderne. Industrie und künstlerischer Aufbruch, 2020, S.35

[8]    Zit. Nach Roland Mönig, Vorwort zu: Vision und Schrecken der Moderne, Industrie und künstlerischer Aufbruch, 2020, S.10

[9]    Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London, 1948

[10]   S. Roland Mönig, a.a.O., s.10

[11]   Antje Birthälmer, Das Proletariat als Sujet der Kunst, in: Vision und Schrecken der Moderne, Industrie und künstlerischer Aufbruch, 2020, S.130

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/130/bws31.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2021