Joseph Beuys und der Blutstrahl der Gnade

Aus gegebenem Anlass

Andreas Mertin

Joseph Beuys, der in diesem Jahr 100 geworden wäre, war schon häufiger ein Thema im Magazin für Theologie und Ästhetik. In Nummer 50 hatten wir das Gespräch von Horst Schwebel mit Joseph Beuys dokumentiert.[1] In der Ausgabe 113 bin ich in einer Collage von Texten und Bildern dem „Christusimpuls“ bei Joseph Beuys in der Logik von Aneignung – Identifikation – Handlung – Provokation - Weitergabe nachgegangen.[2]

In den folgenden Notizen möchte ich dazu eine ergänzende Gedächtnisspur verfolgen, eine Spur, die sich weniger zwingend aus der Entwicklungsgeschichte der Kunst ergibt, als vielmehr aus einer theologischen bzw. theologiegeschichtlichen Betrachtung. Diese Gedächtnisspur lässt sich unter dem Titel „Blutstrahl der Gnade“[3] fassen, man könnte aber auch allgemeiner von der Gnade als Geschenk sprechen.

Meine These im Blick auf diese Gedächtnisspur lautet: Der Blutstrahl der Gnade wird im 14. bis 16. Jahrhundert in einer bestimmten dogmatischen Form fixiert und auch vielfach ikonographisch umgesetzt, in der Reformation theologisch durch Martin Luther, ikonographisch im Verbund mit Lukas Cranach d. Ä., subjektiviert und schließlich bei Rudolph Steiner und Joseph Beuys individualisiert und von seinen theologischen Voraussetzungen und Bindungen losgelöst.

Von einer christlichen Theologie, die sich offenbarungstheologisch versteht, gibt es jedoch, um das vorab klarzustellen, keinen Weg der Beerbung einer wie auch immer gedeuteten „Theologie“ des Joseph Beuys. Man kann fragen, ob sich Beuys überhaupt als „Theologe“ oder auch nur „theologisch“ verstanden hat – ich glaube das eher nicht -, aber wenn man ihn nicht künstlerisch versteht, sondern als Theologen deutet, dann stünde er eher für das, was Karl Barth vermutlich die religiöse Selbstverklärung oder Martin Luther die „Selbstverkrümmung“ des Menschen (Homo incurvatus in se) bezeichnet hätte.

„Unsere Natur ist durch die Schuld der ersten Sünde so tief auf sich selbst hin verkrümmt, dass sie nicht nur die besten Gaben Gottes an sich reißt und genießt, ja auch Gott selbst dazu gebraucht, jene Gaben zu erlangen, sondern das auch nicht einmal merkt, dass sie gottwidrig, verkrümmt und verkehrt alles […] nur um ihrer selbst willen sucht.“[4]

Aber wie gesagt, ich glaube, dass es ein Missverständnis wäre, Beuys als Theologen zu deuten, meines Erachtens sind die theologischen Deutungen des „Blutstrahls der Gnade“ nur das außerästhetische Material, mit dem Beuys ästhetisch-künstlerisch spielt und den Blutstrahl im Sinne von Energieflüssen aufnimmt und in eine künstlerische Haltung transformiert: Jeder Mensch müsste ein Künstler sein.

„Doch statt den Satz als Entgrenzung des Künstler-Begriffs zu interpretieren, kann in ihm auch eine Erhöhung des Begriffs vom Menschen gelesen werden. So wurde gemäß Beuys bisher unterschätzt, wie gottähnlich Menschen insofern sind, als sie grundsätzlich über schöpferische Kräfte verfügen. Sie sind also nicht nur Kreaturen, sondern genauso und erst recht Kreatoren. Damit aber stört Beuys etablierte theologische Konzepte, ist mit seiner Provokation jedoch nahezu ohne Resonanz geblieben.“[5]

Die derartig geäußerte Vermutung von Wolfgang Ullrich, Beuys könnte mit seinen Überlegungen und Aktionen etablierte theologische Konzepte stören, macht aber nur Sinn, wenn Beuys wirklich eine theologische und zudem noch eine neue und verstörende Aussage getroffen hätte, auf die Theolog*innen dann reagieren müssten. Die Rede von der Vergöttlichung des Menschen ist aber nicht etwas, was Theologen wirklich verstören würde. Diese Frage haben Theologen schon seit dem 4. Jahrhundert nach Christus intensiv immer wieder erörtert.

In der orthodoxen Theologie wird dies unter dem Begriff der theosis abgehandelt: Weil „Jesus Christus die wahre menschliche Natur angenommen hat, ist jeder Mensch in ihm wahrhaftig angenommen und potentieller Teilhaber an seiner vergöttlichten menschlichen Natur“. Die Theosis ist allerdings „keine der menschlichen Natur inhärente Potenz, sondern verdankt sich allein der göttlichen Gnade.“ - „Durch die Theosis können die Gläubigen durch Gnade und Teilhabe das werden, was Gott seiner Natur nach ist.“[6] Letzteres ist wichtig, weil es die Theosis als theologisches Konzept erkennbar werden lässt. Was Beuys aber vertritt, ist letztlich der Gedanke einer Vergöttlichung ohne Gott. Er sagt: „Aus dem Tiefpunkt, wo ihm [scil. dem Menschen] alle spirituellen Nabelschnüre abgeschnitten sind, muss er sich und kann er sich wieder erheben.“[7] Es geht ihm um die Selbstermächtigung des Menschen.

Und deshalb ist die vorgebliche theologische Resonanzlosigkeit nur positiv zu verstehen, denn sie spricht für das Funktionieren der Diskursgrenzen: Kunst ist keine Theologie und Theologie ist keine Kunst. Auch wenn es manche gerne anders hätten. Kunst entsteht durch De-Kontextualisierung eines Gegenstandes im weitesten Sinne aus seinem ursprünglichen Diskurs und seine Neu-Kontextualisierung in den ästhetischen Diskurs. Ist dies gesellschaftlich einmal anerkannt (wie es durch Marcel Duchamps Readymades nach 1917 geschehen ist), dann kann jeder Gegenstand (ein Kreuz, ein PKW), jede Handlung (das Abendmahl, Pfeifenrauchen, Fernsehen), und auch jeder Teil eines Diskurses (theologische Sätze, die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg) einer De-Kontextualisierung und Neu-Kontextualisierung unterzogen werden.[8] Mit dem Wechsel zur ästhetischen Betrachtung funktioniert nichts mehr wie vorher. Die Kunst wird zur potentiellen „Entleerung“ aller anderen Diskurse von ihrer ursprünglichen Bedeutung – aber natürlich nur im Rahmen der ästhetischen Erfahrung. Das Subjekt muss sich jeweils konkret überlegen, ob es ein Kunstwerk oder den Anwendungsfall eines anderen Diskurses vor sich hat. Und das kann überlebenswichtig sein. Einen aufschlussreichen Grenzfall der Diskurs-De-Kontextualisierung im Gebiet des Ethisch-Ästhetischen beschreibt Jean-François Lyotard:

"Der Offizier schreit Avanti!
und stürzt aus dem Schützengraben,
die Soldaten schreien ergriffen Bravo!,
ohne sich zu rühren.“[9]

Und wenige Minuten später sind sie natürlich tot, wenn der Feind das ästhetische Spiel nicht mitspielt. Kann man machen, sollte man aber nicht. Und auch bei Herz-Operationen solle man hoffen, dass der Operateur sich nicht als Bildender Künstler versteht und ein ästhetisches Spiel spielt, sondern als Mediziner sein Bestes gibt. Joseph Beuys wird nicht zum Straßenbahn-Schaffner, nur weil er eine Straßenbahnhaltestelle zum Kunstobjekt macht und nicht Schreiner, nur weil er Schubladen signiert. Es ist nicht einzusehen, warum es sich bei der Theologie anders verhalten sollte.

Künstler*innen nutzen religiöse Motive seit Jahrtausenden als außerästhetisches Substrat, um damit Kunstwerke zu gestalten – aber dadurch werden sie noch nicht zu Theolog*innen. Es würde ihnen auch kaum Spaß machen, denn damit ginge die ästhetische Souveränität verloren.[10] Es mag für Theolog*innen irritierend sein, wenn Künstler*innen Pfarrer*innen spielen (Füße waschen, Menschen segnen, Brot und Wein austeilen), aber damit werden sie noch nicht zu solchen. Ebenso wie Schauspieler*innen, die Mörder*innen spielen, nicht zu Mörder*innen werden. Sie schärfen nur das Bewusstsein der Diskursgrenzen. Auch die Beuys‘sche Fußwaschung in der Aktion Celtic +~ bleibt theologisch folgenlos, wie ihre Wirkungsgeschichte zeigt (Klaus Staeck, der im Rahmen der Fußwaschung die Position des Petrus einnimmt, ist nicht Kunst-Papst geworden). Analoges könnte man auch für die großen Werke der christlichen Kunstgeschichte sagen, die äußerst selten die Theologiegeschichte verändert haben.

Und die Idee des „Divino artista“ ist dann doch zu sehr Teil der Genieästhetik vergangener Jahrhunderte und ganz und gar nicht geistesgegenwärtig. Nur Talkshowmoderator*innen laden Künstler*innen in ihre Sendungen ein, weil sie glauben, diese seien – durch wen oder was auch immer – besonders „begabt“, über aktuelle Krisen wie Pandemien oder Sozialpolitik zu reden. Das ist ein elementares Missverständnis. Da wären alle Krankenpfleger*innen begabter. Aber die bezeichnet man eben nicht als „Divino artista“.

Das kardinale Problem der Verwechslung von ästhetischen mit theologischen Begriffen hat der amerikanische Philosoph John Dewey bereits 1934 in seinem Werk „Art as Experience“ beschrieben. Er verhandelt im Kapitel über die Perzeption unter der Rubrik Kategorienverwechslung bzw. Verwirrung der Werte die Neigung, bei der Beschreibung ästhetischer Erfahrung auf Begriffe aus anderen Erfahrungen, insbesondere der religiösen Erfahrung zurückzugreifen:

„Kritiker ebenso wie Theoretiker sind der Versuchung ausgesetzt, das spezifisch Ästhetische in Begriffe irgend einer anderen Art von Erfahrung zu übersetzen ... Das Kunstwerk wird behandelt, als ob es eine Neuausgabe von Werten wäre, die schon auf anderen Gebieten der Erfahrung kursieren. Es kann zum Beispiel kein Zweifel darüber herrschen, dass religiöse Werte einen fast unvergleichbaren Einfluss auf die Kunst ausgeübt haben. Während einer langen Periode in der europäischen Geschichte bildeten jüdische und christliche Legenden den Hauptinhalt aller Künste. Aber dieser Umstand für sich genommen sagt uns nichts über die spezifisch ästhetischen Werte. Byzantinische, russische, gotische und frühe italienische Gemälde sind alle in gleicher Weise ‚religiös’. Aber ästhetisch hat jedes seinen eigenen Wert. Zweifellos sind die verschiedenen Formen mit der Verschiedenheit religiösen Denkens und seiner Praxis verknüpft. Aber ästhetisch gesehen ist der Einfluss des Mosaiks ein treffenderes Thema.[11]

Und genau das trifft eben auch im Fall der als Theologie gedeuteten Kunsthandlungen von Joseph Beuys zu. Statt zu fragen, wie sie als künstlerische Handlungen einzuordnen sind, werden sie an die Theologie zurückgebunden.

Der Blutstrahl der Gnade

Ohne Frage greift Joseph Beuys in einigen seiner Arbeiten und vor allem in manchen seiner Äußerungen eine Frage auf, die seit Jahrhunderten in der christlichen Theologie erörtert wird und deren Beantwortungen nicht zuletzt auch zu den großen konfessionellen Spaltungen geführt hat. In der Terminologie von Joseph Beuys gesprochen:

Wer moderiert die Energieströme,
die von Jesus Christus
(seinem Tod und seiner Auferstehung)
in die Welt hinausgehen?

Darauf gibt es zahlreiche Antworten, mindestens eine katholische, eine evangelische, eine anthroposophische, eine humanistische und heute sicher auch eine ökumenische. Und diese Antworten können lauten: die Kirche, die Kleriker, das gläubige Subjekt, jeder für sich selbst, die Gemeinschaft. Und manche dieser Antworten haben auch eine visuelle Gestalt im Rahmen der Bildenden Kunst angenommen. Aber in der Mehrzahl dieser Fälle diente die neuzeitliche, vormoderne Kunst nur als Illustration von Theologie (ancilla theologiae). Der künstlerische Mehrwert ist in der Moderne aber eben kein theologischer, sondern ein ästhetischer.

In der katholischen Perspektive lautet die Frage dagegen:

Wer verwaltet legitimerweise den Heilsschatz,
der mit und durch Christus geschaffen wird?

Und die Antwort lautet:

Die objektive Beteiligung der Kirche an der subjektiven Buße basiert auf der aktualen Heilswirksamkeit Christi (dem ‚Kirchenschatz‘), die im Leben der Kirche als der heiligen Gemeinde zur Erscheinung kommt. Die Berufung auf diesen ‚Schatz‘ verleiht der amtlich-kirchlichen Fürbitte eine größere und andere Erhörungsgewissheit als das private Gebet.[12]

In der 1343 erschienenen päpstlichen Bulle Unigenitus Dei filius schrieb Papst Clemens VI:

„Diesen Schatz hat er [Christus] durch den heiligen Petrus, den Schlüsselträger des Himmels […] und durch dessen Nachfolger, seine Stellvertreter auf Erden, bereitgestellt zu heilsamer Verteilung an die Gläubigen bei besonderen und sinnvollen Anlässen, bald zu vollständigem, bald zu teilweisem Erlass der zeitlichen Sündenstrafen, um ihn allgemein oder in besonderen Fällen, wie es vor Gott gut scheint, wirklich reumütigen Menschen, die gebeichtet haben, barmherzig zu spenden.“

Diese Lehre wird dann auf den vorreformatorischen und gegenreformatorischen Bildern dargestellt. Hier fließt der Blutstrahl der Gnade in die Abendmahlskelche, um dann von den Klerikern an die Gläubigen verteilt zu werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Mitteltafel des Wrisberg-Epitaphs aus der Zeit der Gegenreformation.

Die im 16. Jahrhundert dann gestellte protestantische Gegenfrage lautet:

Warum kommt die Gnade Gottes
dem einzelnen Gläubigen nicht unmittelbar zu,
warum bedarf es der Kleriker für das Heil?
Reicht nicht die Predigt
als Hinweis auf die Gnade Gottes?

Und so urteilt Luther in den 95 Thesen:

Ein jeder wahrhaftige Christ […] ist teilhaftig aller Güter Christi und der Kirche, aus Gottes Geschenk ...

Was Martin Luther an der vorherigen Konzeption stört, ist die Bindung des Heils an die klerikale Vermittlung. Wenn Gott das Heil der Menschen will, warum dann ein künstlicher Engpass? Und so verweist auf Cranachs Bildtafel der biblische Johannes als prototypischer Prediger auf den Blutstrahl der Gnade, der unmittelbar von Christus auf die Brust des Gläubigen spritzt.

In diese Entwicklung scheint sich Beuys nun einzuzeichnen, insoweit er einen Schritt über Luther hinausgeht und auch noch den bei der katholischen und evangelischen Tradition vorausgesetzten Gnaden- und Geschenk-Charakter der in Christus sich vermittelnden ‚Energieströme‘ weit hinter sich lässt:

Die alten Formen hatten ja mehr oder weniger Geschenkcharakter: der Mensch bekommt etwas, erhält etwas, ihm wird geholfen. In unserer Zeit wird vom Menschen angenommen …, dass er das alles aus eigener Kraft tun muss. Aus einer Eigenkraft, die er sich erworben hat, die zum Selbsttätigwerden (Intentionalität) führt. Der Mensch hat so viel Ich-Kraft, dass er die religio, d. h. die Wiederanknüpfung an den gesamten geistig-spirituellen Zusammenhang von sich aus leisten kann. Deshalb muss er es also auch leisten. Er ist zunächst vereinsamt, isoliert, auch von seinem Nächsten. Aber er hat potentiell die Möglichkeit, die Isolation zu durchbrechen und die Wahrheit der Gesamtzusammenhänge zu finden. Aus dem Tiefpunkt, wo ihm alle spirituellen Nabelschnüre abgeschnitten sind, muss er sich und kann er sich wieder erheben.[13]

Wäre Beuys Theologe, wäre seine Theologie eine Art esoterischer Deismus. Aber eigentlich tritt er vollständig aus der Theologie hinaus, lässt auch Positionen wie die Immanuel Kants hinter sich, der in der Kritik der praktischen Vernunft zumindest Gottes Dasein als notwendiges Postulat bezeichnet hatte.[14] Joseph Beuys orientiert sich wie Rudolph Steiner eher an Max Stirner,[15] der einen radikalen atheistischen Individualismus formuliert. Zwar konzediert Beuys, dass mit Christus historisch ein neuartiger Impuls in die Menschheit gekommen sei, aber dieser müsse nun als von jeder Religion und Institution völlig losgelöst gedacht werden:

[Der Christusimpuls] lebt im Menschen und seiner Arbeit … Entweder ist er real, dann lebt er im Menschen. Ist er nicht real, ist er nur historisch, ist Christus-Jesus nur ein Religionsstifter, der als historische Figur versucht hat, ein religiöses System zu begründen, dann gibt es keinen Christusimpuls. Ist es eine spirituelle Tatsache, ein wirkliches Geschehen, dann ist es vorhanden … Dann lebt Christus im Menschen selbst …[16]

Das könnte man als eine Art esoterischen Christus deuten. Christi Kommen in die Welt und die Kreuzigung sind hier Momente der kosmischen Evolution. Letztlich ist es, wie evangelische Theologen hervorheben, eine Selbsterlösungslehre. Sie steht im Widerspruch zur christlichen Botschaft von Gottes Gnade und der Erlösung allein durch Jesus Christus. Nun übernimmt Beuys das vor allem aus der Anthroposophie Rudolf Steiners. Man könnte aber pro bono sagen, dass auch das für ihn nur das Material ist, mit dem er dann künstlerisch arbeitet.

Denn es ist deutlich, dass Beuys all diese Gedanken nicht theologisch, sondern künstlerisch nutzt, und zwar, um sie heuristisch auf das Projekt „Jeder Mensch muss ein Künstler sein“ zu übertragen. Er muss den Kerngedanken aller Theo-Logie – die Bindung an Gott – aufgeben, um das machen zu können. Es darf keine institutionelle oder übergeordnete Instanz geben.

Wie schwer das auch für Joseph Beuys selbst war, zeigt eine Interview-Dokumentation zur Ausstellung „mit – neben – gegen“ 1977 im Frankfurter Kunstverein, bei der über hundert ehemalige Beuys-Schüler*innen ihre Werke zeigten und es sich – so muss man letztlich sagen – dramatisch zeigte, dass der Beuys-Impuls sich selbst bei seinen unmittelbaren Schüler*innen eben nicht inkarniert hatte. Wie schwer es also mit den Energieströmen und Impulsen sein kann, welch geringe Halbwertszeit sie oft haben, das zeigt sich hier sehr eindrücklich:

… über hundert Teilnehmer; der Konsensus brach beim Aufbau schnell zusammen. Die anerkannten Künstler kamen meist mit geringen Markierungen aus, indes die Unsäglichsten selbstkritiklos die größten Blickfänge türkten. Enttäuschend war für Beuys vor allem, wie wenige ‚Jeder Mensch ist ein Künstler‘ begriffen hatten, indem sie zeigten, was sie heute im Beruf tun, was von der Konzeption Kunst = Leben sich darin ausgeformt hat; wie viele hingegen glaubten, dies sei die Gelegenheit, ihre Bildchen aus Schubladen und Schinken aus Schuppen her vorzuholen, die nicht begriffen hatten: jeder Mensch ist ein Künstler, aber nicht jeder Mensch ist ein Berufskünstler. Beuys ist hochallergisch gegen autonomen Dilettantismus …[17]

Das sind Theolog*innen auch.

Anmerkungen

[1]    Schwebel, Horst (2007): Im Gespräch mit Joseph Beuys. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 9, H. 50. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/50/hs8a.htm.

[2]    Mertin, Andreas (2018): „Wie kann man das, was ein Christusimpuls ist, herausarbeiten?“. Eine kleine Collage von Texten und Bildern. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 20, H. 113. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/113/am631.htm.

[3]    Vgl. Ohly, Friedrich (1985): Gesetz und Evangelium. Zur Typologie bei Luther und Lucas Cranach ; zum Blutstrahl d. Gnade in d. Kunst. Münster: Aschendorff.

[4]    Martin Luther: Scholion zu Röm 5,4, WA 56, 304, 25–29.

[5]    So Wolfgang Ullrich in seiner Ankündigung zum Vortrag „'Jeder Mensch ist ein Künstler' - Joseph Beuys als Theologe“ am 2. Juni 2021

[6]    Artikel „Vergöttlichung“ in: Fahlbusch, Erwin (Hg.) (1986): Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie. 3. Aufl., Neufass. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[7]    Schwebel, Horst (1979): Glaubwürdig. Fünf Gespräche über heutige Kunst und Religion mit Joseph Beuys, Heinrich Böll, Herbert Falken, Kurt Marti, Dieter Wellershoff. München: Kaiser.

[8]    Ich nenne exemplarisch für das Kreuz die Kreuzübermalungen von Arnulf Rainer, für den PKW die documenta 8 Installation eines Mercedes 300 CE von Ange Leccia, für das Abendmahl den Film "Viridiana" von Luis Buñuel, für das Pfeiferauchen entsprechende Überlegungen von Vilem Flusser, für das Fernsehen die Installationen von Nam June Paik, für theologische Sätze die Veronika-Tücher von Dorothee von Windheim mit Äußerungen Martin Luthers zum Papsttum, für die Mannschaftsaufstellung die entsprechende Inszenierung von Peter Handke.

[9]    Fr. Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 61.

[10]   Vgl. dazu Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[11]   John Dewey, Kunst als Erfahrung. Frankfurt 1980, S. 368.

[12]   LThK, Art. Ablass

[13]   Schwebel, Horst (1979): Glaubwürdig, a.a.O.

[14]   Kant, Immanuel (2009): Kritik der praktischen Vernunft. In: Kant, Immanuel; Weischedel, Wilhelm: Werkausgabe. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[15]   Stirner, Max; Meyer, Ahlrich (Hg.) (1844): Der Einzige und sein Eigentum. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam, 2011.

[16]   Schwebel, Horst (1979): Glaubwürdig, a.a.O.

[17]   Georg Jappe, Jeder Mensch ist ein Künstler – aber nicht jeder ist ein Berufskünstler. 14 Interviews von Georg Jappe mit Joseph Beuys und dessen ehemaligen Schülern im Frankfurter Kunstverein während der Veranstaltung ‚mit – neben – gegen‘. Kunstforum International Band 20, 1977, S. 144-159.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/am729.htm
© Andreas Mertin, 2021