Die Basilika des Hl. Antonius

Ein Kosmos von Kunst und Religion

Andreas Mertin

Was immer man an Theorien über die Welt des Heiligen und Religiösen vertritt, im Kosmos der Basilika des Heiligen Antonius von Padua wird man es wiederfinden. Man muss sich die Basilika des Heiligen Antonius als komplexe Anlage der Verwaltung und Verehrung des Heiligen und der Ermöglichung religiöser Erfahrungen vorstellen. Beim Betreten der Kirche ist einem nicht sofort klar, wie groß das Gelände ist. Erst nach und nach erschließt sich das gesamte Arsenal.

Und erst im Rück- und Überblick wird einem klar, dass man nicht nur den Reliquien und Gebeinen eines Heiligen des 13. Jahrhunderts begegnet ist – davon ist die katholische Welt ja reich gesegnet –, sondern eben auch sorgfältig komponierten theologischen räumlichen und visuellen Inszenierungen des Religiösen. Aber man begegnet auch der von den frühen Religionswissenschaftlern beschriebenen Axis Mundis, den vertikalen Brüchen in der Welt, symbolisiert durch riesige Bäume, insbesondere dem Magnolienbaum im ersten Kreuzgang.

Aber auch die moderne Computer-Welt macht vor dem Gebäude­kom­plex nicht Halt, rund um die Uhr zeichnen drei Webcams das Geschehen vor der Kirche, vor dem Grab des Hl. Antonius und vor dem Altar auf. Und so gibt es digitale Gottesdienste lange bevor die Corona-Epidemie in dieser Welt in Erscheinung trat.

Die Bedeutung des Ortes erschließt sich aber über das Grab des Heiligen Antonius. Schon über die Webcam ist es faszinierend, das Verhalten der Menschen rund um den Altar zu studieren. Vor Ort aber wird es dicht, man meint ‚das Heilige‘ mit Händen greifen zu können. Da gibt es die lokalen Pilger, die mit ihren Anliegen regelmäßig kommen. Sie zeigen ein anderes, geradezu vertrautes Verhalten mit den Gegebenheiten vor Ort. Dann sind da die Pilger, denen es darum geht, die schwarze Rückwand der Grablege mit Händen zu berühren. Dazu schreiben die Mönche vor Ort:

Dies ist die typischste Geste der Pilger, die die Basilika des heiligen Antonius besuchen. Damit wird das Bedürfnis einer konkreten Beziehung mit dem Heiligen ausgedrückt; sie ist daher eine Geste der Zuversicht und des Vertrauens, die von einem stillen Gebet im Herz begleitet wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei nicht so sehr auf die Statue oder das Bild, die in der Kirche natürlich nicht fehlen, sondern vielmehr auf sein Grab.

Und dann sind da die Kunstinteressierten, die sich weniger für die Grabstätte als für die sie umgebenden Marmorreliefs interessieren. Sie schildern diverse Wunder des Heiligen Antonius, moralische Geschichten in der Regel, die, sofern man sie in moderne Geschichten transferiert, ihren Kerngehalt behalten haben. Etwa von dem Reichen, der sein Herz an seine Schatztruhe verloren hat und deshalb ohne dieses beerdigt werden muss (was zu einer Intervention des Hl. Antonius führt, der die Ansicht vertritt, wer sein Herz dem Mammon gewidmet hat, solle nicht in geweihter Erde begraben werden). Oder vom jungen Mann, der seine Mutter heftig getreten hat und auf die religiöse Ermahnung, Vater und Mutter zu ehren, sich – der Bibel (Mt 5, 29) wortwörtlich folgend – den tatausführenden Fuß abtrennt, was der Hl. Antonius sofort wieder korrigiert: so wortwörtlich sollte Jesus nicht verstanden werden. Von den Künstlern ist das höchst dramatisch und zugleich faszinierend umgesetzt. Leider führt die durch den Ort vorgegebene Vorrangigkeit des Religiösen vor dem Ästhetischen dazu, dass man nicht genug Raum findet, um die Reliefs angemessen würdigen zu können. Hier gilt der Grundsatz: Soli Dei Gloria. Auch das kann man über die Webcam beobachten. Vor Ort aber dominieren die Glaubenszeugnisse, die erfahrene und die ersehnte Hilfe des Heiligen. Das mag manchem zu dingmagisch und veraltet vorkommen, aber wer wäre man, dies zu kritisieren? Den Menschen hilft es, mit schwierigen Situationen fertig zu werden – das ist vor Ort unmittelbar zu erspüren. Man müsste „religiös unmusikalisch“ sein, wenn man das nicht mitbekommt. Es mag sein, dass diese religiöse Musikalität in der westlichen Welt verloren zu gehen droht, weltweit lebt aber die große Mehrzahl aller Menschen diese Art der Frömmigkeit.

Den Kunstinteressierten wie den Baedekerchrist:innen erschließt sich wiederum ein ganz anderer, nämlich ein ästhetischer Kosmos, sie tauchen ein in die Welt der zunehmend selbstbewusster werdenden Kunst seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Es beginnt mit Giusto de’ Menabuoi (1320-1390), der zur Schule Giottos in der zweiten Generation gehört. In der dem Seligen Luca gewidmeten Kapelle treffen wir auf sein milde gewordenes Spätwerk.

Der Weg geht dann für beide Gruppen – religiöse wie ästhetische Pilger – weiter zur Kapelle der Schwarzen Madonna, die vor allem deshalb faszinierend ist, weil diese Madonna ganz und gar nicht schwarz ist. Woher dann diese Etikettierung? Selbst die Mönche vor Ort können nur raten. War da mal eine andere Madonna? Bezieht es sich auf ihre schwarzen Haare? Oder war die Madonna früher einmal dunkler? Man weiß es nicht, man kann nur Vermutungen anstellen.

Einen zweiten Höhepunkt erreicht der Pilgerstrom mit dem Besuch der Reliquienkapelle. Als Protestant ist man ja nicht zuletzt durch Martin Luthers Reliquienkritik zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber den Heiligen Dingen erzogen, aber dennoch entfalten diese Gegenstände eine gewisse – durchaus morbide – Faszination. Ja, vieles erinnert tatsächlich an Luthers Schilderung aus der Neuen Zeitung vom Rhein aus dem Jahr 1542, aber ist es nicht auch poetisch, wenn in einer Reliquienkapelle das Ruhekissen des Hl. Antonius aufbewahrt wird, und dieses sich als massiver Stein erweist? Zeigen da nicht auch die sammelnden Mönche eine gesunde Art der Ironie? Natürlich sind der Stimmapparat, die unverwesene Zunge, der Unterkiefer dann schon etwas körperbetonter.

Nun hat man schnell den Chorumgang umschritten und hat dabei das Zentrum, den Altarraum ausgelassen. Dieser ist gefüllt mit Werken von Donatello, die das Leben und die Wunder des Hl. Antonius zeigen. Theo-ästhetisch interessant ist das Bronzekruzifix von Donatello über dem Hochaltar, weil es in einem eigentümlichen Kontrast zu seinem früheren Kruzifix in der Kirche Santa Croce in Florenz steht. Hängt in Florenz ein „Bauer am Kreuz“, wie Brunelleschi urteilte, so nähert sich Donatello hier in der Darstellung einem geradezu perfekten Idealbild an. Wenig verspürt man vom Leiden am Kreuz, dafür umso mehr von der künstlerischen Modellierung. Ein etwas ambivalenter Eindruck. Den Lendenschurz muss man sich übrigens wegdenken, er ist eine spätere Zufügung aus der Barockzeit.

Übersehen wird von den Besucher:innen oft die Kreuzigungsdarstellung von Altichiero da Zevio in der Jakobuskapelle, vor allem deshalb, weil sie unzureichend ausgeleuchtet ist. Das ist bedauerlich. Der Auftraggeber der Kapelle orientierte sich an der im Mittelalter beliebten Legenda Aurea und ließ daher die Kapelle neben der Kreuzigung mit Bildern aus der Vita des Heiligen Jakobus ausmalen. Beauftragt wurde mit Altichiero da Zevio ein Künstler, der die täglichen Erlebnisse der Betrachter:innen mit den religiösen Geschichten kombiniert.


Die sich nun auf dem Rundgang anschließenden Kreuzgänge bilden ein eigenes Kapitel für sich. Sie haben mich an Mircea Eliades religionsphilosophische Theorien über das Heilige und das Profane erinnert, weil in zweien von ihnen so dezidiert ein übermächtiger Baum im Zentrum steht. Das Weltsystem der traditionsgebundenen Gesellschaften lässt sich jedenfalls nach Eliade zusammenfassend so beschreiben:

„a) ein heiliger Ort stellt einen Bruch in der Homogenität des Raumes dar; b) dieser Bruch ist durch eine ‚Öffnung’ symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht (vom Himmel zur Erde und umgekehrt von der Erde in die Unterwelt); die Verbindung mit dem Himmel kann durch verschiedene Bilder ausgedrückt werden, die sich alle auf die axis mundi beziehen: Säule, Leiter, Berg, Baum, Liane usw.; d) rund um diese Weltachse erstreckt sich die ‚Welt’ (‚unsere Welt’), folglich befindet sich die Achse ‚in der Mitte’, im ‚Nabel der Erde’, sie ist das Zentrum der Welt.“

Die Mönche vor Ort heben diese vertikale Orientierung noch hervor, indem sie noch 1998 eine Skulptur in den Kreuzgang des seligen Luca Belludi gestellt haben, die die Top-Down-Beziehung von Gott und Mensch extrem betont – nur dass hier der Hl. Antonius die Axis Mundis bzw. die Himmelsleiter darstellt. Seit den frühen Zeiten des Christentums wird freilich der göttliche Part in der Regel bloß durch eine Hand angedeutet. Das ist hier in einem Stil, den man sonst von Freikirchen gewohnt ist, durchbrochen worden. Aber, man muss zugestehen, dass die Besucher:innen die Skulptur goutieren, wie die polierte linke Hand des Hl. Antonius beweist, die von den Pilgern gern ergriffen und, wie ich vor Ort beobachten konnte, zudem auch in Corona-Zeiten gern geküsst wird.

Wenn man die Basilika und die Kreuzgänge verlässt und wieder auf den großen Platz vor der Kirche tritt, liegen linkerhand zwei hochinteressante Orte zum Entdecken, einer gefüllt mit Werken des 14. Jahrhunderts und einer mit Werken des beginnenden 16. Jahrhunderts. Es ist ein ziemlicher Kontrast, wenn man beide nacheinander besucht.

Das Oratorium des Heiligen Georg

Beginnen wir mit den älteren Werken im Oratorium des Heiligen Georg. Wenn man es zum ersten Mal betritt, hat man spontan den Eindruck, es handele sich um eine verkleinerte Form der Scrovegni-Kapelle. Auch hier handelt es sich zunächst um eine private Kapelle, die rundum mit Fresken ausgestattet ist. Und das Programm behandelt Szenen aus dem Leben des Hl. Georg, der Hl. Katharina, der Hl. Lucia und von Christus. Wie immer bei Heiligenerzählungen, sind die Darstellungen martialisch, der Hl. Georg wird am Rad gefoltert und enthauptet, ebenso die Hl. Katharina. Die Hl. Lucia soll zunächst ins Bordell verschleppt werden, man entzündet Feuer um sie und übergießt sie nackt mit siedendem Öl. Am Ende wird ihr der Hals durschnitten. Da kann mancher Horrorfilm nicht mithalten.

 

Ästhetisch aber ergibt sich ein durchaus stimmiges Ganzes. In Beziehung gesetzt werden alle Heiligengeschichten mit der Kreuzigung Jesu an der Frontseite der Kapelle. Altichiero da Zevio, der für all diese Fresken verantwortlich zeichnet, hat hier eine andere Darstellungsform gewählt als auf seiner Kreuzigungsszene in der Basilika des Hl. Antonius, weniger am Alltag der Menschen, als vielmehr am biblischen Text orientiert. Wir sehen Jesus zwischen den beiden Schächern (die auf dem anderen Kreuzigungsbild fehlten). Nach mittelalterlicher Vorstellung holt auf der linken Seite ein Engel die Seele als verkleinerte Leibform des reuigen Schächers Dismas in den Himmel, während auf der rechten Seite ein Teufel die Seele des uneinsichtigen Gestas zur Hölle schleppt. Eine wahre engelische Charakterkunde hat der Künstler rund um das Kreuz skizziert: vom Gebet über das Zerreißen des Gewandes, dem Aufschrei bis zur pädagogischen Geste.

Die Schule des Santo

Hat man beim Betreten des Oratoriums des Hl. Georg das Gefühl, in einer verkleinerten Scrovegni-Kapelle zu stehen, so wird man in der benachbarten Schule des Santo im Priorsaal eher an eine Dunkelkammer erinnert. Der Saal ist abgetönt gehalten und wenig Licht erreicht die Bilder. Das dient nicht zuletzt dem Schutz der Werke.

Mit dem Namen Tizian (1490-1576) assoziieren wir einen der ganz großen Maler der italienischen Renaissance und verbinden ihn zugleich mit der Stadt Venedig. Ganz am Anfang seiner Karriere aber, als er noch nicht wirklich ‚seinen‘ Stil gefunden hatte und seinem vermuteten Lehrmeister Giorgione nacheiferte, hat er in Padua in der Schule des Santo einige wichtige Bilder zum Leben und zu den Wundern des Hl. Antonius beigesteuert. Das hat noch nichts mit seiner berühmten „Maria Himmelfahrt“ in der Frari-Kirche in Venedig zu tun oder der Venus von Urbino.

Die in Padua zu sehenden Werke Das Wunder des eifersüchtigen Ehemanns, Das Wunder des sprechenden Neugeborenen sowie Das Wunder des geheilten Jünglings muss man mit seinen ‚Konkurrenten‘ in der damaligen Zeit korrelieren, etwa mit Michelangelo oder Raffael. Und im Vergleich zu ihnen ist der damals 21jährige Tizian noch im Entwicklungs- und Lernprozess seines Könnens. Dennoch sind es beeindruckende Werke, die bereits das Talent des Malers erkennen lassen und zum anderen die erzählten Wunder des Hl. Antonius plastisch werden lassen.

Ein kleines Detail am Rande: die aktuelle Stuhlreihung im Priorsaal der Schola offenbarte vieles von der hierarchischen Orientierung derer, die sie einmal betrieben. Vor Ort waren die hintersten Stuhlreihen einfache Holzstühle, dann folgten Reihen mit Lederbezug, um schließlich von gut gepolsterten Stühlen abgelöst zu werden. Die besten Stühle standen rechts und links vom Altar. Hier fühlte man sich in Zeiten zurückversetzt, als an das Zweite Vatikanum noch nicht zu denken war. Auf älteren Fotos war eine derartige Inszenierung noch nicht zu sehen, sie scheint neueren Datums zu sein.

Der religiöse Kosmos

Damit ist der religiöse Kosmos rund um die Basilika des Hl. Antonius noch nicht annähernd beschrieben. Denn es fehlen noch mehrere Institutionen wie etwa das Devotionalienmuseum“ (Museum der populären Antoniusverehrung), das Antonianische Museum oder die Multi-Media-Ausstellung.

Aber man bekommt einen Eindruck von der Komplexität der Organisation und Inszenierung und Vergegenwärtigung des Heiligen, die sich heute mit dem Interesse an der Kultur- und Kunstgeschichte und ihren Artefakten vermischt.

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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/am735b.htm
© Andreas Mertin, 2021