Dem Walfisch eine Tonne vorwerfen

4 – Über die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels

Andreas Mertin

Mit Gewalt ist wider die Sinnlichkeit in den Neigungen nichts
ausgerichtet; man muss sie überlisten, und … dem Walfisch
eine Tonne zum Spiel hingeben, um das Schiff zu retten.

Nach der Fertigstellung meines Textes erschien von der Evangelischen Kirche in Deutschland und offenbar unabhängig von den Berliner Anstandsübungen in Gebotsform eine Denkschrift der EKD, die den Titel trägt „Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels.“[1] Wenn man die Titelei ernst nimmt, geht es hier um etwas ganz anderes als um Haltungsfragen. Es hätte auch heißen können „Die Zehn Gebote in der Gegenwart“ oder „Die Zehn Gebote im 21. Jahrhundert.“ Aber man hat das Digitale als Charakteristikum dieser Zeit angesehen, obwohl die Hauptüberschrift „Freiheit digital“ dann doch eher nach vertrauter EKD-Propaganda als nach Auslegung der Zehn Gebote klingt. Deshalb an dieser Stelle ein Addendum.

Addendum

Ich hatte ja schon im zweiten Teil dieses Textes auf die „Modernisierung“ der zehn Gebote im Evangelischen Erwachsenenkatechismus der VELKD hingewiesen. Die damalige Neu-Lesung der Gebote stand vor allem unter dem Eindruck der vorgängigen 68er-Bewegung und der damals entstehenden ökologischen Aufbruchsbewegungen. Anderes, was sich auch in dieser Zeit entwickelte, lag nicht im Blickfeld. Ähnliches gilt nun auch für die Überlegungen zur Freiheit digital. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier vor allem die scheinbar durch die Pandemie übereilt erzwungene Digitalisierung kirchlicher Handlungsfelder vor allem apologetisch begleitet werden soll. Schon der geradezu zwanghafte Charakter, für jedes der Gebote der hebräischen Bibel einen Anwendungsfall in der digitalen Welt zu finden, lässt einen jedoch an der Sinnhaftigkeit der Aktion zweifeln: hätte es nicht gereicht, von christlicher Ethik in Zeiten des digitalen Wandels zu sprechen? So ahnt man aber schon vor der detaillierten Lektüre, dass das zweite Gebot für die Gegenwart wieder einmal konsequent nicht als Kultbildverbot reflektiert, sondern gegen die im Internet sich präsentierende Bilderflut in Anschlag gebracht wird. „Das Bilderverbot aus dem religiösen Kontext etwa erschließt Kriterien für einen menschengerechten Umgang mit bildfokussierten digitalen Technologien“.[2] Ist das so? Oder ist es nicht eher umgekehrt so, dass die Bilderflut die Bilder im Vergleich zu früheren Zeiten ziemlich stark depotenziert, weil es die wirkungsmächtigen ikonischen Bilder, die dauerhaft im Gedächtnis bleiben oder gar Erlösung oder auch Verdammnis versprechen, gar nicht mehr gibt?[3] Die Frage wäre zu stellen, wo es in den digitalen Welten denn Kultbilder im ursprünglichen Sinn gibt.[4] Natürlich kann man das Bilderverbot zu einer wortwörtlich verstandenen Phrase herabwürdigen, es also als Verbot von Bildern missverstehen, wie es bei der berühmten Ingebrauchnahme durch Bertolt Brecht geschieht, aber das ist wenig zielführend und verunklart das biblische Gebot. Und ein Rekurs auf das Menschenbild, wie Brecht es nahelegt, geschieht im biblischen Bilderverbot nun gerade nicht.[5]

Zitate von Bertolt Brecht oder von Max Frisch[6] zum Bilderverbot sind eigentlich Argumente aus meinen Jugendzeiten in den 70ern des 20. Jahrhunderts – um nicht zu sagen aus der Klamottenkiste. Und merkwürdigerweise passen sie scheinbar immer, was auch gerade an Neuem sich entwickeln mag. Und so gerät die Argumentation, hier ginge es spezifisch um die „Zeiten des digitalen Wandels“ in eine merkwürdige Schieflage. Die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb wird so erzählt, als wäre sie wirklich passiert und wäre nicht eine Geschichte, die sich auf viel spätere Zeiten und vor allen Dinge konkrete Vorgänge in Israel bezieht.[7] Heute wäre die Erzählung allenfalls konsequent rezeptionsästhetisch aufzugreifen (und damit zu verflüssigen), indem man, wie es der Künstler Jeffry Shaw schon 1994 mit seiner responsiven Installation getan hat, darauf verweist, dass es die Betrachter*innen sind, die das Kult-Bild erst als solches entstehen lassen.[8]

Und derartiges dürfte sich, so ahnt man vorweg, für manche der anderen Gebote wiederholen. Und man wird in dieser Erwartung nicht enttäuscht. Auch das Gebot „Du sollt meinen Namen nicht missbrauchen“ findet kein adäquates Pendent in den Zeiten digitalen Wandels und wird trivialisiert.

Ich halte das, um es etwas zuzuspitzen, für einen funktionalen Missbrauch der Zehn Gebote. Nun bin ich in solchen Fragen eher konservativ, mag es nicht, wenn erst eine Problemlage der Gegenwart beschrieben wird, um dann im Nachhinein biblische Texte selbstbewusst als dafür passend zu erklären. Die aktuelle Denkschrift macht ihren willkürlichen Applikations-Charakter nicht ausreichend deutlich, sondern tut so, als ergäbe sich das eine aus dem anderen. So ist es aber nicht. Vom biblischen Kult-Bilderverbot kommt man nicht so leicht zur visuellen Kultur des Internets, man muss sich die Dinge schon zurechtbiegen. Aber immerhin tun diese aktualisierten Zehn Gebote nicht so, als ginge es vor allem um Moral und Anstand. Und sie haben den Vorteil, dass sie den gesellschaftlichen Rahmen umfassend mit in den Blick nehmen. Und dennoch: Über weite Strecken liest sich die Denkschrift wie eine Apologie des kirchlichen Handelns in digitalen Zeiten. Vielleicht sollte man eher sagen Eulogie, denn Kritiker der digitalen Bemühungen der Kirche werden kaum gehört.

Wenn man die Denkschrift von ihrem bemühten Rekurs auf die Zehn Gebote loslöst und sie als das bezeichnet, was sie eigentlich sein wollen, Prolegomena zu einer christlichen Ethik in Zeiten der Digitalisierung der Lebenswelten, dann wäre der Sache selbst viel geholfen.

Anmerkungen


[1]    Evangelische Kirche in Deutschland (2021): Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

[2]    So im Vorwort der Denkschrift.

[3]    Vgl. dazu Verf. Das Bild in der Krise. Vom Bilderstreit über die Bilderflut zum Bildverlust, baugerüst - Evangelische Zeitschrift für Jugendarbeit 2/2021.

[4]    Hier gilt mit Hegel: „Man kann wohl hoffen, dass die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen - es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Ästhetik. Band I. S. 142.

[5]    Vgl. dazu Dohmen, Christoph (1987): Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament. 2., durchges. u. um e. Nachw. erw. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag (Bonner biblische Beiträge, 62).

[6]    Frisch, Max (2002): Tagebuch. 1966 - 1971. Frankfurt am Main: "Du bist nicht", sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: "wofür ich Dich gehalten habe." Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.

[7]    „Die Erzählung vom ‚Goldenen Kalb‘ Aarons in Ex 32 kann kaum auf ein historisches Ereignis zurückgehen, das eine Menschengruppe, die später in Israel aufgegangen ist, in der Sinaiwüste erlebt hat. Hätte es ein solches Ereignis nämlich gegeben, hätte Jerobeam es nicht wagen können, erneut Stierbilder aufzustellen oder auch nur stehen zu lassen. Die Übereinstimmungen zwischen Ex 32 und 1Kön 12 legen vielmehr die Vermutung nahe, dass sich die Erzählung von Ex 32 von Anfang an auf die Stierbilder Jerobeams bezogen hat.“ Wibilex, Art. Goldenes Kalb:  https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19820/

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/am725d.htm
© Andreas Mertin, 2021