01. April 2021

Liebe Leserinnen und Leser,

manchmal klicke ich abends durch die kunsthistorische Datenbank der empfehlenswerten Webgallery of Art (www.wga.hu) auf der Suche nach einem Bild, das auch in den gegenwärtigen Zeiten als zeitangemessen und herausfordernd verstanden werden könnte. Und ich wünschte mir, man könnte ein Bild wie das nebenstehende Detail aus dem Gemälde „Disput zwischen den Doktoren“ von Pietro della Vecchia (1602-1678) dabei nennen. Aber so sehr das Bild zeitdiagnostisch ist (weiße alte Männer erörtern im kleinen Kreis die strittigen Fragen der Gesellschaft), so wenig ist es vorwärtsführend. Man könnte aber auch sagen: wenn es wenigstens solche Dispute gäbe. Aber die intellektuelle Streitkultur ist zurzeit nicht besonders kultiviert, es herrscht ein simplizistisches ja oder nein, für oder gegen, kaum aber ein Austausch der Argumente vor – allzu oft aber auch nur ein simples Schweigen.

Noch peinlicher wird es dort, wo moralisierend „Haltungen“ im Stil des Freiherrn von Knigge anempfohlen und Regeln darüber aufgestellt werden. Denn wer regelt, der herrscht. Das hat Tradition bei den Leiter*innen des Kulturbüros der EKD: erst hieß es „Haltung zeigen. Ein Knigge nicht nur für Christen“ (2010), dann „Haltung braucht Übung“ (2021) und ganz konsequent demnächst „Halt in haltlosen Zeiten. Eine Orientierungshilfe“ (angekündigt für den 31. Dezember 2022). Da plädiert man doch spontan für Projekte der Ent-Festung, der kultivierten Halt- und Bodenlosigkeit. Was waren das noch für schöne Zeiten, als das Unanständige das Bessere war, weil es die Regeln einer geronnenen bürgerlichen Gesellschaft durchbrach. Heute sind wir stolz darauf, #anstanddigital zu sein und freuen uns, wenn uns die Herrschenden in Gestalt der Kulturstaatsministerin darin fördern. Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich wirklich alt, es ist, als wenn die Generation der Popper plötzlich Benimmbücher für Andersdenkende schreiben würde. Und schon die Popper-Generation begann mit einem Knigge-Buch, eben dem „Popper-Knigge“. Und heute ist es eben ein digitaler Knigge. Also, liebe Leser*innen, bleiben Sie digital anständig oder anständig digital, lesen Sie keine verbotenen Schriften, nichts von Dissidenten, Anarchisten oder Sadisten (vergessen Sie den Exkurs II der 'Dialektik der Aufklärung'), orientieren Sie sich am Unterhaltungsprogramm des ZDF oder des MDR. M.a.W nehmen Sie Haltung an – oder eben nicht.

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Diese Ausgabe des Magazins trägt den Titel „Ent-Festung“. Das ist ein Titel, der einem Werkzyklus der Künstlerin Madeleine Dietz entnommen wurde und sowohl deskriptiv eine Veränderung der globalisierten Welt der letzten 30 Jahre beschreibt, als auch sich mit neuesten Entwicklungen der Öffnung und Schließung von Grenzen auseinandersetzt.

Unter VIEW finden Sie einen Montage-Essay von Andreas Mertin über Kunst, Theologie und Gesellschaft und eine Ausstellungsbesprechung von Barbara Wucherer-Staar. Wolfgang Vögele setzt sich mit dem aus dem Nachlass erschienen Buch „Medien-Intellektuelle" von Axel Schildt auseinander. Das brachte uns auf die Idee, einen Vortrag, den Axel Schildt 1998 in der Evangelischen Akademie Loccum gehalten hatte und der in den Loccumer Protokollen dokumentiert worden war, nun noch einmal in diesem Magazin vorzustellen, weil er durchaus in den Kontext von Ent-Festung gehört. Wir danken Frau Gabriele Kandzora für die Erlaubnis, den Text noch einmal veröffentlichen zu dürfen. Und schließlich wirft Wolfgang Vögele ein Blick auf eine Zoom-Tagung der Uni Bern zum Dichter-Pfarrer Kurt Marti.

Zwei CAUSERIEN finden sich im aktuellen Heft: zum einen wirft Wolfgang Vögele einen kritischen Blick auf den Festschrift-Band „Erinnerungsorte des badischen Protestantismus“ und Andreas Mertin protestiert gegen die Charakterisierung der Theologie als Schwarzbrot und verteidigt die Heidschi-Bumbeidschi-Theologie.

Unter IMPULSE setzt Andreas Mertin die Tradition der Analyse der aktuellen Ikonographie des Religiösen, dieses Mal am Beispiel eines Plakats, fort. Und er fragt in einem zweiten Beitrag: wovon träumen eigentlich Sci-Fi-Filmer?

Unter RE-VIEW stellen wir kurz Bücher vor, an denen Autor*innen dieses Magazins beteiligt waren.

Unter POST gibt es ein faszinierendes Plädoyer für den analogen Unterricht. Aber schauen (und hören) Sie selbst …

Heft 131 des Magazins für Theologie und Ästhetik, das Anfang Juni 2021 erscheint, steht unter der Überschrift „Photographie“. Vor vierzig Jahren wurde noch engagiert darüber gestritten, ob es sich bei der Photographie nicht um eine „illegitime Kunst“ (Bourdieu) handelt. Heute stellen sich andere Fragen. Wem zu diesem Thema etwas einfällt, den laden wir zur Mitarbeit ein.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann, Horst Schwebel, Wolfgang Vögele und Karin Wendt



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