‚Erzkatholisch‘?!

Apologie eines Sprachgebrauchs

Andreas Mertin

Nun, da die Bundestagswahl vorbei ist und man sich nicht mehr dem Vorwurf aussetzen muss, man greife als Theologe unziemlich in diesen ein, ist es vielleicht doch angebracht, noch einmal dem Mitte August 2021 inkriminierten Wort „erzkatholisch“ zur Herabsetzung des politischen Gegners nachzugehen. Vorab sei eingeräumt, dass ich dies auch deshalb mache, weil das problematisierte Wort tatsächlich aus benennbaren Gründen zu meinem Sprachgebrauch gehört, es bisher in acht Texten im Magazin vorkam und sieben Texte dabei aus meiner Feder stammen. Der Gebrauch des Wortes war aber jedes Mal reflektiert und nicht einfach dahingesagt.

Was mich an der aktuellen Debatte im August des Jahres 2021 störte, war, dass nicht klar wurde, was oder wer eigentlich die Instanz ist, die über die Angemessenheit des Wortes „erzkatholisch“ entscheidet. Wird hier in gut identitätspolitischer Manier das Kriterium der Betroffenheit genutzt, nach dem nur Betroffene – also Katholiken – über die Angemessenheit entscheiden können? Und was wäre, wenn man nachweisen könnte, dass erzkatholisch ursprünglich ein gut katholischer oder auch neutraler Begriff gewesen ist? Inwiefern dürfen aber heute nur Katholiken respektive Kirchenvertreter über die Angemessenheit des Wortes reden? Das scheint mir in einer säkularen Gesellschaft unangemessen zu sein. Das Wort entsteht im 18. Jahrhundert – also lange vor dem bismarckschen Kulturkampf – aus der Not, dass die katholische Kirche sich für die Zeitgenoss:innen nicht mehr als monolithischer Block darstellt, sondern sich in diverse Gruppierungen aufteilt. Um diese in der Tendenz zu benennen, setzt sich seit dieser Zeit das Wort ‚erzkatholisch‘ oder manchmal auch ‚stockkatholisch‘ durch, um jene zu charakterisieren, die anders als man es beim Mainstream-Katholizismus gewohnt ist, auf Deubel komm raus die reine Lehre vertreten. Nicht der Katholik als solcher ist ‚erzkatholisch‘, wie in der jüngsten Debatte insinuiert wurde, sondern bestimmte Fraktionen im Katholizismus. Ich halte es für legitim, dies auch weiterhin kenntlich zu machen und will das im Weiteren begründen.

Wortstatistik und Wörterbücher

Zu denken gibt einem zunächst der Blick auf die Wortstatistik von erzkatholisch und Erzkatholik in Google NGram-Viewer:

Diese weist die zentralen Ausschläge in die Zeit um 1780 und um 1820, nicht(!) aber in die Zeit des Kulturkampfes zwischen 1860 und 1880, dann erst wieder in die Zeit des Nationalsozialismus und danach in die Zeit nach der Jahrtausendwende. Die gegenteilige Bildung „erzlutherisch“ kommt dagegen extrem selten vor. Es wäre nach diesen Daten unangemessen und falsch, den Wortgebrauch „erzkatholisch“ dem preußischen Kulturkampf gegen die katholische Kirche zuzuordnen. Das Wort kommt in dieser Zeit so gut wie gar nicht vor.

Der Adelung (ab 1774)

Im Adelung wird man nur scheinbar nicht fündig, aber wenn man nur das Präfix „Erz-“ eingibt, dann wird es interessant: im positiven Sinne, so der Adelung, verweise es auf das Vornehmste und Beste (wie bei Erzbischof oder Erzengel), im negativen Falle bezeichne es das Vorzüglichste im Bösen (Erzbösewicht oder Erzketzer). In beiden Fällen steigert die Vorsilbe die Bedeutung.

Der Grimm (ab 1838)

Der zweite Blick fällt in das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Und da kommt das Wort ganz selbstverständlich vor: „erzkatholisch, strengkatholisch: schon hatte sein erzkatholischer diener, blasz wie der tod, das verbotene gericht auf die einsame tafel gesetzt.“ Die Neuauflage des Grimmschen Wörterbuch verzeichnet auch das Wort Erzkatholik und verweist dazu auf Liliencron und Heinrich Mann.

Das Goethe-Wörterbuch (ab 1947)

Selbst Goethe war mit dem Wort offenbar vertraut. Unter Verweis auf den religiösen Gehalt der alemannischen Gedichte von Hebel schreibt er, „daß es uns sehr behaglich war, durch ein erzkatholisches Land zu wandern, ohne der Jungfrau Maria und den blutenden Wunden des Heilands auf jedem Schritte zu begegnen.“


Der Blick in die Archive

Schon ein erster Blick in die Buch-Archive zeigt, dass das Wort „erzkatholisch“ früher durchaus unbefangener gebraucht wurde. Die Google-Buchsuche erlaubt ja den Einblick in alte Folianten, die dieses Wort verwenden. 1776, und damit in der ersten Hochzeit des Wortes, erscheint zum Beispiel die mehr als 600 Seiten umfassende Schrift:

Litteratur des katholischen Deutschlands, zu dessen Ehre und Nutzen, herausgegeben von katholischen Patrioten. Erster Band. Coburg bey Rudolph August Wilhelm Ahl, 1776.

Offenkundig ist der Text von anonym bleiben wollenden liberalen fränkischen Katholiken geschrieben, aber wir verdanken ihm eine erste vorläufige Definition des Wortes Erzkatholisch:

Erzkatholisch heißt hier so viel als dummkatholisch, wenn nemlich ein Mensch die Gränzen der Glaubensslehre und menschlicher Meynungen nicht zu unterscheiden, oder von den Wahrheiten seiner Religion die åchten Gründe nicht anzugeben weis; unter diesen Pöbel gehören also auch viele von der sogenannten gelehrten Bank des Christengeschlechtes.

Es bedarf also nicht, wie in der aktuellen Debatte des Jahres 2021 unterstellt wurde, einer sozialdemokratisch-atheistischen Einstellung, um kritisch erzkatholisch zu schreiben. Das haben liberale Katholiken des 18. Jahrhunderts, also vor knapp 250 Jahren bereits vorgemacht, um sich von jenen abzusetzen, die sie in ihren Artikulationen dem katholischen Glauben in der damaligen Gesellschaft für nicht zuträglich hielten.

Nun gibt es im 18. Jahrhundert auch Katholiken, die das Wort „erzkatholisch“ positiv beerben.

Wenn Eichstädt unerachtet der Illuminaten, von denen es nach Ihrem Zeugnisse, mein Herr Falschbriefler, nicht verschont blieb, noch immer erzkatholisch ist, so freut es mich in der Seele, und wenn erzkatholisch, und erzjesuitisch feyn so enge miteinander verbunden sind, so freut es mich noch mehr.

Als Protestant liest man es mit Erstaunen. Bisher sind alle diese Texte von Katholiken über Katholiken geschrieben. Es gibt noch viele weitere Beispiele, etwa die des katholischen Polemikers Joseph Anton von Bandel, der 1767 über die Unfehlbarkeit sinniert und dabei diese dem Papst (und nicht der Kirche) zuweist und schreibt: „Wir, unseres Ortes, halten den ersten Sentenz, als dem Erzkatholischen, in den Worten Christi immediate begründet.“ Bei ihm ist erz-katholisch so etwas wie genuin-katholisch. 

Tatsächlich gibt es aber auch protestantische Stimmen, die schon vor 1750 von „erzkatholischen Gegenden“ schreiben. Der Hugenotte Jean Rousset de Missy schreibt über die englische Nicht-Königin Katharina von Braganza: Sie war Infantin von Portugal und folglich erzkatholisch. Und der protestantische Aufklärer Pierre Bayle bezeichnet in seinem historischen und kritischen Wörterbuch einen Herrscher als „erzkatholisch“.

Den ältesten Beleg des Gebrauchs des Wortes „erzkatholisch“ habe ich in einem konfessorischen Text des Jahres 1735 gefunden. Es ist die Schrift eines protestantischen Konvertiten aus Salzburg, der seinen katholischen Landsleuten darüber Auskunft gibt, warum er konvertiert ist:

Allein, dieweil wenig Menschen von uns den rechten Grund wissen, warum wir sind vertrieben worden, so will ich hiemit dem geliebten Leser gar kurz mit Grund der Wahrheit zu wissen machen, aus was Ursachen wir von der katholischen Kirche sind abgetreten, und durch welche Mittel wir zum evangelischen Glauben sind erleuchtet und bekehret worden: dann ich bin selber von meinen Eltern in der päpstlichen Finsternis erzogen und geboren worden, und bis auf 28 Jahr meines Alters unter dem päpstlichen Joch gewesen, denn in unserm Vaterland war nichts Evangelisch, sondern alles Erz-Katholisch

Hier, an dieser ältesten Fundstelle tritt ein kräftiger polemischer Grundton hervor, der nicht zuletzt aus dem Texttypus der Konversionsgeschichten zu erklären ist. Gleichzeit wird ‚erzkatholisch‘ hier aber nur im Sinne von ‚strengkatholisch‘ bzw. ‚ausschließlich katholisch‘ verwendet.

Erzlutherisch

Nicht unterschlagen werden soll, dass es – wenngleich deutlich seltener – auch die Formulierung „erzlutherisch“ gibt und auch – freilich extrem selten – die Formulierung „erzreformiert“. Blicken wir zunächst in das Jahr 1818, als ein Spaßvogel einen Text mit folgendem Titel ankündigt: „Auch einige Gedanken über den erzlutherischen Zölibatsapostel Kirchhoff, und seinen erzkatholischen Apologisten in der Felderschen Literaturzeitung, nebst einem Anhange über die Rechtmässigkeit der heimlichen Priesterehre, wider H. Doktor Fridolin Huber …“ Ich glaube nicht, dass der Text wirklich erschienen ist, indirekt ablesbar ist dem Titel aber eine gewisse Ironie über den inflationären Gebrauch des Präfixes „erz-bei konfessorischen Titeln.

Das wird auch bei einem anderen, etwas älteren Text aus dem Jahr 1787 deutlich, in dem Johann August Starck, ein konservativ gewordener Lutheraner, u.a. über die Proselytenmacherei schreibt. Der Text trägt den schönen Titel „Ueber Krypto-Katholicismus, Proselytenmacherey, Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der Berliner Monatsschrift gemachte Beschuldigungen, mit Acten-Stücken belegt.“ Diese Schrift ist deshalb so interessant, weil sie sich gegen die (auch von Kant bevorzugte) Berlinische Monatsschrift wendet, in der anonyme Autoren einige lutherische Protestanten des Krypto-Katholizismus bezichtigt hatten, was sie u.a. daraus schlossen, dass diese katholischen Kirchen die temporäre Nutzung protestantischer Kirchen eingeräumt hätten und darüber hinaus einen feierlichen Gottesdienst anstelle der kargen reformierten Feier gewünscht hatten. Es ist die Zeit des Freimaurertums, der Aufklärung und der großen intellektuellen Fehden. Und der Katholizismus steht in Berlin unter dem Verdacht der antiaufklärerischen Rückwärtsgewandtheit. Und im Kampf gegen den Katholizismus scheint diesen Aufklärern jedes Mittel recht. Johann August Starck sieht sich nun genötigt, gegen die Anwürfe der Berlinischen Monatsschrift Stellung zu beziehen. Immerhin 600 Seiten umfasst seine Stellungnahme und darin zeigt sich, wie heikel die Anwürfe waren. In dieser Zeit schrieb man durchaus langatmig, aber es ist ganz interessant, diese polemischen Debatten zu verfolgen. 340 Seiten braucht Johann August Starck um auf seinen eigenen theologischen Background zu kommen. Er räumt ein, feierliche lutherische Gottesdienste gefielen ihm besser als reformierte oder mennonitische Versammlungen. Genau das hält er aber für „erzlutherisch“. Und er begründet das wie folgt:

Dazu, daß mir diese nicht, hingegen aber ein protestantischer feyerlicher Gottesdienst gefällt, bin ich von Kindheit an gewöhnt. Ich bin in dem erzlutherischen Meklenburg, wie es die Monatsschriftsteller nennen, gebohren und erzogen. Mein Vater war in diesem erzlutherischen Lande ein erzlutherischer Prediger. Da ist der Gottesdienst sehr feyerlich.

Den Begriff erzlutherisch hatten demnach seine Kritiker verwendet, um die religiöse Verfassung Mecklenburgs zu charakterisieren und Starck spitzt es in einer rhetorischen Figur zu: er sei nicht nur aus einem erzlutherischen Land, sondern auch Sohn eines erzlutherischen Predigers. In den Berliner Monatsschriften war ihm direkt vorgehalten worden, heimlich Jesuit geworden zu sein. Dem tritt Starck mit der Betonung seiner starken lutherischen Prägung entgegen.

Einige Jahre später, genauer 1808, schreibt Joseph Rökl in einem Bericht von seiner pädagogischen Reise durch Deutschland: „Ein wesentliches Hemmnismittel des gemeinsamen Strebens für große Zwecke für große Zwecke der Nationalbildung liegt vorzüglich darin, dass der Hof katholisch, erzkatholisch, und das Land lutherisch, erzlutherisch, ist. Selbst das Ministerium wird der Pietistery und Herrenhutherey in einem enormen Grade beschuldigt.“

Um 1800 ist mit anderen Worten sowohl erzkatholisch wie auch erzlutherisch allgemeinverständliche Alltagssprache.


In der Literatur

In der deutschen allgemeinen Literatur wird das Wort „erzkatholisch“ dagegen überhaupt nicht oder nur als Ortsangabe zur Differenzierung zwischen protestantischen und katholischen Gegenden verwendet. Nur zwei Ausnahmen habe ich gefunden.

Herder

Bei Herder findet sich in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) eine Passage, in der er bestimmte Errungenschaften und Institutionen der Menschheit reflektiert und dabei auch zur Gerichtsbarkeit kommt. Dazu schreibt er:

In allen Reichen war die Gerichtsbarkeit erzkatholisch. Den Dekreten der Päpste und Kirchenversammlungen mußten Statuten und Sitten der Völker weichen; ja, selbst noch als das römische Recht in Gang kam, ging das kanonische Recht ihm vor.

Lichtenberg

Und in den Sudelbüchern (1764-1799) von Lichtenberg gibt es eine süffisante Bemerkung über den Zustand der Welt und der Kirche, wenn es keinen Protestantismus gegeben hätte (quasi eine Gegenvision zu „Die Christenheit und Europa“ von Novalis):

Ich möchte wohl wissen, was es geben würde, wenn ganz Europa einmal recht erzkatholisch wäre, keine Protestanten, die lächelten, und kluge Köpfe erweckten, und sich kein Pfaffe mehr zu schämen hätte, wenn alles so fortgegangen wäre wie vor einigen Jahrhunderten, so würde der Pabst göttlich verehrt, und sein Dreck nach Karaten geschätzt und verkauft worden sein, ja man hätte wohl gar die Bibel angefangen: Am Anfang schuf der Pabst Himmel und Erden.

Erkennbar ist hier erzkatholisch ein Zerrbild des Katholizismus.


„Erzkatholisch“ in der Presse

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) erlaubt noch einige andere Erkenntnisse, nämlich den Blick in ausgewählte Zeitungskorpora.

In der aktuellen Debatte des Jahres 2021 war ja behauptet worden, die Bezeichnung eines Beraters eines der Kanzlerkandidaten als „erzkatholisch“ sei ein Tabubruch, da in Deutschland in dieser Form nicht Glauben und Politik in einem Zusammenhang gebracht würden. Der Blick in die Zeitungskorpora überführt diese These schnell als falsche. Selbstverständlich war das immer schon ein Thema, vielleicht nicht unbedingt in einem Wahlwerbespot, wohl aber in der Presse selbst. 

„Der CDU-Vorsitzende und Kanzler Helmut Kohl gilt als einer der wenigen engen Freunde des konservativen und erzkatholischen Medienpatriarchen“ schreibt die Berliner Zeitung Anfang Juni 1996 und bezieht sich damit auf einen der wichtigsten Einflüsterer des Kanzlers Helmut Kohl unter explizitem Bezug auf seinen Glauben. Und 2005 schreibt die gleiche Zeitung über die italienischen Verhältnisse: „Es waren Kommentare aus dem rechtskatholischen Lager, mit dem sich der erzkatholische Fazio verbunden fühlt.“ Gut, das ist eben Italien.

Aber der Tagesspiegel schreibt 2003 auch über einen CDU-Politiker, um ihn zu verstehen, macht man „besser einen Ausflug zu seinen Ursprüngen, einen Ausflug ins Schwarze, nach Sundern im Sauerland, so erzkatholisch, so konservativ, dass man die örtlichen Sozialdemokraten eigentlich im Heimatmuseum ausstellen müsste.“

Jene Zeitschrift aber, die das Wort „erzkatholisch“ am stärksten kultiviert, ist die erzliberale ZEIT. 149 Belege umfasst der Textkorpus zwischen 1946 und 2018. Und relativ schnell wird deutlich, dass in der ZEIT „erzkatholisch“ nicht zuletzt ein Ausdruck eines Vorurteils ist, ein verstärkendes Moment der Abwertung. Wo es normalerweise für einen Journalisten reichen würde, vom katholischen Spanien, Italien, Polen, Nicaragua oder Irland zu schreiben, heißt es in der ZEIT oft „erzkatholisch“. Das ist auffällig. Auch für katholische Politiker im Ausland wird dieses Etikett oft verwendet, statt des näherliegenden „katholisch-konservativ“ oder „konservativkatholisch“. Aber auch bei deutschen Politikern wird das Etikett in Anschlag gebracht: „dieser erzkatholische Kämpfer für Sittlichkeit und Anstand, der noch vor zwei Jahren publikumswirksam gegen die Arabella-Talkshow zu Felde zog, weil in ihr am helllichten Nachmittag dargelegt worden sei, ‚wie das mit dem flotten Dreier funktioniert‘.“ Einen Unterschied zum Wahlspot der SPD sehe ich hier nicht.

Und auch die konservative Presse in Deutschland macht einen analogen Gebrauch des Wortes. Wenn die WELT einen britischen Politiker, der dem katholischen Traditionalismus nahesteht, als „Erzkatholisch. Erzkonservativ. Gnadenlos nationalistisch“ bezeichnet, dann wird eben auch hier der Glaube eines Politikers zum politischen Thema gemacht. Erst seitdem die WELT mit Vorliebe „erzkatholische“ Kolumnisten einstellt, schwindet das Wort aus dem Fokus.

Schlussfolgerung

Das hier diskutierte Wort ist nicht eo ipso abwertend oder anrüchig, kann aber je nach Kontext durchaus so gebraucht werden. In der mildesten Form bezeichnet es nur einen konsequenten Katholiken. Das entspricht der alten Bedeutung des Präfixes „erz-“. Spätestens dann, wenn der Gegensatz der Konfessionen nicht mehr im Vordergrund steht und die Ausdifferenzierung innerhalb der Konfessionen in Gang kommt, bezeichnet „erz-“ die konservative bis fundamentalistische Richtung. Die katholischen Traditionalisten im Gefolge von Marcel Lefebvre werden sehr oft als „erzkatholisch“ bezeichnet.

In einer sich als säkular verstehenden Kultur reicht es nach 1945 aus, wenn jemand explizit Wert auf seine konfessorische Bindung legt, um ihn als „erzkatholisch“ (oder analog als „Erzlutherisch“) zu bezeichnen.

Persönlich würde ich dazu neigen, Menschen katholischen Glaubens als „katholisch“ und Menschen evangelischen Glaubens als „evangelisch“ zu bezeichnen. Dort aber, wo bei einigen von diesen Menschen der Bezug auf den eigenen Glauben demonstrativ zur Abgrenzung von anderen Gläubigen oder gesellschaftlichen Gruppen genutzt wird, da würde ich von erzkatholisch oder erzlutherisch und meinetwegen auch erzreformiert sprechen. Die Frage ist natürlich, wann eine solche abgrenzende Haltung vorliegt. Ich wäre geneigt, dort, wo eine dezidierte Distanz zu Homosexuellen, Feministinnen, Muslim:innen artikuliert wird, das Präfix „erz-“ zu verwenden. Wo jemand seinen Glauben dazu nutzt, andere herabzusetzen, sie zu belügen, Unwahrheiten über sie verbreitet, da gilt es erst recht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/am736.htm
© Andreas Mertin, 2021