Kult(ur)ort Padua
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Die Scrovegni-KapelleGeburtsort der modernen KunstAndreas Mertin
Man könnte zugespitzt sagen, die Scrovegni-Kapelle verdankt sich einem Zusammenspiel von Verschuldung und versuchter Entschuldung. Der Bankier Rinaldo Scrovegni hatte als Wucherer in Padua zahlreiche Menschen in Schulden gestürzt und war daher nach Dante von Gott schuldig gesprochen und in den für Wucherer vorgesehenen dritten Ring des siebten Kreises der Hölle verbannt worden wo er nichtsdestotrotz weiterhin gegen seine Wuchererkollegen hetzt (Inferno, 17, 64ff.).
Um seines Vaters Schicksal zu lindern, stiftet Enrico Scrovegni die Kapelle, die er von den besten Künstlern seiner Zeit bauen und ausstatten lässt und der wir Giottos Meisterwerk verdanken. Zwar trägt diese Stiftung kirchenrechtlich nicht zur Entschuldung Rinaldo Scrovegnis bei (weil dieser nicht im Purgatorium, sondern im Inferno sitzt), aber man wird davon ausgehen können, dass Enrico Scrovegni die Kapelle genau mit dieser Intention gestiftet hat, seinem Vater einen Schatz im Himmel zu erwerben. Giotto stellt das jedenfalls auf dem Jüngsten Gericht in der Kapelle exakt so dar. Wir sehen auf dem jüngsten Gericht den Sohn des Wucherers Scrovegni, wie er die gerade gebaute Kapelle den Engeln beim Jüngsten Gericht übergibt. Blickt man nur auf die Übergabe-Szene, so erscheint dieser Vorgang heute als ein geradezu unerträglicher Tauschhandel. Die konkrete Darstellung muss auf einen direkten Wunsch des Auftraggebers zurückgehen, um seine Intention den Besucher:innen unmittelbar deutlich zu machen. Ich meine aber, dass es Giotto dabei nicht belässt, sondern dass er, indem er die Größenverhältnisse der dargestellten Akteure nutzt, einen Kommentar zum Ganzen abgibt. Wir sehen auf der linken Seite die „normalen“ Menschen bei ihrer Auferstehung. Und wir sehen den im Vergleich völlig überdimensionierten Rinaldo Scrovegni im Zentrum des Geschehens. Aber äußerst subtil und von den meisten Betrachter:innen vermutlich gar nicht wahrgenommen, baut Giotto ein Korrektiv in diese Darstellung ein. Denn schaut man genau hin, so ist auch Jesus Christus selbst im Bildausschnitt präsent, sehr verborgen, aber unmissverständlich. Kaum wahrnehmbar trägt eine kleine Figur das große Kreuz und ist hinter diesem nur durch einen Heiligenschein kenntlich. Jesus befindet sich damit auf einer Größenebene mit den kleinen auferstehenden Figuren auf der linken Seite und nicht auf der des Scrovegni, der sich groß macht. In der Literatur wird so gut wie gar nicht auf diese kleine und doch so bedeutungsvolle Jesus-Figur eingegangen. Das finde ich bedauerlich, denn ich glaube, dass Giotto hier ganz bewusst auf Jesaja 53 anspielt:
Wenn es zuträfe, dass Giotto hier Jesaja 53 aufnimmt, dann nähme er im Blick auf die Intentionen des Auftraggebers eine Korrektur an der zentralen Bildgestaltung vor. Er verweist darauf, dass Gott sich nicht den Herrschenden, den Ausbeutern und Geldschefflern, sondern den Verachteten und Ausgegrenzten annähert. Dem entspräche jene göttliche Ästhetik, die Martin Luther mehr als 200 Jahre später in seiner Auslegung des Magnifikat der Maria skizziert:
Das wäre zumindest eine gut verdeckte Kritik Giottos an seinem Auftraggeber. [UPDATE: Zu diesem Aspekt gibt es neue Einsichten, die hier vorgestellt werden.] Ich hatte schon im einleitenden Text auf Theodor Hetzers Studie zur Bedeutung von Giotto als Grundlegung der neuzeitlichen Kunst hingewiesen:
Jedes Bild, jedes Panel ein stimmiges Ganzes. Während Giottos Nachfolger bereits wieder in das kirchliche (allegorische) Verweissystem zurückkehren, bleibt Giotto dem einzelnen Bild treu. Jedes einzelne der Werke kann in diesem Sinn als geschlossener Kosmos wahrgenommen und aus sich heraus verstanden werden. Ich habe das vor einem Jahr im Magazin anhand von zwei Bildern aus dem Bildzyklus dargestellt und erlaube mir, das einfach noch einmal zu zitieren: Seit den frühesten Bildern des Christentums sind Künstler immer auch Interpreten des Textes. Und das zeigen sie nicht unbedingt dadurch, dass sie die Geschichte anders darstellen, sondern indem sie künstlerisch intervenieren, Perspektiven verändern, die Gesten der Handelnden einer bestimmten Raumlogik unterwerfen usw. Das heißt, sie ‚argumentieren‘ künstlerisch. Wer diese Bilder auslegen will, der sollte die Argumentation der Künstler miteinbeziehen. Auf zwei Werken von Giotto di Bondone (1266-1337) vom Anfang des 14. Jahrhunderts kann man das exemplarisch studieren. Das eine Werk ist die Auferweckung des Lazarus, die Giotto 1306 auf einem Fresko in der Capella degli Scrovegni in Padua geschaffen hat: Leicht erkennbar ist das Bild keine simple Illustration des biblischen Textes. Wir identifizieren zehn Personen mit Heiligenschein und zehn Personen ohne Nimbus. Sie sind in fünf Gruppen aufgeteilt: 1) Am Boden knieend Maria und Martha (einer byzantinischen Tradition folgend, denn nach dem biblischen Text kniet nur Maria vor Jesus), vor den beiden 2) Christus mit den Jüngern. Am rechten unteren Bildrand 3) die Grabhelfer, darüber 4) die Gruppe rund um Lazarus und schließlich 5) die beobachtenden Juden, die zu den Freunden des Lazarus und der beiden Frauen gehören. Es gibt keinen zwingenden Grund für Giotto, hinter dem Geschehen der Auferweckung einen Berg zu platzieren. Nach der dringlichen Intervention der beiden Schwestern Maria und Martha wäre angesichts der Interaktion zwischen Jesus und dem auferstehenden Lazarus der Verzicht auf den Hügel sogar naheliegender weil sich Jesu Geste dann unmittelbar auf Lazarus bezöge. In diesem Falle wäre aber aus einem kunstvoll eingeführten allegorischen Geschehen nur ein Bericht über ein historisches Wunder geworden. Die Einfügung des Hügels verändert die Bildaussage. Verbunden mit der Gestik Jesu wird daraus ein komplexer Hinweis auf Jesu eigenen Tod, auf die Auferstehung und die Himmelfahrt. Um diesen Zusammenhang verbal darzustellen, bedürfte es eines umfassenden Textes. Max Imdahl weist darauf hin, wie komplex die Zeitstruktur auf Giottos Fresko angelegt ist:
Imdahl sieht diese bildliche Maßnahme in der dem biblischen Text nicht direkt entnehmbaren vermittelnden Figur des überraschten Juden in der Mitte gegeben. Er verkörpere nicht nur das Staunen, sondern auch das Jetzt der Rede Jesu und dem Noch der Auferstehung des Lazarus. Das zweite Beispiel ist ein Fresko Giottos zur Hochzeit von Kana (Johannes 2, 1-12), ebenfalls in der Scrovegni-Kapelle. Hier reicht Giotto eine perspektivische Verzerrung um den Betrachter zu fragen, wie, wann und wo das Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein geschieht. Auf den ersten Blick und ohne vorherige nochmalige Lektüre des biblischen Textes könnte man meinen, das Bild gebe zutreffend wieder, was in der Erzählung vermittelt wird. Zwar sind für eine Hochzeit relativ wenig Menschen dargestellt. Aber wir sehen Jesus und Maria, das Brautpaar, einen Jünger (Andreas?), vier Bedienstete, die Wasserkrüge sowie den Mundschenk mit dem Wein. Gut getroffen ist die emotionale Distanz (der Raum) zwischen Jesus und seiner Mutter („Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“). Nach der Lektüre des Bibel-Textes fragt man sich, warum Giotto nach Art der Bibel in gerechter Sprache unter die Diener auch weibliche Bedienstete gemischt hat? Nun, das war auf allen Bildern aus dieser Zeit üblich. Und wer ist die nicht kenntlich gemachte Frau (Jüngerin? Brautmutter?) zwischen dem Apostel Andreas und der Braut? Unsere Raumwahrnehmung wird von Giotto zugleich nicht nur illusionistisch herausgefordert, sondern durch den Nachvollzug der subtilen Inszenierung auf eine theologische Erkenntnis hingewiesen. Zunächst aber muss der Betrachter das Bild in seine Lebenswelt recodieren, muss eine Zeitlogik und eine Raumlogik herstellen. Was geschieht wann? Was besagt der (Segens?) Gestus der Maria? Und wo genau im Raum steht die Magd vor Jesus? Direkt vor ihm, von Angesicht zu Angesicht? Oder doch irgendwie merkwürdig verrückt neben bzw. vor dem Tisch, also seitlich versetzt von Jesus? Wem gilt dann der Segensgestus von Jesus? Alles Fragen, die durch das konkrete Bild und nicht durch den Text entstehen. Da der gezeigte Raum viel zu klein erscheint, um in die verschiedene genannten Bedeutungsebenen zergliedert zu werden, öffnet ihn Giotto, indem er durch die abgeschrägte Wandborte eine größere Raumtiefe andeutet. Das schafft genau den Zwischen-Raum, den der Künstler braucht, damit Christus zwischen den beiden Mägden auf der linken Seite seinen Segensgestus vollziehen kann, der auf der rechten Seite Wasser zu Wein verwandelt. Auf beiden gerade besprochenen Fresken, darauf kommt es mir an, fordert der Künstler die Wahrnehmung des Betrachters heraus, indem er nicht einfach einen Text abbildet, sondern durch künstlerische Eingriffe (auch durch kunstvoll erzeugte Illusionen und Täuschungen) dazu zwingt, über das Geschehen und zu Sehende nachzudenken. Das ist ein Grundzug der Kunst seitdem wir begonnen haben, über sie nachzudenken. Sie schafft eine erste Illusion (über die Abbildung eines Textes oder eines Sachverhaltes), lässt sie dann als Illusion erkennen, um dann den Betrachter zu fragen, was eigentlich wahr ist, was evident ist und worüber er sich angesichts des Textes, des Sachverhaltes, des Bildes sicher ist. |
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/am735e.htm |