Zoom-Blick auf den Dichter-Pfarrer

Über Kurt Marti und eine Tagung der Theologischen Fakultät Bern
zu seinem 100. Geburtstag

Wolfgang Vögele

In diesem Jahr hätte der Schriftsteller Kurt Marti (1921-2017) seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Die theologische Fakultät der Universität Bern widmete ihrem Ehrendoktor darum einen Studientag, der aufgrund der aktuellen Umstände online stattfand. Format und Umsetzung fand ich sehr überzeugend. Aus Zeitgründen wäre ich sicherlich nicht für einen Tag nach Bern gereist. So hatte ich die bequeme Möglichkeit, am Schreibtisch meiner Büromansarde den Vorträgen zuzuhören und an den Arbeitsgruppen teilzunehmen. Über Kleinigkeiten kann man diskutieren, zum Beispiel über die Frage, ob Diskussionsbeiträge stets über den Chat angemeldet werden müssen und ob der Diskussionsleiter diese Fragen dann stets umständlich wiederholen muss. Aber das sind Kinderkrankheiten, die sich à la longue beseitigen lassen sollten. Und es ist zu hoffen, dass irgendwann, wenn es die Epidemie zulässt, eine Mischform gefunden wird, welche die Anliegen von Teilnehmern und Bildschirmzuschauern verbindet. Wer will, kann dann zum Tagungsort reisen und die Vorteile von Kaffeepausen und face to face Gesprächen genießen, während die anderen, welche aus geographischen Gründen eine längere Anreise nicht auf sich nehmen wollen, der Tagung digital beiwohnen können.

Die Schweiz hat einen Dichter-Typus hervorgebracht, bei dem dem anarchistischen Moment von Poesie, Drama oder Prosa stets ein bürgerlich-ordentliches, ziviles Moment beigeordnet ist. Anarchie und Ordnung bilden die zwei Seiten einer Medaille. Das gilt für den Architekten Max Frisch, für den Beinahe-Philosophen und Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt, auch er 2021 ein hundertjähriger Jubilar und für den „Dichter-Pfarrer“ Kurt Marti. Gleich zu Beginn der Tagung wurde der Ausdruck als disqualifizierend beiseitegelegt, vielleicht deshalb, weil alle Vorträge zeigten, dass in ihm eine komplexe Wahrheit verschwiegen werden sollte. Dichter-Pfarrer - der Ausdruck lässt an den melancholischen Eduard Mörike denken, der von einer württembergischen Vikarsstelle zur anderen immer kränker werden sollte. Oder – genius loci helvetici – an die Mundartromane des tiefsinnigen Jeremias Gotthelf, in denen Bergbauern, Bürger und Dorfpfarrer existentielle Fragen verhandeln und tragische Schicksale erleiden. Auf Distanz von Theologie und Christentum versuchte auch Gottfried Keller, den schmalen gangbaren Grat zwischen Bürgertum und Kunst zu bestimmen.

Dieses Wechselspiel zwischen Beruf und Berufung lässt sich in gleicher und doch eigener Weise bei Kurt Marti finden. Und die im Begriff des Dichter-Pfarrers angesprochene Paradoxie legt zwei Kraftfelder offen, die nicht völlig konfliktfrei miteinander verschmelzen. Pfarramt steht für bürgerliche Ordnung, Systematik und spröde reformierte Theologie, während Marti in seinen Gedichten und Notizen Anarchie, Phantasie und einen Hang zu überschießender Kreativität ausleben konnte, ohne die Konflikte auszutragen, die Kellers „Grünen Heinrich“ in der ersten Fassung des Romans in den Tod trieben. Zu verbergen ist diese Paradoxie, weil der Verdacht nicht ausgeräumt werden kann, dass der ordentliche Pfarrer sich gelegentliche Ausflüge ins Poetische gestattet und der Dichter sich im theologischen Brotberuf eine sichere Existenz geschaffen hat, die seine poetischen Ausflüge möglicherweise doch als idyllisches Hobby kennzeichnen: ein privater Schrebergarten für Intellektuelle. Die Paradoxie wiederholt sich auf der Seite der Rezeption: Wenn schon ein Dichter, dann wenigstens ein solcher, der in Pfarrersberuf, Kirchenleben und Dogmatik eingeordnet werden kann. Wenn schon ein Pfarrer, dann wenigstens ein solcher, der Gedichte schreibt, sie aber nicht in seinen Predigten verwendet. Deswegen wurde der Begriff des Dichter-Pfarrers bei der Tagung mit einem Anathema belegt.

Widersprüche solcher Art zogen sich durch sämtliche Vorträge des Studientages. Matthias Zeindler, Bern, versuchte, die jesusbezogenen Gedichte Martis in eine dogmatische Christologie einzuordnen. Nicht daß diese Anordnung Martis poetischem Denken fremd wäre, er selbst hat sie durch ein Gedicht (sic!) befördert, welches das apostolische Glaubensbekenntnis modernisieren sollte. Davon wird gleich noch zu reden sein. Zeindlers Vortrag versuchte, die fragmentarischen christologischen Spuren in den Gedichten in das Prokrustesbett einer ausgearbeiteten Dogmatik einzuordnen, inspiriert von der Tatsache, dass der Dichter großen Wert darauflegte, einmal ein Semester in Basel bei Karl Barth studiert zu haben. Aber Gedichte sind nicht die Steine, aus denen Dogmatiken gebaut werden. Und Marti war kein Dogmatiker vom Range Barths. Es hätte weitergeholfen, den Gedanken einer fragmentarischen Christologie bei Marti zu verfolgen.

Auch der Homiletiker David Plüss, Bern verwickelte sich in Widersprüche, indem er den Poeten Marti dem Prediger Marti gegenüberstellte. Der Prediger Marti ließ offensichtlich den Lyriker Marti außen vor. Plüss konstatierte: „Seine Predigten atmen den Duft homiletischer Vorlesungen.“ Für Marti sei Predigt „auftragsgebundene Bibeltext-Predigt“. Plüss versuchte dann zu zeigen, dass in den lakonischen, auf das Äußerste reduzierten Gedichten oft sehr viel mehr Arbeit steckt, als in den Predigten, die Marti wie alle Pfarrer nach kurzer wochentäglicher Vorbereitung am Sonntag hielt. Aber der Gedanke, dass in einer Predigt mehr Dichtung stecken sollte, war, kaum richtig ausgesprochen, nicht mehr aufzuhalten. Zumal Marti ja nicht zögerte, das würde ich ergänzen, in seine Gedichte predigende – um den Ausdruck ‚moralisierende‘ zu vermeiden – Elemente aufzunehmen. Gerade die Verknüpfung von lakonischem poetischem Einfall mit moralischem Furor macht die Lyrik Martis für protestantische – und besonders für reformierte – Leser so anziehend: Niemand wusste so energisch wie Marti von der Auferstehung zu reden, die zum Aufstand der Unterdrückten gegen die Herren des Todes befähige. Plüss im Übrigen solidarisierte sich am Ende mit Martis Trennung zwischen Gedicht und Predigt. Er empfahl, in Predigten keine Gedichte zu zitieren. Das allerdings ist ja im Moment nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass Predigten als Gedichte geschrieben werden, aber eben nicht mit der Lakonie Kurt Martis, sondern mit der Geschwätzigkeit von Verschenk-Gedichten à la Kristiane Allert-Wybranietz.

Neben einem Interview mit einem Zeitzeugen und Lesungen von Texten Martis folgte am Nachmittag ein dritter Vortrag von Magdalene Frettlöh, ebenfalls Bern. In ihrer Interpretation erschien Marti zugleich als dialektischer Theologe im Gefolge des frühen Barth und als stammelnder literarischer Dadaist. Frettlöh ließ den Pfarrer Marti beiseite und versuchte, ihn als Theologen zu retten, indem sie seine Gedichte als verlegenes Stottern des coram Deo beschämt dastehenden Menschen darstellte. Ich habe Zweifel, ob Marti ein Dadaist war. Viel eher als durch Auflösung von Sprache und Flucht in den Unsinn zeichnen sich seine Gedichte durch Lakonie und Kürze aus. Dem stammelnden Menschen steht der trinitarische, in Martis Formulierung beziehungsreiche Gott gegenüber, dessen Menschwerdung Frettlöh verwegen für feministische Volten nutzte. Bei ihr kam Marti nicht als Dichter-Pfarrer, sondern als spekulativer Theologen-Dichter zum Vorschein, dessen Texte allerdings so sehr mit Frettlöhs wolkig-verstiegenen Interpretationen überladen wurden, dass darüber der ursprünglich spielerische, vor allem auch sprach-spielerische Impuls in seinen Gedichten in den Hintergrund trat. So richtig eignet sich seine Poesie nicht als Magd einer bunt angemalten Dogmatik.

Ich gelangte, nach einigen computertechnischen Mühen, zuletzt in eine Arbeitsgruppe, in der Martis bekanntes „nach-apostolisches“ Glaubensbekenntnis mit dem ursprünglichen Apostolikum verglichen wurde. Dass sich die reformierte Kirche Berns als „bekenntnisfrei“ bezeichnet, muss man als Angehöriger einer Landeskirche im ‚großen Kanton‘ wohl als theologische Kuriosität hinnehmen[1]. Genauso könnte man auch behaupten, dass gerade die Löcher im Emmentaler diesen zum spezifisch Schweizer Käse machen. Aber in dieser Arbeitsgruppe war nun zuletzt wieder etwas über den Dichter-Pfarrer zu lernen. Denn die Berner Kirche hat offensichtlich diesen nach-apostolischen, von Marti ausdrücklich als ‚Gedicht‘ qualifizierten Text übernommen und als Bekenntnistext in der Ordinationsagende anerkannt. Dabei offenbart der genaue Vergleich zwischen Martis Gedicht und dem altkirchlichen Credo, dass die Unterschiede zwischen Lyrik und Bekenntnis, zwischen Gedicht und Theologie gar nicht so unüberwindlich groß sind. Um es auf den Punkt zu bringen: Marti hat gestrichen, was ihm als eine voraufgeklärte Metaphysik erschien, die rationaler und reformierter Nüchternheit nicht mehr standhielt. Mir scheint es nicht ganz so einfach, um wie Marti lyrisch über den magnus consensus des Protestantismus hinauszugehen. Aber auch diese Arbeitsgruppe zeigte, dass der Grat zwischen Theologie und Lyrik schmal ist und dass zu beiden Seiten Abgründe drohen.

Marti war eben nicht nur Pfarrer, nicht nur Prediger, er war schon gar keine pink gefärbte, metrosexuelle christliche Popikone. Er war ein – Dichter-Pfarrer. Ein wenig mehr Nicht-Theologie, zum Beispiel helvetische Germanistik hätte der Tagung darum gutgetan. Kurzum: Auch nach dem ersten Schritt dieser aufschlussreichen, gut organisierten Tagung sind noch nicht alle Fragen im Quellgebiet zwischen Lyrik und Dogmatik geklärt. Und das ist – ich meine es ganz ernst – doch das Schönste, was man über diese Tagung sagen kann: Martis Geheimnis blieb bewahrt.

Anmerkungen


[1]    Zur Deutung des Bekenntnisbegriffs vgl. Wolfgang Vögele, Über Bekenntnisse - eine theologische Interpretationshilfe, in: Wolfgang Vögele (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Badischen Landeskirche, Bd.2, Kommentar, Karlsruhe 2015, 11-132.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/130/wv067.htm
© Wolfgang Vögele, 2021