Wie das Glück dem Tod die Hand reicht

Die dunklen Seiten des Walzers

Hans J. Wulff

Kaum eine musikalische Form und kaum ein Tanz ist so mit Assoziationen von „Glück“, „Liebe“, „Schwerelosigkeit“, „Heiterkeit“, „Bewegung“, „Sexualität“, „Fest“ und „Rausch“ aufgeladen wie der Walzer. Und doch wohnt ihm eine dunkle Seite inne, eine Gegenstimme, die der Lebendigkeit der Bewegung deren Stillstand, der Heiterkeit die Trauer, dem Rausch brutale Ernüchterung entgegensetzt. Der Walzer ist – wie so viele Siglen des Glücks – eine ambivalente Symbolik, die erinnern macht, dass Affekte relationale Dinge sind und erst durch die Opposition zu den Gegenaffekten greifbar werden. Ein Affekt lässt sich nicht absolut bestimmen, sondern immer nur im Verhältnis zu seinen Gegenaffekten. Die Kernannahme der folgenden Überlegungen ist schlicht: Es gehört zu den elementaren Aufgaben der Dramaturgie, aus der Ambivalenz der Affekte rezeptiven Gewinn zu ziehen, aus den Widersprüchen zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück einen Impuls zu gewinnen, der an das mittelalterliche Memento mori! erinnert und den Zuschauer mit einem tiefen existentiellen Konflikt der Affekte konfrontiert.

Eros und Thanatos

Ein erstes Beispiel: Lukas Berlinger (gespielt von Martin Benrath) ist Fabrikantensohn, Lebemann, Freigeist, Erfinder, Tausendsassa und leidenschaftlicher Flieger. Sein Gegenspieler und Altersgenosse Roeder (Peter Ehrlich) ist Karrierist, Duckmäuser und erfolgreicher Geschäftsmann. Am Ende scheint für Berlinger alles verloren zu sein, es fehlt nur seine Unterschrift, um seinen Besitz an Roeder abzugeben – doch er verweigert die Unterschrift unter den Abtretungsvertrag, steigt in sein altes Flugzeug und fliegt in den Tod. Die finale Szene aus dem Film Berlinger (BRD 1975, Alf Brustellin, Bernhard Sinkel) zeigt den letzten Flug des Titelhelden, in schwerelosen Begleitbewegungen der Kamera, das Flugzeug selbst scheint zu den Klängen des Wiener Walzers zu tanzen, der dem Flug unterlegt ist, bevor es in einen Baum stürzt. So dramatisch die Szene ist, die den Tod vorbereitet, so ist doch der Flug durch den unterliegenden (nicht-diegetischen) Walzer in einen letzten Moment des Erlebens von Freiheit und Ungebundenheit angehoben, frei von Erdenschwere und auch aus den Verwicklungen des Dramas herausgebrochen.[1] Gleichwohl umgreift der Widerspruch zwischen der Leichtigkeit des Walzers und der Bewegung und des so sicheren Todes jedes emotionale Erfassen der Szene, untersetzt sie mit Melancholie und vorweggenommener Trauer. Es mag die Rückkehr des Helden zu seiner radikalen Ungebundenheit und Eigensinnigkeit sein, die hier ein letztes Mal für ihn einnimmt – als Erinnerung an einen Lebensentwurf, der unter den Bedingungen des Nazi-Regimes scheitern musste.

Wie schon gesagt: Kaum eine Musik ist so eng mit den assoziativen Horizonten von „Festlichkeit“, „Bewegungslust“, ja sogar „Liebe“ konnotiert wie der Wiener Walzer. Gerade darum muss es zu einem Bruch kommen zwischen der Bedeutungssphäre von „Walzer“ und dem kontextuellen Wert der Szene, der nach Erklärung verlangt. In Berlinger bleibt die Frage, ob die Musik ein Gefühl des Zuschauers oder eines des Helden instrumentiert. In Le Salair de la Peur (Lohn der Angst, Frankreich/Italien 1953, Henri-Georges Clouzot) ist das anders. Hier ist Mario (Yves Montand) der einzige Überlebende des Nitroglyzerin-Transports durch 500km unwegsamstes Gelände geblieben, mit dem eine brennende Erdölquelle gesprengt-gelöscht werden sollte. Er hat doppelten Lohn kassiert, weil sein Beifahrer umkam. Das Geld ist die einzige Chance, der Armut und der Verelendung, die Mario in dem südamerikanischen Kleinstädtchen Las Piedras („Die Steine“) erleiden musste, zu entkommen. Sein Plan ist es, nach Paris zurückzukehren, die Metrokarte, die ihn an die Stadt und seine Vergangenheit erinnert hatte und die er wie ein Amulett aufbewahrt hatte, steckt am Armaturenbrett. Es ist unklar, ob der finale Walzer – eine dem Musette-Walzer angenäherte Tanzversion von Strauß‘ „An der schönen blauen Donau“ – aus dem Autoradio kommt oder ob er von Mario nur imaginiert ist. Mario fährt von der inzwischen gelöschten Unfallstelle los / Umschnitt auf seine Freundin Linda (Véra Clouzot); sie erfährt, dass Mario überlebt hat und beginnt, mit einer Freundin Walzer zu tanzen / Mario im Wagen, er ist überschwenglich-glücklich, beginnt mit dem Lkw zu „tanzen“, im Rhythmus des Walzers – bis er von der Fahrbahn abkommt und in den Tod stürzt. Dabei steigert sich der Schnittrhythmus der Bilder, das Tempo des Walzers beschleunigt sich bis zur Bedrohlichkeit.

Die Szene zeigt zum einen, dass der Walzer deutlich subjektivisiert ist, der inneren Freude des Helden ebenso Ausdruck gibt wie die finale Stimmung des Films unterstreicht: Es ist trotz der vielen Toten eine success story geworden, zumindest für Mario und Linda. Er signifiziert zudem den Sehnsuchtsort Paris, als einen Ort der Freude, der Tänze und der Ausgelassenheit. Allerdings signalisiert die Beschleunigung des Tempos bis zum Überdrehen schon die Präsenz von „Gefahr“ und am Ende von „Tod“. Auch hier geraten Bedeutungssphären, die dem Walzer beiwohnen, miteinander in Konflikt. Das Ende stellt sich als fatal heraus, alle Hoffnung auf ein happy ending wird zunichte gemacht. So subjektiv die Musik zunächst auch eingefärbt schien (und selbst ihr Aufschrillen mit der Beschleunigung könnte man noch als Überschwang des Gefühls des „Es-ist-geschafft!“ lesen), so schleicht sich doch die Frage ein, ob der Walzer ganz in Figurenpsychologie aufzulösen ist oder ob er nicht die Schluss-Emotion des Films dramaturgisch formiert. Der Kontrast der Deutungssphären des Walzers resümiert textuell noch einmal die Gefahr, die zum – vorläufig – glücklichen Ende geführt hat; er kontrastiert die Paris-Welt scharf gegen die Tonsphäre der südamerikanischen Elendsquartiere und unwegsamen Landschaften, die der Film bis dahin präsentiert hatte; und das Anziehen des Tempos der Musik ist gleichzeitig ein drohender Vorverweis auf das, was geschehen wird (kann also nicht dem Bewusstsein der Figuren zugeschrieben werden).

Deuten diese beiden Beispiele schon an, dass der Walzer – genauer müßte man vom kulturellen Wissen über den Walzer resp. den Walzertanz, seine gesellschaftlichen Nutzungsweisen, die damit einhergehenden emotionalen und modalen Anmutungen sprechen – in eine Konjunktion mit Bedeutungen und Kontexten tritt, die seinem ursprünglichen und nicht-kontextgebundenen Gehalt widersprechen, den Zuschauer also zu einer Assimilation seines Wissens an die Bedingungen des Beispiels zwingen. Es mag sein, dass Musik und Szene zu einer Einheit verschmelzen – das Paar, das am Ende einer Geschichte zueinander gefunden hat und nun verliebt die folgenden Wochen genießt: Hier unterstützt der Walzer ein Lebensgefühl, das dem Erlebnis des Walzertanzes vielleicht verwandt ist. Manchmal aber driften Musik und Szene auseinander. Dann ist der Zuschauer vor ein Problem gestellt, er muss die semantische Einheit, die beide bilden, erst ausloten, sie errechnen, sie in den Horizont der Geschichte eingliedern, der beide zugehören.

Manchmal werden sie am Ende affektiv vereinigt. Ernst Lubitschs melancholische Lebensgeschichte des von Don Ameche gespielten Lebemanns und Frauenhelden Henry van Cleve (in Heaven Can Wait / Ein himmlischer Sünder, USA 1943), der am Ende seines Lebens vor der Entscheidung des Teufels steht, ob er in die Hölle muss oder in den Himmel aufgenommen werden wird, endet mit der Entscheidung des Teufels, van Cleves Leben sei belanglos gewesen. Schnitt: Wieder im Krankenhaus, van Cleve stirbt hinter einer sich schließenden Tür, sie erfasst einen Ballsaal, ein alter Walzer, den van Cleve liebte, erklingt – es ist ein Traum, mit dem der Held sich mit der zur Nachtschicht eintreffenden Krankenschwester zu den Klängen der Musik zum Weg in den Himmel aufmacht. Wird der finale Affekt vereindeutigt, ist es nur ein sentimentalisch-süßliches Finale in der Nähe des Kitsch-Endes? Nein, das Finale ist ironisch gebrochen, weil es im engen Moralkorsett der 1940er einen entspannten Blick auf die eigentlich harmlosen Sehnsüchte des Helden in einer anderen Zeit (und einer anderen kulturellen und moralischen Lebenswirklichkeit) wirft. Der Walzer verleiht der augenzwinkernden Ironie der Erzählung einen letzten akustischen Ausdruck.

Affektive Synthesen zu produzieren ist aber nicht nur Zuschauer-Aufgabe angesichts von Schluss-Szenen, sondern kann auch Szenen aus der Mitte von Filmen betreffen. Ein Beispiel stammt aus John Frankenheimers fast dreistündigem Rennfahrerfilm Grand Prix (USA 1966). Er zeigt Großaufnahmen einzelner Zuschauer, Bilder, auf denen die Frau eines der Fahrer (Louise Frederickson / Eva Marie Saint) zwischen anderen auf der Tribüne zu sehen ist, weite Aufnahmen der Wagen auf der Strecke und Fahraufnahmen aus den Wagen heraus. Es sind Bilder, die man konventionellerweise als Bilder von Autorennen verwenden könnte. Grand Prix aber verschmilzt sie mit Mehrfachbelichtungen, Split- und sogar Multi-Screens, mit bewusst gesetzten Unschärfen und der aufschwellenden Filmmusik (hier als Walzer mit einem 4/4-Mittelstück; Komponist: Maurice Jarre) zu einer visuell höchst auffallenden Form (1:02-1:04)[2]: Im ersten Teil liegt unter den Bildern eine Großaufnahme der lachenden Louise, so dass die Sequenz durchaus als subjektivisierte Wahrnehmung des Rennens und als Ausdruck der euphorischen Stimmung jener Frau gelesen werden kann. Der Walzer war schon wie ein Irrlicht als kurzes Stück in der Ouvertüre des Films erklungen.

Aber man erfasst so nur einen Teil der Bedeutungen, die hier ausgestellt werden – latent umfasst die Zärtlichkeit der Musik auch einen dramaturgisch-sentimentalischer Hinweis auf das Ende der Geschichte, an dem der Fahrer und Mann (Jean-Pierre Sarti /Yves Montand) beim Rennen tödlich verunglücken wird. Kaum eine Musik vermag den fragilen Schwebezustand zwischen Freude und der Voreinstimmung auf eine noch diffus bleibende Trauer so getreulich zu transportieren wie dieser süßliche Walzer, der aus dem vom Dröhnen der Rennwagen-Motoren dominierten soundscape des Films scharf herausfällt.[3] Aber er artikuliert auch das Gefühl der Präsenz, der Konzentration und Anspannung, man möchte sagen: des flow-Erlebnisses der Fahrer und die Eigenweltlichkeit der Einheit von Fahrer und Maschine im Rennen.

Gerade weil der Walzer strikt anti-martialisch ist, sich einer Heroisierung verweigert, zwingt er den Zuschauer, seine Beziehung zu den Figuren anders auszutarieren, als würde ihm der Film eine klare Positionierung des Helden im dramatischen (und vielleicht auch politischen oder militärischen) Konflikt anbieten, von dem der jeweilige Film handelt. Walzer wird nicht nur als Ausdruck der Hingabe an Augenblick und Bewegung interpretiert, sondern ist manchmal als Bewegung der Verzweiflung und als Hinweis auf das Aufgeben der äußeren Realität ausgewiesen. Ein neueres Beispiel ist eine Szene aus Waltz with Bashir (Israel/BRD/Frankreich 2008, Ari Folman), die dem ganzen Film den Titel gegeben hat, dabei aber gerade nicht an die Festlichkeit des Ballsaals, an die Schwerelosigkeit der Bewegung der Paare und an die Anmutungen von Schwips, Glück und Erotik anknüpft, sondern eine bittere und düstere Gegenposition einnimmt, Ausdruck höchster Verzweiflung ist: Der „Walzer mit Bashir“[4] ist die wilde Bewegung eines ziellos um sich schießenden, seinerseits von allen Seiten beschossenen Mannes mitten im Häuserkampf auf einer Beiruter Front-Straße; ohne sich zu schützen zu versuchen, feuert er nach oben, sich dabei wie ein Tänzer im Kreis drehend.

Gemahnt letzteres Beispiel an das Formenspiel der Groteske – immerhin suggeriert das Zusammen von Musik und kreisender Bewegung eine Leichtigkeit, die angesichts der tödlichen Gefahr, in der der Tänzer steht, eine Souveränität im Umgang mit den Kugeln, die der Angst spottet, mit der seine Kameraden der Gefahr begegnen –, finden sich auch andere Formen, die die ursprünglichen Bedeutungen des Walzers ganz verkehren und in neue rhetorische, argumentative und politische Kontexte einbinden.

In der Initialphase des KZ-Films Escape from Sobibor (Sobibor, Großbritannien/Jugoslawien 1987, Jack Gold) werden die Züge, mit denen die neuen Lagerinsassen ankommen, von lauter Walzermusik (Johann Strauß‘ „Geschichten aus dem Wienerwald“) begrüßt – eine Lager-Konvention, die angesichts der sich unmittelbar anschließenden Selektion derjenigen, die in die Gaskammern kommen sollen, auf den Zuschauern als reiner Zynismus wirken muss.

Als bitterer Kommentar muss der Walzer in Peter Patzaks in den 1970ern spielender Gangsterfilm Zerschossene Träume (Österreich/BRD/Frankreich 1976), der eine Szene mit Luftaufnahmen von Wien enthält, die mit einem Walzer unterlegt sind, der „zerhackt“ ist, regelmäßige Aussetzer hat. Die Folge, die wunderbar mit der Geschichte harmoniert: Das gemeinhin so harmonisch daherkommende Wien zerfällt wie der musikalische Fluss, eine latente Lust an der Zerstörung wird spürbar.

Trotz Zynismus, trotz Bitterkeit: Die Filme greifen auf den Walzer zurück, auf die Leichtigkeit, die dem Walzer als kulturellem Wissen beigegeben ist. Sie ist nicht vollständig verloren, bleibt ein Schemen vergangener Seligkeit erhalten.[5] Gerade in dieser Undeutlichkeit wirkt sie in der moralischen Implikation, die die beiden Szenen aufrufen (die eine stellt die menschenverachtende Brutalität der Täter zur Schau, die andere das Gefühl der Heimatlosigkeit und des Ausgestoßenseins) weiterhin nach, bleibt wach, als artikuliere sich in der Musik eine Gegenstimme, die das Glück des Tanzens gegen das Geschehen der Geschichte wie einen utopischen Schimmer im Bewusstsein hielte.

Mephistos Walzer

Die Ambivalenz des Walzers spielte schon in den Künsten des 19. Jahrhunderts eine Rolle, fast zeitgleich mit seiner europaweit um sich greifenden Popularität. In einigen Interpretationen wurde er mit dem Teuflischen verbunden, als Verführung zu einem Rausch, der in einen faustischen Pakt mündet, dem die Tanzenden verfallen. Der wohl bekannteste Versuch, den Walzer mit dem Teufels-Topos zu vermählen, ist sicherlich Franz Liszts Mephisto-Walzer. So berühmt und präsent er in der aktuellen Konzertpraxis auch ist, so wenig ist er im Film als programmatische Musik aufgenommen worden. Eigentlich müsste man den ganzen zwischen 1859 und 1885 entstandenen Zyklus von vier Walzern nennen – prominent geworden ist nur der erste der vier. Er wurde von Liszt selbst in mehreren Versionen (in Fassungen für Orchester, Piano-Solo, vierhändiges Klavier und – vom Verlag nachgereicht – für Doppelpiano) ausgearbeitet. Für die Orchesterversion liegen sogar zwei Schlüsse vor (der später entstandene beendet das Stück weniger abrupt und hart, als solle der programmatische Kern abgemildert werden). Der Impuls für die Walzer entstammt neben Goethes Faust vor allem Nikolaus Lenaus Drama Faust. Ein Gedicht (1836). Der erste Walzer – der Tanz in der Dorfschenke – intoniert eine Bauernhochzeit: Faust erreicht zusammen mit seinem teuflischen Gefährten Mephistopheles die Schenke. Mephisto spielt mit der Geige eines lethargisch wirkenden Bauern auf, regt die Gesellschaft zu orgiastischen Tänzen an. Während jener wie besessen musiziert, spielt Faust den Verführer, lockt eines der Mädchen aus der Schenke hinaus in einen Wald. Er ahmt den Gesang der Nachtigall nach, mit dem Hintergedanken, die junge Frau zu verführen. Gerald Larner fasst in seinem Begleittext zu einer Einspielung der Liszt-Walzer die programmatisch-dramatische Struktur des 12minütigen Stücks zusammen:

Die Musik, die Mephisto den Dorfbewohnern vorspielt, ist ebenso zügellos wie seine Vorbereitung darauf. Sein turbulenter und unaufhaltsamer Tanz bildet einen besonders wirkungsvollen Kontrast zu dem Hauptthema des Werks, eine sanftmütige und zögerlich synkopierte, aber doch sehr erotische Walzermelodie, die mit espressivo amoroso überschrieben ist. Es ist dies von allen Walzern in Des-Dur der verführerischste und er ist Faust selbst gewidmet, der seinen Machenschaften im Wald nachgeht. Nach einer ausgedehnten und kunstvoll gesetzten virtuosen Durchführung wird Fausts Walzermelodie auf dem Höhepunkt des Werks mit Anspielungen an das erste Thema kombiniert und geht dann in einen dämonischen Galopp über. Die Stimme der Nachtigall erklingt noch einmal in poetischer Abgeschiedenheit, kurz bevor ein Grummeln eine kurze aber dramatische Coda ankündigt.[6]

Eine komplexe Struktur also, die nicht nur Vorkenntnisse verlangt, sondern auch konzentriertes Zuhören – beides womöglich Gründe dafür, dass das Stück in der Begleitfunktion der Filmmusik eine so marginale Rolle spielt.

Auch in Mephisto (BRD/Österreich/Ungarn 1981, István Szabó) basiert der Einsatz des Mephisto-Walzers nicht auf seinen musikalischen Qualitäten, sondern auf der Herkunft der Kompositionen aus dem Faust-Stoff. Der auf dem gleichnamigen Roman von Klaus Mann (1936) basierende Film zeichnet in kaum verhüllter Form den beruflichen Aufstieg des Theaterschauspielers, -regisseurs und -intendanten Gustaf Gründgens (hier gespielt von Klaus Maria Brandauer) in der Zeit des Nationalsozialismus nach.

Gründgens‘ größten Erfolg hatte er in der Rolle des Mephisto in Goethes Faust – und was läge näher, als ihm der „Ministerpräsident“ (Rolf Hoppe) die Intendantur des Staatstheaters anträgt, die Beziehung zwischen dem Politiker und dem Schauspieler als „faustischen Pakt“ auszulegen, als Bündnis mit dem Teufel höchstselbst. Wie eine Vorausdeutung unterliegen einige Takte des Walzers bereits der Titelsequenz.[7]

Der einzige Film, der den Mephisto-Walzer nicht nur als Hinweis- und Anzeichen verwendet,[8] ist The Mephisto Waltz (Mephisto Walzer - Der Lebende Tote, USA 1971, Paul Wendkos), der schon im Titel auf seine Quelle verweist. Auch hier geht es um den faustischen Pakt: Der an Leukämie erkrankte Pianist Duncan Ely (Curd Jürgens) freundet sich mit dem Musikjournalisten Myles Clarkson (Alan Alda) an, der selbst eine Pianistenausbildung genossen hat und lange auf eine Karriere als Konzertpianist gehofft hatte. Was Clarkson nicht weiß: Ely ist praktizierender Satanist, der einen Pakt mit dem Teufel verabredet, demzufolge seine Persönlichkeit in den Körper des jüngeren und gesunden Mannes transferiert werden wird. Tatsächlich fallen Myles‘ Frau Paula (Jacqueline Bisset) schon bald nach Elys Ableben merkwürdige Veränderungen an ihrem Mann auf, sie ist zugleich irritiert und fasziniert. Am Ende wird auch Paula den Körper gewechselt haben und ihre zwischenzeitlich zerbrechende Ehe mit Myles wieder aufnehmen können. Eine wirre Geschichte, die in die Boomzeit des okkulten Horrors um 1970 herum gehört, die heute weitestgehend vergessen ist (und nur von Bisset-Fans noch in Erinnerung gehalten wird). Die flache, an die Standards der TV-Filme der frühen 1970er erinnernde Gestaltung des Spiels sowie die Flachheit der Bilder, der Verzicht auf visuelle Schock- oder Horroreffekte – es gibt eine ganze Reihe Gründe dafür, dass The Mephisto Waltz nicht in den Kanon der Horrorfilme aufgenommen wurde.

Allerdings machte schon die zeitgenössische Kritik auf die herausragende Qualität der Musik aufmerksam. Jerry Goldsmith hatte den Score geschrieben. Wie eine Art musikalisches Insert wirkt die Klavierfassung des Walzers bei einem der Konzerte Clarksons (der Pianist ist Jakob Gimpel, einer von Goldsmiths Lehrern). Doch dies ist Ausnahme – der größte Teil des Films ist von Goldsmiths Sound-Komposition erfüllt, sie treiben die Handlung vor allem an. Schon die Titelmusik nimmt die treibenden Rhythmen der Liszt‘schen Klavierfassung auf, kombinierte sie mit stoßenden Streichern und dissonanten Klangballungen. Goldsmith griff auf andere Kompositionen zurück, die dazu gedient hatten, den Teufel musikalisch zu markieren[9] – dazu gehört auch ein Dies irae, das das paradox-zynische Ende ankündigt ebenso wie den Gipfelpunkt der Angst.

Geht es in manchen Filmen darum, die Virtuosität der Musiker herauszustellen, greifen andere auf die motivischen und rhetorischen Potentiale des Mephisto-Walzers zurück, meist unter Hintanstellung der musikalischen Strukturen. Es sind Stereotypen des kulturellen Gedächtnisses[10] wie die Vorstellung des Virtuosen als Agent des Dämonischen, die Idee der Ansteckung von Menschenmassen durch die teuflisch-undurchschaubare Macht der Musik (bzw. des diabolischen Musikers), die Nähe des musikalischen Genies zu den dunklen Mächten und ähnliches mehr. Die Filme und ihr Rückgriff auf Liszts Stück sind nur partiell auf diesen Wissenskomplex rückführbar, auch wenn der kurze Überblick deutlich macht, wie sehr die dem Stück konnotierten Bedeutungen in die Kunst- und besonders die Musikideologien des 19. Jahrhunderts zurückweisen. Virtuosität, Wahnsinn, die Bereitschaft, sich dem Bösen hinzugeben, und eine übersteigert-obsessive Bindung an die eigene Schöpferkraft – es mag dieses Ideologem des Künstlers sein, das den so wenig tanzbaren Mephisto-Walzer an die Geschichten anlehnt, die im Kino erzählt werden.

Totentänze

Die Durchmusterung der Beispiel zeigt, dass die Deutungshorizonte der Filmwalzer noch viel tiefer in die mythischen Bilder und Erzählungen europäischer Kulturgeschichte hineinragen – auch wenn sie deren ursprünglichen rhetorischen und ontologischen Modus essentiell verändern. Auch dazu ein Beispiel: In einer ganzen Reihe von Kritiken des Films Il Gattopardo (Der Leopard, Italien 1963) von Luchino Visconti wird die Metapher des „Totentanzes“ bemüht, um den Untergang des feudalen Herrschaftssystems zu beschreiben. So spricht Simon Hauck im Filmdienst[11] davon, dass „Viscontis Stammkameramann Guiseppe Rotunno einen bis dahin nie gesehenen Totentanz voller Abschiedsmetaphern (von Spiegelbildern über einzelne Gemälde bis hin zu unzähligen Flügeltüren und Nachttöpfen)“ zelebriert habe, anknüpfend an die ikonographischen Traditionen des danse macabre. In Sonderheit der große Ball – das Zentrum des Films – wird von Marcus Stiglegger als „verschwenderischer Totentanz“ ausgelegt,[12] als besondere Realisierung von Viscontis nostalgiegetränktem Kernthema: dem „Ende der alten, in Schönheit erstarrten Welt“.[13] Das musikalische Zentrum des Balles ist ein bis dahin unveröffentlichter Walzer Verdis, den Nino Rota neu instrumentierte und in eine lange Tanzsuite integrierte, die die Ballsequenz fast in ganzer Länge nicht nur begleitet, sondern auch Stimmung, Handlung und Bedeutung des Geschehens prägt.

Totentanz also als Metapher. Aber es ist ein schiefes Bild, weil Il Gattopardo einen Übergang gesellschaftlicher Machtverhältnisse dramatisiert, in dem das Ende der einen Klasse zugleich das Erstarken einer anderen bedeutet. In der ins späte Mittelalter zurückreichenden Tradition des Totentanzes – des Makabertanzes, des dance of death oder oft französisch: des danse macabre – aber begleiteten Skelette die Lebenden zu ihren Gräbern. Sie tanzten dazu Walzer. Könige, Ritter, gemeines Volk gesellte sich zu ihnen, tanzte mit, weil der Tod allen widerfährt, unabhängig von Stand oder Reichtum. Der mittelalterliche Totentanz ist eine Allegorie, keine Metapher – das Szenario erfährt im Lauf der Jahrhunderte eine Verschiebung des semiotischen Status, die Skepsis gegen all zu schnelle Übertragungen des Konzeptes wecken sollte.

Wenn am Ende von Louis Malles ironischer Revolutionskomödie Milou en Mai (Eine Komödie im Mai, Frankreich 1990) Milou (Michel Piccoli), der Titelheld, und seine schon zu Beginn des Films verstorbene, am Ende in der Phantasie des einzig zurückgebliebenen Milou wieder auferstandene Mutter einen Walzer tanzen,[14] bevor das Landhaus verlassen wird, so mag man das als „Totentanz aller bürgerlichen Tänze“ ansehen, weil dieses Finale das Aufschimmern einer revolutionären Veränderung in Paris beendet;[15] aber man kann es auch als melancholische und resignierende Erinnerung an die beschwipste und offensichtlich nicht-ernste Solidarisierung der kleinbürgerlichen Anwesenden mit der Revolution am Abend vorher ansehen; sie waren just wegen der Unruhen in Paris in das Landhaus geflohen und kehren nun in die Hauptstadt zurück. Milou war der einzige, der offen mit den Aufständischen sympathisierte, und er ist als letzter noch im Haus seiner Mutter. Ein „Totentanz der ‘68er Revolution“? Sicherlich nein.

Auch wenn die Besichtigung des Films zeigt, dass Milou und seine Mutter am Ende gar keinen Walzer tanzen, sondern einen schnellen (von Stéphane Grapelli geschriebenen) Boogie-Woogie – der allerdings als zunächst nur hörbarer, offenbar von Milou imaginierter Walzer beginnt, der mit seinem Blick auf Klavier und Mutter allerdings seinen Rhythmus wechselt –, so ist doch die Fehlerinnerung aufschlussreich, weil sie auf eine tiefe Verbindung von Walzer und Totentanz hindeutet. Walzer also nicht nur als „Tanz der Sünde“, als der er lange angesehen wurde, sondern in intimer Verklammerung mit Motiven des Todes und vor allem des Totentanzes.[16] Die sexuelle Suggestivität von Walzer und ihre Affinität zu Todesvorstellungen war schon früh gegeben, erreichte aber erst in der Romantik die spätere enge Konjunktion, die in allen Künsten ausgestaltet wurde.[17] Es war eine ganze Reihe von Charakteristiken, die Sexualität und Tod gleichermaßen zugewiesen wurden – Grenzerfahrungen, Erlebnisse der Ich-Auflösung und der Regression, der Kontinuität wie auch erlebter Gewaltanwendung, Eindrücke der Opulenz und Verschwendung gleichzeitig,[18] die in der Romantik zu Konnexen der Gleichzeitigkeit von Liebes- und Todeswunsch, von Erotik und Tod zusammengeschlossen wurden.[19]

So faszinierend die Etablierung der Sexualität-Tod-Assoziation für manche Auslegungen des Walzers sind, stellt sich als zweite Frage, ob man sie auf den Totentanz ausdehnen kann. Dessen Geschichte wurde vor allem als Geschichte der graphischen Manifestationen des Motivs geschrieben – und natürlich bleibt zu klären, wie er in anderen Künsten (dem Theater, der Literatur, der Musik,[20] im Film usw.) angeeignet wurde. Blendet man alle Metaphorisierungen (wie die Totentanz betitelten Theaterstücke von August Strindberg [1900] oder Frank Wedekind [1905]) und Profanisierungen (wie im Titel Totentanz aus der TV-Krimiserie Commissario Laurenti [BRD 2009, Ulrich Zrenner]) aus, konzentriert sich sein Bedeutungshorizont auf die gleichzeitige Präsenz von Lebenden und Toten und deren gemeinsamen Tanz. Schnell reduziert sich die Menge der Fälle. So ist der als Tod maskierte Mann (Adhemar da Silva) – in Schwarz mit leuchtend weißer Skelett-Zeichnung – in der Orpheus-und-Eurydike-Adaption Orfeo negro (Brasilien/Frankreich/Italien 1959, Marcel Camus) einer der zahlreichen personalisierten Auftritte des Todes in der Filmgeschichte;[21] er dient zwar als dramatischer Vorbote des Todes der Frau, aber er ist eben keine Figur des Totentanzes. Und auch die in den 1920ern verbreitete Filmplakatmode, die Frauen der Handlung mit Skeletten zu verbinden,[22] schließt zwar an die Sexualität-Tod-Assoziation an, realisiert aber wiederum nicht das Motiv des Totentanzes.

In den Adaptionen des Totentanz-Motivs spielt Camille Saint-Saëns‘ 1875 entstandene Komposition Danse Macabre eine gewichtige Rolle. Bereits 1874 entstand ein Lied mit Klavierbegleitung über das gleichnamige Gedicht von Henri Cazalis („Zig et zig et zag, la mort en cadence / Frappant une tombe avec son talon, / La mort à minuit joue un air de danse, / Zig et zig et zag, sur son violon“ [„Zickezackezick, der Tod kadenziert, tritt auf die Gräber und spielt eine Tanzweise auf seiner Violine“]). Ein Jahr später folgte eine Fassung für zwei Klaviere, später für Orchester (Adaption: Franz Liszt). Mitternacht; der geheimnisvolle Geiger stimmt einen morbiden Walzer an, der zu einem orgiastischen Reigen gesteigert wird; das Spiel geht in eine Fuge über, zu der die Knochen der Verstorbenen aus ihren Gräbern kommen und sich zur „Sarabande der Toten“ aufreihen; der Schrei des Hahns beendet den Spuk – und die letzten absteigenden Melodiefetzen deuten die makabre Pointe des Liedes an, die an die allegorische Dimension des Totentanzes anschließt: „Et vivent la mort et l’égalité!“ („Und es lebe der Tod und die Gleichheit!“).[23]

Die Zahl der Nutzungen des Danse macabre ist kaum zu überblicken – als Zwischen- oder Begleitmusik im Theater bereits der Jahrhundertwende, als Filmmusik[24] oder in TV-Produktionen, als Werbemusik, Soundtrack von Video- und Computerspielen u.a.m. Meist geht es um die Etablierung der Stimmung, nicht um die Re-Inszenierung des Totentanzes in seinen ursprünglichen Bedeutungen. Natürlich finden sich Ausnahmen wie La règle du jeu (Die Spielregel, Frankreich 1939, Jean Renoir): Ein Jagdausflug auf ein großzügiges Anwesen außerhalb von Paris; eingeladen: Mitglieder der „feinen Gesellschaft“; während des Wochenendes entwickelt sich ein munteres Liebestreiben; zu den Veranstaltungen gehört ein Maskenball; am Ende wird der Protagonist des Films erschossen sein, ein Eifersuchts-Ende, das aber als Unfall maskiert wird. Hier von Interesse: der Maskenball. Ein automatisches Klavier; es spielt Saint-Saëns‘ Danse macabre. An seinem Rand sitzen und stehen Gäste, völlig desinteressiert, von der Musik unberührt. Abschwenk auf eine kleine Bühne; drei notdürftig mit weißen Tüchern als „Gespenster“ maskierte Akteure geraten ins Licht; ein Mann in hautengem schwarzen Anzug und aufgemaltem Skelett springt vor die drei, beginnt eine Art hüpfenden, ungeregelten Tanzes; die Akteure schwärmen ins Publikum aus, suchen vor allem die Frauen zu erschrecken; vereinzelte Schreckensrufe; die anwesenden Paare sind weiter mit sich selbst beschäftigt; die Kellner tragen Wein herum; dazu das schwankende Licht eines einzelnen Scheinwerfers, der über die Anwesenden streicht. Eines der Paare verlässt den Saal, die Show ist vorüber, der laienhaft inszenierte Mummenschanz vorbei.

Ein Totentanz? Nein. Es geht Renoir darum, die Missachtung des Themas der Show zu zeigen, weil der Film in ganzer Länge davon handelt, eine Gesellschaft zu registrieren, die den allegorischen Impuls des Spiels nicht begreift, es zu billigem Jahrmarktsvergnügen reduziert. Ohne direkt auf den allegorischen Kern des Totentanzes zuzugreifen, unterliegt auch der Titelsequenz von Martin Scorseses Hugo (Hugo Cabret, USA 2011) das Saint-Saëns‘sche Stück (arrangiert von Howard Shaw): Zwei Kinder lesen in einem Buch von der Frühgeschichte des Kinos, eine Entdeckungsreise, die der Film mit einer komplexen Alternation von alten Filmaufnahmen, Dreharbeiten zu einem der Méliès-Filme, Bilder eines Kinos der Frühzeit und den Kindern illuminiert. Auch hier die Frage: Ein Totentanz im engeren Sinne? Sicherlich nicht. Zwar wird während der historischen Dreharbeiten auch ein Kampf von drei Abenteurern und vier Skeletten inszeniert, doch schließt sich der Bogen zu den dem Totentanz-Motiven so eng verbundenen Vanitas-Motiven nicht; und doch stellt sich eine Melancholie ein, die aus dem liebevoll inszenierten Blick auf historische Filmpraxis und der erkennbaren Begeisterung, mit der die Akteure ihre Arbeit machen, resultiert.

Das Beispiel möge ein letzter Beleg dafür sein, dass die historischen Bedeutungshorizonte des Totentanzes, die in seiner Entstehung so enge Bindung an das Vanitas-Motiv in der Rezeption des 10. Jahrhunderts zurückgenommen oder sogar aufgegeben wird. Es zeigt sich auch, dass die dem Walzer zugewachsene Assoziation zu den Wissen- und Erfahrungskomplexen Sexualität und Tod weitgehend zurückgenommen wurde; selbst ein Dokumentarfilm wie Im Himmel, unter der Erde - Der jüdische Friedhof Weißensee (BRD 2011, Britta Wauer), der durchgängig mit den Klängen eines Walzers von Karim Sebastian Elias unterlegt ist, nutzt die Melancholie, die vielen Walzern eigen ist, nicht aber die sexuellen Untertöne, die ihm einmal zugewiesen waren. Die noch bei Saint-Saëns so klare Anlehnung an die existentielle Feststellung der Gleichheit aller vor dem Tode, angesichts derer die Tanzerei, die zu mitternächtlicher Stunde ihre grotesken Züge zeigt, tritt ganz zurück – und der dabei verwendete Walzer wird zu einer Musik wehmütiger Trauer.

Oder sogar zu einer irreführenden Sigle, die mit der musikalischen Form kaum noch etwas zu tun hat. Vor allem im phantastischen Actionfilm finden sich Beispiele, die den „Todeswalzer“ als letztlich deskriptiven Terminus einsetzen, um den Kampf einzelner gegen eine Übermacht mehrerer zu erfassen, mit dem „Walzer“ wohl nur noch durch die Drehungen des Kämpfers verbunden; der „Todeswalzer“ aus Abraham Lincoln: Vampire Hunter (Abraham Lincoln Vampirjäger, USA 2012, Timur Bekmambetov) erweist sich als Kampfszene, in der der junge US-Präsident mit einem Kampfbeil 20 Vampire hinschlachtet, unterlegt mit drängender Actionmusik (von Henry Jackman). Auch der im Titel versprochene Totentanz in dem italienischen Geisterhaus-Film Danza macabra (1964, Anthony M. Dawson [d.i. Antonio Margheriti]) lässt sich höchstens mit dem fast 4-minütigen Walzer verbinden, der zur mitternächtlichen Gesellschaft der mordlustigen Geister erklingt (0:46ff), der sich aber eigentlich in den verzweifelten Versuchen des Helden vollendet, der tödlichen Bedrohung der Geister zu entkommen (die ihm im Film dann doch nicht gelingt).[25]

Der so fragile wie vielgliedrige Wissens- und Bedeutungskomplex „Walzer“ hat sich offensichtlich verändert. Auch wenn seine Ambivalenz bzw. die Spannung zwischen affektiver Wissensladung und den Gegenaffekten erhalten geblieben ist, sind die intertextuellen Rückbezüge auf vergangene Ikonographien und Motive der Kulturgeschichte nicht mehr wirkungsmächtig. In Sonderheit der „Totentanz“ hat seine Fähigkeit, Allegorisches aufzurufen, verloren; mit dem ihm verbundenen „Todeswalzer“ ist er heute im allgemeinen Gebrauch säkularisiert und profanisiert worden. Beider engerer Bedeutungskreis scheint sich – neben der erkennbaren Funktion, Trauer und Wehmut anzuzeigen – verschoben zu haben zu einem szenischen Bedeutungsfeld „(nicht mehr rational kontrolliertes) Handeln in größter Gefahr“ und „Handeln in Verzweiflung (im Wissen um die Todesnähe)“. Doch auch dieses ist nur These und bedarf genauerer Untersuchung – die Belege aus dem Umfeld des Films können nur Indizien sein, die es weiter auszulesen gilt.

Anmerkungen

[1]    Die Bedeutung der Befreiung von Erdenschwere und des Heraustretens aus der Lebenswelt, einer Bewegung außerhalb der Alltagswelt wird in Berlinger als ganze Kette von manchmal äußerst kurzen Walzeranspielungen hergestellt, immer im Zusammenhang mit „Fliegen“ – als die Entscheidung fällt, das Fliegen zu lernen (0:42), als Unterlegung des Sichtbarwerdens des Luftschiffs (1:08) und als signalhaftes Musikstück, als der Held nach der Explosion der Luftschiffhalle mit dem Flugzeug flieht; erst der Todesflug ist für fast drei Minuten (1:45-1:48) mit dem Strauß‘schen „An der der schönen blauen Donau“ in die Nähe eines Tanzes transformiert.

[2]    Für die visuelle Gestaltung der Sequenz war der Filmdesigner Saul Bass zuständig, der vor allem für seine Titelsequenzen berühmt war.

[3]    Auch die Titel- und Kennmusik des Films, die immer wieder aufklingt, ist eine klare Hymne auf der Heroismus der Fahrer.

[4]    Verwendet wurde Chopins Walzer op. 64 Nr. 2 in cis-moll.

[5]    Manchmal ist der scharfe Kontrast zwischen Handlung und Anmutungen des Walzers Grund für eine schockartige Distanzierung des Zuschauers von der Handlung. Ein höchst interessantes Beispiel ist Tatort: Im Schmerz geboren (BRD 2014, Florian Schwarz) – zum ersten, weil bei einem sich zum Massaker auswachsenden Schusswechsel zwischen Polizisten und Gangstern eine Instrumentalversion des Gefangenenchor-Walzers aus Verdis Nabucco erklingt; der Effekt ist noch extremer, als am Ende der Tragödie der Sohn des Kommissars erschossen wird – der Zuschauer weiß es, die Sekretärin weiß es, aber der Kommissar nicht; wie eine Kommentarstimme sind der Szene Fragmente des von Georges Delerue stammenden sentimentalischen Walzers unterlegt, die auch zur Beerdigungssequenz in François Truffauts Jules et Jim (Frankreich 1962) ertönt, wie er schon vorher Szenen reinen Glücks begleitet hatte (als Sigle der Beziehung der beiden Toten).

[6]    Sämtliche Werke für Klavier solo. 1. O.O.: Hyperion 2009, CDA66201. Die Piano-solo-Fassung des Walzers ist unter der URL: https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/818638710/1/ zugänglich.

[7]    Vgl. Mills, Moylan C.: The Three Faces of Mephisto: Film, Novel, and Reality. In: Literature/Film Quarterly 18,4, 1990, S. 255-262. Zu den Charakterzügen der Künstlerfigur vgl. Eidsvik, Charles: Tootsie versus Mephisto. Characterization in a Cross-Cultural Context. In: Film Criticism 13,3, Spring 1989, S. 13-24. Zur weiteren Vorgeschichte des musikalischen Mephisto-Motive vgl. Noeske, Nina: Versuch über das Anorganische in der Musik. Der Mephisto-Komplex und das 19. Jahrhundert. In: Böse Macht Musik. Zur Ästhetik des Bösen in der Musik. Hrsg. v. Sara R. Falke u. Katharina Wisotzki. Bielefeld: transcript 2012, S. 13-32.

[8]    Zu den marginalen Verwendungen des Mephisto-Walzers zählt das 1983 vorgestellte Arcadespiel Crystal Castles, das von Atari entwickelt und höchst erfolgreich vermarktet wurde. Es verwendete ausschließlich klassische Musik (neben dem Mephisto-Walzer Tschaikowskis Nussknacker-Suite und die 1812 Ouvertüre). Erwähnt werden muss auch der 159-minütige Ballettfilm Mayerling (Großbritannien 2009-10), der eine Aufführung des von Kenneth MacMillan konzipierten „dunklen Balletts“ (dark ballet) dokumentierte, in der Mara Galeazzi die Marie Vetsera, Edward Watson den Prinzen Rudolf darstellte. Es wurden ausschließlich Liszt-Kompositionen verwendet, darunter auch der Mephisto-Walzer.

[9]    Diese viel ältere topologische Kombination des Diabolischen und des Ekstatischen wurde in diversen romantischen Inszenierungen erprobt und bildet auch für den durch Mephisto stimulierten Tanz in der Bauernschänke den motivischen Hintergrund; vgl. dazu Brandenburg, Daniel: Tanz und Teufel. Tanzszenen in der deutschen romantischen Oper. In: Tanz im Musiktheater - Tanz als Musiktheater. Bericht eines Internationalen Symposions über Beziehungen von Tanz und Musik im Theater. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 113-122. Vgl. dazu auch Schneider, Manfred: Der Teufel als Tänzer - zu einem Motiv der Volkssage. In: Volksmusik im Alpenland. 2. Thaur/Tirol: Österreichischer Kulturverlag 1980, S. 189-214. Erinnert sei auch an Johann Strauß‘ Walzer Mephistos Höllenrufe (op. 101, 1851), der allerdings alle Anspielungen auf das Diabolische unterlässt.

[10]   Vgl. dazu insbesondere Larkin, David: Dancing to the Devil's Tune. Liszt's Mephisto Waltz and the Encounter with Virtuosity. In: 19th-Century Music 38,3, Spring 2015, S. 193-218. Vgl. zum Komplex auch die anekdotische Überlieferung der Paganini-Figur, die bis heute als „Teufelsgeiger“ bekannt ist; vgl. Fuld, Werner: Paganinis Fluch. Die Geschichte einer Legende. Frankfurt: Schöffling 2001; vgl. auch den Film Der Teufelsgeiger (BRD/Österreich/Italien 2013, Bernard Rose, mit David Garrett in der Titelrolle), in dem der Teufelspakt zumindest angedeutet wird.

[11]   URL: https://www.filmdienst.de/artikel/14727/filmklassiker-der-leopard.

[12]   In: ikonenmagazin, URL: http://www.ikonenmagazin.de/rezension/Leopard.htm.

[13]   Christina Tilmann: Adel vernichtet. In: Tagesspiegel, 21.8.2003.

[14]   Vgl. zum Film die Analyse in Hollensteiner, Stefan, in: Medien praktisch, 3, 1990, S. 38-42 [= Arbeitshilfen des Monats.], hier S. 39.

[15]   So Martin Zenck: Das Théâtre de l’Odéon wird besetzt – die Kaufhäuser brennen! Diskurse der Macht und des Körpers in den Medien und Künsten vor und nach ‘68 in Frankreich. In: Kreuder, Friedemann u. Bachmann, Michael (Hrsg.): Politik mit dem Körper, Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968. Bielefeld: Transcript 2009, S. 43-59, hier S. 56.

[16]   Vgl. Kaiser, Gert: „Der Tod und die schönen Frauen“. Ein elementares Motiv der europäischen Kultur. Frankfurt/New York: Campus 1995, S. 58-61. Der Totentanz im engeren Sinne spielt in Kaisers Untersuchung nur am Rande eine Rolle; er fasst den Motiv- und Assoziationskomplex <Weiblichkeit, Sexualität, Tod> weiter (vgl. S. 8) und nominiert mit der gespannten Entgegenstellung von <Vitalität, Tod> (S. 69) ein kulturelles „Tiefenmotiv“, das sich auf alle Begegnungen von „Mädchen und Tod“ ausdehnen lässt, damit aber auch die engere Traditionslinie der Totentanz-Motive aus den Augen verliert.

[17]   Vgl. Goodwin, Sarah W.: Kitsch and Culture. The Dance of Death in Nineteenth-Century Literature and Graphic Arts. New York [...]: Garland 1988, hier S. 141-147.

[18]   Vgl. Meier, Franz: Sexualität und Tod. Eine Themenverknüpfung in der englischen Schauer- und Sensationsliteratur und ihrem soziokulturellen Kontext. Berlin: de Gruyter 2012 [2003] (Buchreihe der Anglia. 36.), hier S. 142.

[19]   Vgl. Kaiser 1995 [16], hier S. 16 u. 117. Ob die im 19. Jahrhundert geschlossene Assoziation bis heute stabil ist, muss natürlich gefragt werden; es sei aber darauf hingewiesen, dass darauf gründende dramatische Motive wie der „Liebestod“ oder die amour fou im heutigen populären Kino immer noch Verwendung finden.

[20]   Auch in der Musik der Zeit spielt die Todesthematik eine Rolle. So gilt die Hintergrundthematik des Todes in der Musik Franz Schuberts als durchgängig umspielt – natürlich wird immer wieder das Lied Der Tod und das Mädchen genannt (1817; verarbeitet im Streichquartett Nr. 14 d-moll D 810, das unter dem gleichen Titel bekannt ist). Doch auch das Lied „Täuschung“ aus der Winterreise („Ein Licht tanzt freundlich vor mir her“) wird in dem Zusammenhang genannt, das musikalisch auf einem Walzer basiert, aber schnell seine düsteren Seiten zeigt. Vgl. dazu etwa Komma, Karl Michael: „Gib mir deine Hand“. Zu Franz Schuberts Musik vom Tode. In: International Journal of Musicology 3, 1994, S. 133-149; vgl. auch Bostridge, Ian: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. München: Beck 2015, hier S. 315ff.

[21]   Vgl. dazu insbesondere Echle, Evelyn: Danse Macabre im Kino. Die Figur des personifizierten Todes als filmische Allegorie. Stuttgart: Ibidem 2009 (Film- und Medienwissenschaft. 6.).

[22]   Vgl. Kamps, Johannes: Das Kino, der Tanz, der Tod. Filmplakate von Josef Fenneker. In: L' art macabre: Jahrbuch der Europäischen Totentanz-Vereinigung 6, 2005, S. 95-110.

[23]   Unter Verwendung eines Textes von Josef Beheimb. Der bekannte 6-minütige Animationsfilm The Skeleton Dance (USA 1929, Walt Disney) aus der Reihe der Silly Symphonies folgt dem narrativen Muster des Danse macabre grob, doch verzichtet er nicht nur auf die finale Moral von der Geschichte, sondern auch auf die Konfrontation der Skelette mit den Lebenden, transformiert das Muster vielmehr in eine Art grotesker musikalischer Revue. Vgl. zu diesem Film Kaul, Susanne: Totentanz und Zeichentrick. Filmkomik in Walt Disneys The Skeleton Dance. In: Jessica Nitsche (Hrsg.): Mit dem Tod tanzen. Tod und Totentanz im Film. Berlin: Neofelis 2015, S. 31-45. Eine ähnliche Transformation der Auftritte der Skelette in Musical- oder Revueauftritte nimmt auch der Animationsfilm Corpse Bride (Corpse Bride - Hochzeit mit einer Leiche, USA 2005, Tim Burton, Mike Johnson) vor – wie schon The Skeleton Dance aber auf Walzerrhythmen verzichtend. Auch der berühmte von Ray Harryhausen animierte Kampf der Argonauten gegen eine Skelett-Armee (in Jason and the Argonauts / Jason und die Argonauten, USA 1963, Don Chaffey) erweist sich als phantastische Kampfszene, nicht aber als Instantiation eines Totentanzes.

[24]   Es geht hier nicht nur um die Verwendung des Danse in der Begleitung von Stummfilmen, sondern auch um bewusste Anlehnungen musikalischer und filmischer Form wie in dem Tanzfilm Danse macabre (USA 1922, Dudley Murphy); vgl. dazu die genaue Analyse in Stenzl, Jürg: Zwei frühe Tanzfilme von Dudley Murphy (1897-1968). The soul of the cypress (1920) und Danse macabre (1922). In: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013, S. 9-44. Vgl. auch Simonson, Mary: Visualizing Music in the Silent Era. The Collaborative Experiments of Visual Symphony Productions. In: Journal of the Society for American Music 12,1, 2018, S. 2-36. Ein anderes filmexperimentelles Beispiel ist Norman McLarens 8-minütiger Anmationsfilm Spook Sport (Kanada 1940), der mit visuellen Mitteln dramatische und motorische Potentiale des Musikstücks auszuhorchen sucht; zwar bleiben minimale Stücke der semantischen Vorlage (Knochen, die auf Trommeln schlagen, der Hahn am Ende) erhalten, doch entfernt sich der Film vollständig von der dramatisch-semantischen Grundlage des Totentanzes. Viel näher an der Vorlage bleibt der 6-minütige Animationsfilm Midnight Dance (Irland 1996) von John McCloskey (in einer musikalischen Bearbeitung der Vorlage von Saint-Saëns durch Crispin Merrell) – hier geht es um die nachtmahrartige Heimsuchung einer jungen Frau durch den Tod.

[25]   Vgl. auch diverse Beiträge in Nitsche 2015 [23], die sich mit neueren Repräsentationen des Totentanzes etwa in Form der Gewaltchoreographien etwa Quentin Tarantinos befassen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/132/hjw20.htm
© Hans J. Wulff, 2021