Auf den Spuren von Walter Sanders

Ein großer Fotograf

Andreas Mertin

Kleine pragmatische Einschränkung: Die Fotos des hier vorgestellten Fotografen unterliegen noch dem Urheberrecht. Daher verlinke ich auf die Zeitschrift LIFE, die die Bilder freundlicherweise bei Google Arts and Culture eingestellt hat, wo die Fotos für den privaten Gebrauch angeschaut werden können.

Eigentlich war ich Ende Januar 2021 für einen Aufsatz auf der Suche nach interessanten und guten Bildern von der Universitätsstadt Marburg, als ich bei Google Arts and Culture auf eine Serie faszinierender Fotos eines mir bis dahin unbekannten Fotografen stieß, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für das Magazin LIFE nach Deutschland geschickt wurde, das Land bereiste und dabei im Mai 1946 auch die Universitätsstadt Marburg besuchte. Und die dabei entstandenen Bilder haben mich wirklich beeindruckt. Ich bin selbst zwar erst 35 Jahre später nach Marburg gekommen, aber dieser Fotograf hat die Stadt, aber auch die Nachkriegs­atmosphäre unheimlich gut auf den Punkt gebracht und zugleich das Bleibende der Stadt eingefangen.

Er hat keine der üblichen Fotos vom Marburger Schloss oder der Elisabethkirche geschossen, die schon beim ersten Anblick als Klischee erkennbar sind. Allenfalls im Hintergrund und quasi zufällig sind bei ihm vereinzelt touristische Punkte zu erkennen. Nein, der Fotograf zeigt ein anderes Marburg. Er zeigt nicht zuletzt eine Generation von Studierenden, die durch den Krieg und die Kriegsteilnahme fast um ihr Studium gebracht worden wären, weshalb sie fast alle 10 Jahre zu alt erscheinen. Studieren ist in dieser Zeit sicher weiterhin ein Privileg, nicht selbstverständlich, aber offenkundig gibt es bereits einen funktionierenden Universitätsbetrieb.

Der Fotograf ist zu dieser Zeit 49 Jahre alt. Es gibt Fotos von ihm (Bsp. 1, Bsp. 2, Bsp. 3), bei denen er etwa auf der Höhe des heutigen Parkhauses am Pilgrimstein, vielleicht aber noch weiter oben auf der Höhe des Fachbereichs Physik am Renthof vor dem Hintergrund der Savignystraße und des heutigen Kunstgeschichtlichen Instituts / Kunstmuseums und des Spiegelslustturms (genauer: Kaiser-Wilhelm-Turm auf Spiegelslust) am Horizont fotografiert wurde.

Das Foto ist für mich auch deshalb interessant, weil zur damaligen Zeit das Stadttheater mit der Piscator-Bühne, das in meiner Aufenthaltszeit in Marburg zwischen dem Kunstmuseum und der Savignystraße stand, noch nicht vorhanden war (es wurde erst 1969 gebaut), während es heute schon nicht mehr existiert, weil es 2013-2016 durch einen Neubau ersetzt wurde. Insofern dokumentiert auch dieses Bild ein Stück Marburger Zeitgeschichte.

Wenn ich es recht sehe, nutzt der Fotograf bei seiner Arbeit die legendäre Rolleiflex-Automat, notwendigerweise eine Variante aus der Zeit vor 1946, also wahrscheinlich das Modell 2 oder 3. Aber diese Kamera ist nicht seine erste, seine Karriere beginnt gut zwanzig Jahre vorher.

Wer ist Walter Sanders?

Der Fotograf, von dem hier die Rede ist, heißt Walter Sanders. Genauer: Er wird 1897 unter dem Namen Walter Süßmann geboren und lebte die ersten Jahrzehnte seines Lebens in Berlin. Er studierte Geschichte und Volkswirtschaft. 1925 bekommt er eine Tochter, die Uschi genannt wird. Um ihre Entwicklung festzuhalten, erwirbt Süßmann eine Kamera und wird kurz darauf als Babyfotograf bekannt. Nach 1927 erscheinen seine Fotos in einschlägigen Magazinen. Und schon bald bekommt er weitere Aufträge über dieses aus heutiger Sicht eher enge Themenfeld hinaus.

1929 erscheint ein Foto von ihm in dem Buch „Das Deutsche Lichtbild Jahresschau 1930“. Im erläuternden Vorwort schreibt die Redaktion unter der Überschrift „Was will ‚Das deutsche Lichtbild‘?“: „Es will alljährlich das Beste, was deutsche Lichtbildner geschaffen haben, in erstklassigen Reproduktionen der Allgemeinheit zugänglich machen.“

Und selbstbewusst fügt man hinzu: „Es wurde im In- und Ausland begeistert aufgenommen und als das Standardwerk der deutschen Photographie bezeichnet“.[1] Für die Ausgabe 1930 hat Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym Peter Panter das Vorwort beigesteuert (das wir in dieser Ausgabe dokumentieren, weil es so erhellend ist) und schreibt darin:

Dann das beste Frauenbildnis in diesem Band: das Blatt 63 von Walter Süßmann, ein Bild, das ohne Wissen des Objekts vom Objektiv erwischt worden ist – sieh ihr in die Augen, eine Welt leuchtet daraus, ihre, unsre, deine!

Es gibt freilich nur wenige Frauenbilder in dem Buch, es ist von den versammelten Bildern aber sicher das persönlichste, eines, das Zeit und Moment erfasst. Es gibt andere außerordentliche Frauenbilder in der Sammlung, etwa das Bild des Bauhauslehrers Walter Peterhans, das geradezu zeitlos ist. Aber was das Bild von Süßmann auszeichnet, ist die unmittelbare Kommunikation mit den Betrachter*innen. Die Angaben von Walter Süßmann zum Bild lauten:

„Porträt", Steinheil-Unofokal 1: 4,5, F = 15 cm, Herzog-Ortho-Isodux-Platte 9x12 cm, belichtet 1/3 Sek.; Plattenausschnitt 6x9 cm, vergrößert auf Fogas-Rapid-weiß 18x24 cm.

Für den Foto-Fachmann bzw. Enthusiasten eröffnet sich so ein Kosmos der technischen Voraussetzungen und Rahmungen des Bildes, die notwendig zu dessen Verstehen mit hinzugehören.[2]

Aus dem folgenden Jahr 1930 stammt auch ein schön formalistisches Foto mit dem Titel „Anstreicher“, das eben solche bei der Arbeit zeigt, zugleich aber fast wie ein Werk moderner Kunst wirkt. Die Schattenbildung ist gut eingefangen, für den Moment ist man verwirrt, wie viele Leitern und wie viele Anstreicher eigentlich auf dem Bild abgebildet sind. Im gleichen Jahr wird Süßmann zum festen Mitarbeiter der „Agfa-Photoblätter“, später macht er auch für einige Bildagenturen Reisereportagen aus diversen europäischen Ländern. Mitte der 30er-Jahre kann Süßmann aber nur noch unter dem Tarnnamen „Lüders“ publizieren, als Jude waren seine Arbeitsmöglichkeiten stark eingeschränkt. 1937 emigriert er in die Vereinigten Staaten und kann dort Fuß fassen. 1939 wird er zunächst freier, dann ab 1944 festangestellter Fotograf für die Zeitschrift LIFE, nun unter dem Namen Walter Sanders.

LIFE

ist ein Magazin für Fotojournalismus, das Henry Luce 1936 in New York gründete, nachdem er die Namensrechte an dem vorigen LIFE Magazine erworben hatte. Sein Markenzeichen waren damals neuartige großformatige Fotoreportagen über mehrere Seiten. (wikipedia)

Das Magazin ist für Jahrzehnte legendär für seine exzellenten Fotoberichte berühmter Fotografen. Es selbst schreibt zur eigenen Programmatik

„Das Leben sehen, die Welt sehen, Augenzeuge großer Ereignisse sein, die Gesichter der Armen und das Gehabe der Stolzen erblicken – Maschinen, Armeen, Menschenmassen, Schatten im Dschungel und auf der Mondoberfläche; die Werke des Menschen sehen, seine Gemälde, Bauwerke; Dinge wahrnehmen, die Tausende von Kilometern entfernt sind, hinter Mauern, in Innenräumen, an die heranzukommen gefährlich ist; Frauen, die Männer lieben, und Scharen von Kindern; sehen und am Sehen Freude haben; sehen und staunen; sehen und belehrt werden.“ (zit. nach wikipedia)

In diesen Kosmos tritt Sanders als Fotograf ein. Und im vom Magazin geschilderten Sinn ist er auch ein Fotograf des Zeitgeistes. Er hält das im Bild fest, was die Menschen, genauer die Leser*innen des Magazins LIFE interessieren könnte. Das kann man so oder so machen, aber Walter Sanders macht es gut. Er zeigt Einblicke, die zum Nachdenken anregen, die mehr enthalten als das, was der Fall ist. Seine Fotos sind von Ambiguitäten getragen, sind kleine offene Narrationen, die in die eine wie die andere Richtung ausgehen bzw. gelesen werden können. Ein gutes Beispiel ist seine Fotoserie über die junge, gerade entdeckte Schauspielerin Hildegard Knef, die er bei Filmaufnahmen im Nachkriegs-Berlin trifft und über die er 1947 in LIFE berichtet. Die FAZ hat daraus 2019 unter der Überschrift „Die Models sind unter uns“ eine lehrreiche Story gemacht. Und gerade der Foto-Essay über Hildegard Knef trägt diese Ambivalenzen zwischen überstandenem Krieg, Aufbruchswillen, erträumten Glanz und Reichtum und noch vom Krieg gekennzeichneter Umwelt. Sanders zeigt Hildegard Knef durchaus ambivalent, wie die F.A.Z. zurecht hervorhebt, „im Pelzmantel beim Besuch eines Berliner Schwarzmarkts in den Ruinen des Potsdamer Platzes“.

Das Magazin LIFE selber hat seinen berühmten Fotografen auch jeweils eine eigene Seite im Netz gewidmet, aber da ist der Überblick über das Schaffen von Walter Sanders doch etwas knapp geraten. Lieber sollte man sich auf die Sammlung seiner Bilder bei Google Arts and Culture konzentrieren, die man einsehen kann, wenn man dort seinen Namen eingibt und die immerhin über 80.000 Fotos(!) enthält. Man kann dort auch über die Timeline die Fotos auch nach Jahren sortieren, um der Logik in der Entwicklung der Fotos auf die Spur zu kommen.

Wanderer zwischen den Welten

Als Fotograf für LIVE ist man ein Wanderer zwischen den Welten. Man ist wahrscheinlich sehr viel privilegierter als ein Lokalfotograf, der von Termin zu Termin hetzt, um für den nächsten Tag die treffenden Bilder zu schießen. Die Fotografen des Magazins LIVE hatten dagegen Zeit für ihre Erkundungen und ihr Aktionsradius umfasst Länder, ja Kontinente. Und so sind sie notwendig Kosmopoliten, die im Verlauf eines Jahres viele Orte nacheinander aufsuchen. Wenn wir versuchen, den Reisekalender von Walter Sanders allein für das Jahr 1946 anhand seiner bei LIVE dokumentierten Fotos zu rekonstruieren, dann können wir Folgendes festhalten. Er kommt Anfang 1946 nach Europa. Im März reist er nach Genf, um einer ökumenischen Versammlung beizuwohnen, an der u.a. Martin Niemöller für die Evangelische Kirche in Deutschland teilgenommen hat. Das ist bei aller Ökumenizität der Kirchen ein außerordentliches Ereignis, denn der Ökumenische Rat der Kirchen wird erst 1948 in Amsterdam gegründet. Sanders fertigt Gruppenporträts und Einzelporträts der Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen.

In den gleichen Monat datieren Fotos, die laut Beschriftung den Eintritt von ehemaligen Prostituierten und Kriminellen in ein französisches Dominikanerinnen-Kloster zeigen.

Mitte April ist Sanders wieder zurück in Berlin. Er fotografiert dort an verschiedenen Örtlichkeiten die Pessach-Feierlichkeiten. Es ist das „erste Freiheits- und Frühlingsfest der Überreste Israels in Europa“ wie es im Pessach-Buch 5706-1946 heißt und in dem Samuel Gringauz, der Präsident des Zentralkomitees der befreiten Juden, schreibt:

"Wir feiern es als Reste der zerstörten Volkssubstanz, der Bewegungsfreiheit beraubt, bar der inneren Volkskraft, zerdrückt von den Nachwirkungen der Naziknechtschaft, ohne geistig-moralische Orientierung … Von niemandem erlaubt – wir werden trotzdem gehen. Von niemandem geführt – wir werden trotzdem marschieren. Von niemandem gelehrt – wir werden trotzdem schöpfen“.[3]

Werner Hanak schreibt über das Pessach-Fest 1946:

„Pessach als Fest der Erinnerung an die biblische Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens war in besonderer Weise geeignet, am Ende der brutalen Verfolgung durch die Nationalsozialisten die Frage nach der jüdischen Zukunft inner- oder außerhalb Europas zu stellen und einer neuen Hoffnung Ausdruck zu verleihen.“[4]

Ebenfalls aus dem April 1946 stammen Fotos aus dem Restaurant Echternkeller in Braunschweig, die dann Anfang Mai im LIFE-Magazin (S. 28f.) Verwendung finden. Denn das Magazin kontrastiert dort das „üppige“ Leben in New York mit dem „spartanischen“ Leben in Braunschweig. Dazu zeigt es ein 2000 Kalorien Menu im New Yorker Edelrestaurant El Morocco auf der einen Seite und ein 600 Kalorien Menu in dem in Ruinen lokalisierten Echternkeller in Braunschweig auf der anderen Seite. Sanders merkt dazu an, dass der Kaffee dort eben nur Ersatzkaffee und die Suppe „sehr“ dünn sei.

Im Mai 1946 dokumentiert Sanders dann zunächst die großen Mai-Kundgebungen in Berlin und ordnet sie ein in einen Bilderzyklus, den er intern "No Road Back" nennt. Im November 1946 erscheint dann in LIFE ein Bericht von ihm unter dem Titel „The Road Back to Berlin“(!), in dem er den Spuren seiner alten Freunde in Berlin nachgeht und das nur mühsam beginnende neue Leben in Berlin dokumentiert: „A pretty Fraulein sits in the afternoon sun at the undamaged and famous Café Wien in the Kurfürstendamm“, ein von den Nationalsozialisten zutiefst verhasstes und vom Stürmer verhetztes jüdisches Café, das 1946 wiedereröffnen konnte. Ebenfalls im Mai ist Sanders dann in der Universitätsstadt Marburg, dazu gleich anschließend noch mehr.

Im Juli ist der Fotograf im hessischen Kronberg und hier in dem von der US-Armee beschlagnahmten Schloss Friedrichshof (auch wenn er es etwas missverständlich Kronberg Castle nennt), das eigentlich dem Haus Hessen gehört. Hier trifft er nicht nur auf amerikanische Offiziere, sondern fotografiert auch Angehörige des Hauses Hessen, die mit der englischen Königin Viktoria verwandt sind, also etwa Sophie von Griechenland, Schwester von Prinz Philip von England, die im April des Jahres gerade zum zweiten Mal geheiratet hatte. In dieser Zeit spielt sich in dem Schloss auch ein Krimi ab, den Sanders am Rande dokumentiert, denn der Juwelenschatz des Hauses Hessen, der in einem Seitenkeller vergraben war, wird gestohlen und u.a. in die Schweiz verkauft. Sanders zeigt einen Angestellten, der den Ort zeigt, wo vorher der Schatz vergraben war.

Im August ist Sanders dann in Heßlar südlich von Kassel, gut zwei Fahrstunden von Kronberg entfernt, einem „deutschen Bauerndorf“ wie der Fotograf notiert. Im Vergleich zu allen anderen Orten, die Sanders in diesem Jahr aufsucht, ist Heßlar (heute Teil der Stadt Felsberg) eine völlig andere Welt, ein eigener Kosmos. Attraktiv ist es für heimkehrende Wehrmachtssoldaten, weil es hier Essen und vielleicht auch Arbeit gibt. 1946 hat der Fleck deshalb auch so viele Bewohner wie sonst niemals in seiner Geschichte: 446 Bewohner vermeldet die Statistik. Es ist eine geradezu idyllische Welt, die Sanders auf seinen Fotos zeigt, sie könnten fast einem Propaganda-Buch der NS-Zeit entsprungen sein: lächelnde Mädchen mit blonden Locken, Schweine mitten auf der Straße, Sauen mit ihren Ferkeln, Gänse und Mägde, ein Schmied, ein Schuster, Kirchenbesucher beim sonntäglichen Gottesdienstbesuch. Mit anderen Worten: das pralle Leben. Es ist geradezu eine Parallelwelt – als ob es den Faschismus nicht gegeben hätte.

Sanders scheint dann weitergereist zu sein zurück nach Berlin, jedenfalls fotografiert er noch im August eine Fotoserie mit der angehenden Schauspielerin Heidi Scharf, die man angesichts der Situation in Berlin als geradezu obszön bezeichnen muss. Es ist das einzige Mal, wo Sanders sein sonst sicheres Gefühl für aussagekräftige Bilder vollkommen verlässt. Ein Jahr später wird Walter Sanders in einem Bericht des SPIEGEL namenlos, aber erkennbar als Entdecker der Künstlerin vorgestellt:

Das unbekannte Mädchen Heidi Scharf ging mit ihrer Schwester dahin, beschäftigt mit dem wichtigen Vorhaben, einen Lippenstift zu kaufen. Der junge Mann aus dem Citroen, der mit amerikanischem Akzent fragte: »Sind Sie Schauspielerin? Very well. Hohe Backenknochen, sehr photogen« war Korrespondent der USA-Zeitschrift »Life«.

Nette Geschichte, aber zumindest was den Akzent betrifft, wohl kaum zutreffend und jung ist Sanders auch nicht mehr. Zumindest in der Spätfolge entsteht tatsächlich der von Heidi Scharf erhoffte Kino-Film „Und über uns der Himmel“, ein Film, der den verheerenden Zustand Berlins zumindest nicht nur als Kulisse benutzt. Das ist auf der Heidi-Scharf-Serie anders. Hier ist der Kontrast des leichtgekleideten Models mit der Ruinenlandschaft von Berlin wirklich pornografisch – was vielleicht aber auch den Erfolg der Bilderserie erklärt.

Im Oktober beobachtet Sanders dann die Urteilsverkündung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes und nutzt es auch für Aufnahmen in und um Nürnberg. Aber es kommen keine wirklich aufsehenerregenden Bilder zustande.

Im November dokumentiert Sanders den Bremer Boysclub. Davon hatte ich bis dato nichts gehört und das gilt vermutlich selbst für Bremer Bürger. Sanders Fotos zeugen von der Faszination, die dieses Projekt der Erziehungsarbeit junger Bremer Stadtbewohner durch das US-Militär auf ihn ausübt. Für manche Alt-Nazis war das Verhalten der Jugendlichen Verrat am Vaterland, für die Jugendlichen eine Perspektive auf eine bessere Zukunft.

Im Dezember ist Sanders dann für eine Fotoreportage in Siena und man merkt, wie eine Last von ihm abfällt, weil er einfach eine toskanische Stadt und ihre Riten und Rennen fotografieren kann. 578 Fotos verzeichnet Google Arts and Culture von ihm zu diesem Thema und eines davon wird auch von LIFE als eines seiner besten eingeschätzt. Hier merkt man etwas vom früheren Walter Sanders in Amerika, der Hollywood-Fotos macht. Welches Ereignis Sanders jedoch konkret fotografiert, wird nicht recht deutlich, er dokumentiert ein Ereignis auf dem Piazza del Campo vor dem Rathaus, aber die berühmten Rennen finden eigentlich am 2. Juli und am 16. August statt.

Nun aber zu dem Fotoreport, der Anlass zu diesem Artikel war.

Für LIVE 1946 in Marburg

Im Auftrag von LIFE besucht Walters Sanders im Mai 1946 die Universitätsstadt Marburg und fertigt dort etwa 300 Bilder. Er bewegt sich, soweit sich das aus den auf Google Arts and Culture eingestellten Fotos ablesen lässt, vor allem rund um die Alte Universität (heute Sitz der Theologischen Fakultät), dann die Reitgasse hinauf bis zum Marktplatz und zur Lutherischen Pfarrkirche. Aber auch die Ketzerbach und die Robert-Koch-Straße kommen vor, wobei nicht alle Orte einwandfrei zu identifizieren sind.

Ein wiederkehrendes Motiv sind neben den amerikanischen Soldaten, die in Jeeps oder Spähpanzern durch die Stadt fahren, die „Kriegsversehrten“, insbesondere die Blinden, die in Marburg studieren, weil es dort die Blindenstudienanstalt gibt, ein Phänomen, das bis in die Gegenwart die Stadt prägt. Sanders stellt die ‚Kriegsversehrten‘ manchmal ins Zentrum der Fotografie, manchmal entdeckt man sie auch erst auf den zweiten Blick, weil sie sich in das normale Geschehen der Universitätsstadt bruchlos einfügen.

Zu den Realitäten, die Sanders abbildet und dokumentiert, gehört zunächst einmal die Anwesenheit amerikanischer Soldaten in der hessischen Stadt. Ob sie mit einem umgebauten M8 Greyhound als Military Police durch die Oberstadt fahren, über die Weidenhäuser Brücke flanieren oder abends in den verwinkelten Gassen der Oberstadt mit deutschen Mädchen flirten, ihre Präsenz ist unübersehbar. Nicht zuletzt auf den Verkehrsschildern werden sie kenntlich, denn die Hinweise auf die „Protestant Church“ oder die „Jewish Synagoge“ machen nur Sinn, wenn damit die religiösen Versammlungsorte der Besatzungssoldaten bezeichnet werden sollen. Auch das Schild, in der Stadt nur mit 15 M.P.H. (ca. 25 km/h) zu fahren, richtet sich an die Besatzungstruppe. Daneben klebt ein frisches Plakat, das zum Eintritt in die kommunistische Partei aufruft: „P.W. her zu uns! In den Reihen der Kommunisten für eine würdige Zukunft.“ Es sind diese kleinen Details, die die Fotos von Walter Sanders so aufregend machen. Denn P.W. ist natürlich der Prisoner of War, der deutsche Kriegsgefangene, an den sich die Kommunisten explizit wenden. In der Zeit, in der Walter Sanders seine Fotografien anfertigt, dürfte in Marburg auch der erste demokratische Kommunalwahlkampf nach 1945 stattgefunden haben. Denn im Mai 1946 leitet noch ein von den Amerikanern eingesetzter Oberbürgermeister die Stadt, erst im Juli 1946 wird der liberaldemokratische Karl Theodor Bleek mit über 40% der Stimmen zum Oberbürgermeister gewählt. Er war vorher Mitglied der DVP (1909-1942) und dann der NSDAP (1942-45), verschwieg diese Mitgliedschaft aber im Entnazifizierungsprozess.

Das Nachleben des in Marburg ja äußerst virulenten Nationalsozialismus wird allerdings nur einmal bei den Marburger Fotos von Walter Sanders im Rahmen seiner Universitätsbilder gestreift. Auf einem Fensterabsatz am alten neogotischen Universitätsgebäude, vermutlich im kleinen Innenhof des Gebäudes, dokumentiert er fotografisch wie beiläufig folgende Kritzeleien:

Das ist eine merkwürdige Zusammenstellung. Vor allem die umgestaltete amerikanische Flagge rechts, die aus den Stars and Stripes ein Gefängnisgitter macht. Noch merkwürdiger ist es, dass es ein zweites Foto gibt, auf dem nur ein Hakenkreuzzeichen zu sehen ist. Die Differenz beider Bilder erschließt sich nicht – außer durch einen inszenatorischen Eingriff des Fotografen, der aber wenig plausibel ist.

Walter Sanders war vermutlich direkt aus dem vollständig zerstörten und immer noch von den Kriegsschäden gekennzeichneten Berlin nach Marburg gereist und diese Stadt muss ihm im Gegenzug als nahezu vollständig erhalten erschienen sein. In Berlin hatte er noch einen völlig zerstörten Potsdamer Platz mit einem abgeschlagenen Hitlerbüsten-Kopf fotografiert, in Marburg wird er nur auf wenige Kriegsschäden (vor allem im Bahnhofsbereich) stoßen (und sie nicht fotografieren). Ihn interessiert der Universitätsbetrieb, vermutlich war das sein Auftrag: eine Serie über die Universität Marburg im ersten Nachkriegsjahr.

Das soziale Leben jenseits des Universitätsbetriebes taucht auf Sanders Fotos deshalb auch nur am Rande auf. Kenntlich wird es bei den Bildern, die er vom Platz vor dem Rathaus und dem Marktbrunnen macht. Die Rathausuhr zeigt kurz nach 12 Uhr, als sich eine Gruppe von Menschen nach und nach rund um den Marktbrunnen versammelt und auf kleinen Handwagen mitgebrachte Gegenstände präsentieren und vermutlich verkaufen oder tauschen. Ob es sich um einen Schwarzmarkt handelt, ist nicht ersichtlich.

Die Universität und das universitäre Leben

Die Alte Universität, die, wenn ich recht informiert bin, 1946 noch nicht exklusiv der theologischen Fakultät vorbehalten war, zeigt Sanders in einigen Bildern von innen, vor allem aber von außen. Den eindrucksvollen neogotischen Bau fotografiert er mehrfach von der Weidenhäuser Brücke als Gesamtensemble mit der Universitätskirche. Besonders der damalige Nebeneingang, der heute als Haupteingang des Gebäudes ist, wird von ihm wiederholt fotografiert, weil da die neogotischen Strukturen am besten einzufangen sind. Wiederum verzichtet er auf ein touristisches Highlight im Gebäude, die Universitäts-Aula, zeigt dafür aber ausführlich Bilder aus dem Karzer der Universität, der zu meinen Studienzeiten hinter der Hausmeisterwohnung verborgen und damit kaum zugänglich war.

Von der Alten Universität blickt man hinunter auf das Gebäude der juristischen Fakultät, und kann das rege Kommen und Gehen beobachten. Walter Sanders besucht in diesem Gebäude auch eine juristische Vorlesung und zwar die des Juristen und Rechtsphilosophen Fritz von Hippel, der seit 1941 an der Marburger Universität lehrt. 1946 hält dieser einen Vortrag mit dem Titel „Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung als Warnung und Lehre“. Walter Sanders zeigt vor allem die Studierenden während der gut besuchten Vorlesung, darunter auch einige Kriegsversehrte.

Ein merkwürdiges Kapitel in der Marburger Fotoserie bilden jene Bilder, die offenkundig im Rahmen einer Vorlesung der medizinischen Fakultät entstanden sind. Sie zeigen eine Frau mit entblößtem Oberkörper, die auf einem Podest stehend von einem Dozenten den Studierenden vorgestellt wird. Die Situation ist schwer deutbar, vielleicht geht es um Kriegsverletzungen, nähere Angaben macht Walter Sanders dazu nicht. Trotzdem bleibt ein Ausdruck von Ambivalenz bei dieser fotografierten Zurschaustellung bestehen.

Zwei Momente des Marburger Universitäts-Lebens, mit denen sich Sanders auseinandersetzt, sind noch zu erwähnen. Das eine sind die studentischen Wohn- und Lebensverhältnisse, also die Studierendenwohnheime und das Studentenwerk, und das andere sind die Korporierten, die in Marburg (eigentlich bis heute) eine lange Tradition und Präsenz im Stadtbild haben.

Das studentische Wohnen in Nachkriegszeiten scheint unterschiedlichen Bedingungen zu unterliegen. Während die einen eine Wohnung für sich in den verwinkelten Gassen der Marburger Oberstadt ergattern konnten, müssen andere sich ein Massenquartier teilen. Das erinnert ein wenig an die Zeiten, als die Boomer-Generation in Marburg zu studieren anfing und überhaupt kein Wohnraum mehr zu bekommen war. Oberhalb der Alten Universität lag damals die Mensa des Studentenwerks – mit einem wunderbaren Ausblick auf Elisabethkirche und die Lahnberge versehen. Sanders zeigt die Studierenden im intensiven Gespräch beim Mittagessen – es scheint Eintopf gegeben zu haben. Viel Aufmerksamkeit verwendet der Fotograf auch auf studentische Trinkgelage im alten botanischen Garten, wie der alte Karzer in der alten Universität erscheint das eine Reminiszenz an die alte Studierendenherrlichkeit. Ich weiß nicht, ob das ein Ausschank der alten Marburger Brauerei war, zu meinen Studienzeiten gab es eine derartige Einrichtung im botanischen Garten nicht mehr.

Ein besonderes Faible scheint Walter Sanders für die Marburger Korporierten zu haben – sei es, weil sie ihn befremdeten, sei es, weil sie ihn in ihrer Fremdheit faszinierten. Er besucht ein Verbindungshaus und lässt sich von Korporierten Fechtübungen vorführen. Es sind überaus ambivalente Fotomotive, die dabei entstehen. Man weiß nicht, ob sie die Begeisterung der Korpsstudenten dokumentieren oder sie sie in ihrer Lächerlichkeit bloßstellen soll. Ich halte letzteres für das wahrscheinlichere, zu überdramatisiert sind die Szenen.

Ein Bild – genauer betrachtet

-> Bild
Students talking at Castel Hill Park on top of hill, students come to study and flirt.

Dieses Foto ist aufschlussreich. Auf den ersten Blick zeigt es einen Schnappschuss von zwei Menschen, die in der Dämmerungszeit oberhalb der Lutherischen Pfarrkirche in Marburg auf einer Mauer sitzen und sich über Gelesenes unterhalten. Das aufgeschlagene Buch liegt noch auf den Knien der Frau, das Notizbuch mit dem Kugelschreiber auf der Mauer daneben. Aber schnell wird klar, dass die Szene so nicht stimmen kann. Keinesfalls können die beiden sich zur Lektüre getroffen haben, die Lichtverhältnisse – obwohl im Mai – lassen es nicht zu, es ist schlicht zu dunkel. Als es noch heller war, hat Sanders das erste Foto der Szene geschossen. Und vor dem Licht des abendlichen Horizonts erkennt man – nichts. Nun gibt es in Zeiten des analogen Films natürlich des Öfteren nicht gelungene Bilder, aber Sanders beginnt nun zu experimentieren.

Er muss also improvisieren, er muss die Szene von der Seite oder von vorne künstlich beleuchten, um zu einem aussagekräftigen Bild zu kommen. Und die fünf bei Google Arts and Culture veröffentlichten Fotos dieser Szene zeigen, dass und wie er das macht. Zunächst beleuchtet er die Szene von der Seite (Bild 2), was aber einen ziemlich gruseligen Effekt erzeugt. Das Licht erleuchtet vor allem den Rücken des jungen Mannes und strahlt direkt auf eine Gesichtshälfte der Frau. Eine überaus unwirkliche Situation. Der dritte oder vierte Versuch führt dann zum richtigen Ergebnis.

Das Bild dokumentiert, was es zeigen soll. Aber was soll es zeigen? Das Endergebnis soll ja eine Art dokumentarischer Schnappschuss vom Leben in Marburg im Frühjahr 1946 sein, ein Schnappschuss, der freilich sorgfältig inszeniert werden muss, damit er möglichst authentisch wirkt. Man könnte unterstellen, dass – weil die Szene direkt unterhalb des Marburger Schlosses stattfindet – die Lektüre der Frau sich auf das Schloss bezieht und sie mit ihrem Begleiter darüber ins Gespräch gekommen ist.

Wenn ich es recht sehe, trägt die Frau auf dem Bild Nylonstrümpfe - auch wenn ich es kaum glauben kann. Denn Nylonstrümpfe waren in dieser Zeit selbst in den USA eine absolute Rarität, erst im März 1946 konnte dort der Massenbedarf einigermaßen gedeckt werden. Im Deutschland der Nachkriegszeit durften Frauen auf Nylonstrümpfe kaum hoffen.

Das Wirtschaftswundermuseum notiert dazu:

Auch in Deutschland träumen die Frauen von Nylons, haben jedoch kaum eine realistische Aussicht, auf legalem Weg an ein Paar zu kommen. Was bleibt, ist der Schwarzmarkt, auf dem die heiß begehrten Strümpfe neben Zigaretten zu einer regelrechten Ersatzwährung avancieren und für etwa 200 Reichsmark gehandelt werden, was in etwa dem Monatsgehalt einer Sekretärin entspricht … Glücklich schätzen darf sich also, wer Verwandte in den USA hat oder über gute Kontakte zu den amerikanischen Besatzern verfügt und dank solcher Beziehungen an Nylons gelangt. Bisweilen sollen entsprechende Kontakte von deutschen Frauen aber auch einzig und allein aus dem Grund „gepflegt“ worden sein, an die ersehnten Strümpfe zu kommen. [Wirtschaftswundermuseum]

Noch bemerkenswerter ist, dass die Laufmaschen in den Nylonstrümpfen der Frau im Bild festgehalten werden, obwohl ja während der Vorbereitung der Ausleuchtung eigentlich genug Zeit gewesen wäre, sie mit dem Mantel zu verdecken. Dass dies alles Zufall ist, sollte man nicht annehmen, zu sehr war Walter Sanders als LIFE-Fotograf auf solche Momente fokussiert.

Anmerkungen


[1]    Das deutsche Lichtbild. Jahresschau 1930 (1929). Berlin: Robert & Bruno Schultz. Vorwort.

[3]    Blumenfeld, Israel (1946): Pessach-Buch. 5706-1946. Zum ersten Befreiungs- u. Frühlingsfest d. Überreste Israels in Europa. Marburg.

[4]    Hanak, Werner (2020): Pessach 1946. Dieses Jahr in Jerusalem. In: Bohus, Kata; Grossmann, Atina; Hanak, Werner; Wenzel, Mirjam (Hg.): Unser Mut - Juden in Europa 1945-48. München, Wien: De Gruyter Oldenbourg, S. 152–161.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/am728.htm
© Andreas Mertin, 2021