„... damit die Welt orientiert werden kann“

Erinnerungskulturelle und -politische Funktionen von John Rabes Nanking-Tagebüchern

Burckhard Dücker

Einleitung

John Heinrich Detlef Rabe (23.11.1882 – 5.1.1950), Repräsentant von Siemens-China in Nanjing, der chinesischen Hauptstadt von 1927 bis 1949, verfasst während seines Aufenthalts in China von 1908 bis 1938 16 literarische Manuskripte mit zumeist autobiographischem Hintergrund.[1] Unter diesen kommt seinem Tagebuchprojekt[2] Feindliche Flieger über Nanking, das er vom 21. September 1937 bis zum 26. Februar 1938 führt,[3] singuläre Bedeutung zu. Dokumentiert es doch mit dem ›Nanjing-Massaker‹ nicht nur eine zentrale Episode im zweiten japanisch-chinesischen Krieg (1937-1945), sondern auch Rabes und einiger anderer Ausländer humanitären Einsatz für chinesische Zivilisten. Rabe wählt die literarische Textsorte Tagebuch, weil er aus eigener Motivation, Wahrnehmung und Erfahrung in täglichen Aufzeichnungen von diesem Krieg, speziell von den japanischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit berichtet. Von Anfang an sieht er sich in Pflicht und Verantwortung eines Zeit- bzw. Augenzeugen, damit ist sein Tagebuch grundsätzlich sozial und historisch fundiert. Er scheint einer gewissensbasierten, moralischen Verpflichtung, einem aus Christentum und aufgeklärtem Humanismus kombiniertem Konzept praktischer Ethik zu folgen.

Denn sofort als er von der unmittelbaren Bedrohung Nanjings durch die japanische Armee erfährt, bricht er seinen Urlaub im Seebad Peitaiho ab, kehrt ohne seine Frau nach Nanjing zurück, ergreift Maßnahmen zum Schutz seiner Mitarbeiter in Privathaus und Firma und bemüht sich mit anderen Ausländern im Internationalen Komitee (19. Nov. 1937) um die Einrichtung einer demilitarisierten Sicherheitszone als Refugium für chinesische Zivilisten. Dabei haben Werte wie Menschlichkeit und Solidarität mit Leidenden für Rabe Priorität vor der Verbindlichkeit einer interessen- bzw. parteiabhängigen Ideologie. Dies macht sein Tagebuch angesichts der Tatsache, dass er 1934 aus strategischen Gründen ›Parteigenosse‹ (›Pg.‹) geworden ist, um Subventionen für Bau, Einrichtung und Unterhaltung einer deutschen Schule in Nanjing vom nationalsozialistischen Staat zu erhalten, zu einem Stück politischer Literatur. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1938 entfaltet die Ambivalenz bzw. Polarität zwischen den Anforderungen der Menschlichkeit und jenen als Mitglied der NSDAP ihre politische Wirkung. Weil er in Vorträgen in Berlin die Menschenrechtsverletzungen der Japaner kritisiert, gerät er mit der projapanischen Politik der NSDAP in Konflikt (Verbot öffentlicher Vorträge), seine berufliche Karriere erleidet einen Bruch, sein individueller Einsatz für die Weltfriedensperspektive hinterlässt lebensgeschichtliche Spuren.

In Deutschland wird Rabe erst in den 1990er Jahren bekannt.[4] 1991 erzählt Erwin Wickert in seinem Erinnerungsbuch Mut und Übermut[5] von seinem Besuch bei John Rabe und dessen Ehefrau 1936 in Nanjing und erinnert in diesem Zusammenhang auch an Rabes humanitäres Engagement in den folgenden Jahren. Daraufhin nimmt am 30. Mai 1994 Ursula Reinhardt, eine Enkelin Rabes, Kontakt mit Wickert auf, erwähnt Rabes Tagebücher und erzählt, dass die Familie wegen Rabes Mitgliedschaft in der NSDAP keine Publizität für seine Tagebücher wünschte. Von deren zeitgeschichtlicher Bedeutung – ›Zeitzeuge‹[6] und ›oral history‹[7] sind zu dieser Zeit längst als Forschungskonzepte im Zusammenhang von Forschungen zu Nationalsozialismus und Holocaust in der Geschichtswissenschaft etabliert – überzeugt Wickert U. Reinhardt, so dass er 1997 eine Auswahlausgabe der Tagebücher veranstalten kann, die Rabe schlagartig einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland bekannt macht. Feuilleton und Forschung werden auf das Nanjing-Massaker und die Bedeutung Rabes durch dessen Tagebücher als Quellentexte aufmerksam. Vermittelt durch Reinhardt erscheint in den USA eine englischsprachige Ausgabe. In China und Japan erhalten die Tagebücher aus je unterschiedlichen Gründen große Publizität.

Konstitutiv für die literarische Textsorte Tagebuch als Objekt der Erinnerungskultur ist die Selbstdarstellung des Diaristen unter den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen einer historischen Situation, wobei – allgemein – die subjektiv legitimierte Mikroebene des Diaristen die Makroebene der Weltpolitik bzw. der historischen Situation erschließt, die ohne jene ihre Anschaulichkeit entbehrte. Hätte Rabe nicht im Komitee als Chairman mitgearbeitet und sein Tagebuch nicht geführt, würde eine maßgebliche Stimme zu den zeitthematischen Vorgängen in Nanjing und ihrer Beurteilung in Deutschland fehlen, erinnerungskulturell und -politisch wäre das Spektrum zur Erschließung der nationalsozialistischen Jahre um eine Station ärmer. Wenn in zeitgenössischen Studien zum Zweiten Weltkrieg die »Massenverbrechen« z.B. in der Sowjetunion als »nicht von ›den Nazis‹, sondern von gewöhnlichen Deutschen durchgeführt«[8] beurteilt werden, dann erscheint der ›Pg.‹ Rabe weder als ›gewöhnlicher‹ Nazi noch als ›gewöhnlicher‹ Deutscher, weil er trotz seiner Parteimitgliedschaft gegen die Interessen und Bündnispolitik der nationalsozialistischen Regierung handelt und dies auch öffentlich macht. Er exponiert sich gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auf jeden Fall gilt für die Untersuchung der kulturgeschichtlichen, historischen usw. Funktionen der Tagebücher Rabes die Feststellung von Volker Zastrow (1991) über Ergebnisse der von Werner Weidenfeld geleiteten »›Forschungsgruppe Deutschland‹«, dass der Nationalsozialismus der »mit Abstand wichtigste[...] ›Referenzpunkt‹ des geschichtlichen Bewußtseins der Westdeutschen«[9] sei, d.h. Rabes Aufzeichnungen machen die Ereignisse in China zu einem Gegenstand der deutschen Erinnerungskultur: 1. Wegen seines humanitären Engagements für chinesische Zivilisten gegen die Politik der NSDAP entspricht Rabe nicht dem ›gewöhnlichen Nazi‹, der zumindest temporär die nationalsozialistische Ideologie zumeist auch praktisch unterstützt hat, sondern scheint wegen der ›Ambivalenz‹ von Parteilichkeit bzw. Ideologie und Menschenrechten eher eine Provokation für die deutsche Erinnerungskultur darzustellen, weil offenbar die moralische Eindeutigkeit des Widerstands fehlt. In der Einführung zu Minnie Vautrins Aufzeichnungen harmonisiert Lu die Ambivalenz: »Because Rabe was a German businessman and a Nazi Party member, his diaries are uniquely valuable in presenting convincing evidence about the massacre in Nanjing«.[10] In der chinesischen Erinnerungskultur nimmt Rabe einen privilegierten Platz ein. 2. Seine Tagebücher eröffnen dem Nanjing-Massaker, an dem Deutsche nicht beteiligt waren, für die Gegenwart den Deutungsrahmen möglicher genozidaler Ereignisse. Im Rahmen der aktuellen Debatte um die Vergleichbarkeit von »Massenverbrechen«[11] wie Holocaust, Kolonialismus und Genoziden könnte die Berücksichtigung des ›Nanjing-Massakers‹ naheliegen, wie Chang es mit dem Untertitel »The Forgotten Holocaust of World War II«[12] ihres Buches (1997) vorgibt. Schon während des japanisch-chinesischen Krieges wird dessen fundamentale politische Bedeutung für Europa von der »Berichterstatterin der ›Frankfurter Zeitung‹ in China« diagnostiziert, die sich dort »vom Mai 1937 bis zum November 1939« aufhält:

So viel ist sicher, daß der Endkampf um die Neugestaltung Ostasiens im Gange ist, der Endkampf um die Erneuerung Chinas und um die Hauptrichtung der japanischen Politik im nächsten Menschenalter. Wird ein Volk oder werden zwei Völker in Zukunft an der Spitze der asiatischen Nationen marschieren? – das ist die Frage, die auf den Schlachtfeldern entschieden werden soll. Für Europa wird dieser Krieg wahrscheinlich die Beendigung eines langen Zeitabschnittes der bisherigen Ueberseepolitik bedeuten: keine Vorherrschaft mehr in Ostasien, sondern nur gleichberechtigte Zusammenarbeit.[13]

Aufgrund ihres sachreferentiellen Anlasses und ihrer Entstehungszeit gehören Rabes Tagebücher zur (Literatur-)Geschichte des ›Dritten Reichs‹ und dessen politisch-kulturellem Kontext, aufgrund ihrer Veröffentlichung 1997 und der erst damit einsetzenden Wirkung gehören sie ins gesellschaftliche und literarisch-kulturelle Feld der Gegenwart. Welche Diskursfelder betreffen Rabes Tagebücher, erschließen sie der deutschen Erinnerungskultur neue Aspekte? Zunächst stelle ich Rabes Gebrauch der Textsorte Tagebuch und dessen immanente Programmatik vor, bietet es doch mehr als die Dokumentation des Massakers. Danach skizziere ich Aufbau und Schwerpunkte der Tagebücher. Im dritten Kapitel frage ich nach Kriterien des literarisch-politischen Kontexts in Deutschland, die eine Veröffentlichung der Tagebücher bis 1997 verhindern und nach Folgen dieser Leerstelle für Literatur- und Sozialgeschichte. Im vierten Kapitel geht es um die Rezeption der Tagebücher und Rabes Geltung in der deutschen Erinnerungskultur der Gegenwart.

1. Form und Struktur von Rabes Tagebuchprojekt

Die autobiographische Textsorte Tagebuch bietet dem Diaristen die Möglichkeit, seine täglichen Erfahrungen in chronologischer Folge und kausalem Zusammenhang zu dokumentieren, zu reflektieren und zu erzählen, um sie so nicht nur vor dem Vergessen zu bewahren, sondern auch als subjektiv legitimiertes Weltauslegungsangebot in den historisch kulturellen Diskurs einzuführen. In der Regel haben Tagebücher einen Anlass, sei es die Begegnung mit einer Person, eine Reise, das Exil, eine religiöse Erfahrung. Rabe führt Tagebuch, weil die militärisch-politische Konfliktkonstellation in Nanjing 1937 ihn dazu veranlasst, es ist formal ein Gelegenheits- oder Gebrauchstext, funktional der Beleg einer existentiellen Betroffenheit über Ereignisse, deren geschichtsbildende Dimension für Rabe außer Frage steht. Weiterhin mögen die täglichen Aufzeichnungen für ihn die Funktion einer reflexiven Distanznahme von den unmittelbaren Eindrücken gehabt haben.

Wenn er seine Aufzeichnungen als »Kriegstagebuch« qualifiziert, so begründet er dies mit dem japanischen Luftangriff am 22.09.1937 auf »die Verwaltung der zentralen Rundfunkstation und deren Studio [...]. Mit diesem Datum beginnt mein Kriegstagebuch«.[14] Damit hat er eine Deutungskategorie für die zu notierenden Ereignisse und seine eigene Funktion in diesem Geschehen gefunden. Autor, Erzähler (Diarist) und Handelnder (Protagonist) sind identisch. Auf der Basis dieses »autobiographischen Pakts« umfasst das Kriegstagebuch in der Form faktualen Erzählens[15] sowohl die Welt des Diaristen als auch die öffentliche Welt der Kriegsereignisse. Ein Kriegstagebuch, das grundsätzlich von militärischen Einheiten über alle Vorgänge wie ein Register geführt wird, ist als historische Quelle zur Dokumentation von Ereignissen, letztlich als Beitrag zur Genese von Geschichte, definiert.[16] So gestaltet der ›Kriegsgeschichtschreiber‹ keine fiktionale Welt, sondern bleibt gebunden an das, was geschieht, d.h. aber an das, was er davon wahrnimmt und der Mitteilung für wert hält (Gestaltung und Deutung durch selektive Mitteilung). Dies ist zum Zeitpunkt der kontextbezogenen Verschriftlichung immer schon vergangen bzw. noch nicht abgeschlossen und wird vom Diaristen nicht selten durch Kommentar oder explizite Deutung in einen zeitlich-kausalen Zusammenhang eingeordnet, so dass sich eine narrative Sinnkonstitution ergibt. Rabes Geschichtserzählung ist nicht theoretisch reflektiert, seine Wahrnehmungen schreibt er ›einfach‹ in zeitlicher Folge (Ereignisablauf) zumeist am Abend jedes Tages auf, auch weist er auf laufende Handlungen hin, deren Ausgang noch offen ist. Erleben, handeln und schreiben bilden eine Einheit. Diese Trias – Ereigniswahrnehmung, Notat, kommentierende Verortung in den historischen Prozess – bildet die Struktur von Rabes Aufzeichnungen. Dabei nimmt er die ständige Wiederholung krimineller Formate wie Plünderung, Hinrichtung, Vergewaltigung, Brandstiftung jeweils als Markierung singulären Leids für Betroffene und Hinterbliebene wahr, was sein Eingreifen erfordert. So erzählt er von seiner Fremdwahrnehmung durch die Flüchtlinge, die ihn z. B. ›lebender Buddha‹ (s. Kap. 2) nennen, d.h. Rabes ›Bild‹ und seine Geschichte werden auch von außen gemacht.

Im Krieg gibt es Freunde und Feinde, Verteidiger und Angreifer, Opfer und Täter, das Eigene und das Andere bzw. Fremde. Rabe ist in das Geschehen auf chinesischer Seite involviert, beansprucht aber als ›objektiver‹ Zeitzeuge tendenziell eine Metaposition. Er verzeichnet ausschließlich autoptisch wahrgenommene Ereignisse, dokumentiert das Spektrum seiner persönlichen Wahrnehmungen, nimmt aber auch Berichte anderer Komiteemitglieder, Medienberichte in deutscher und englischer Sprache sowie amtliche Dokumente auf. Sein autoptischer Ansatz hat zur Folge, dass er sieht, wie und wo Geschichte vollzogen wird, wie und wo Täter und Opfer sich begegnen.[17] Er scheint die Darstellung dessen für möglich zu halten, wie es wirklich gewesen ist. So nennt er Namen seiner Kollegen und Gesprächspartner, gibt Ort und Zeit von Meetings, Konferenzen und Übergriffen der Japaner an. Er markiert alles, was er wahrgenommen hat, Gerüchte kennzeichnet er als solche. Gerade die subjektive Dimension der Aufzeichnungen beglaubigt deren Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch als historische Quelle. Indem Rabe im Tagebuch dokumentiert, wie er und viele andere auf die Herausforderungen der japanischen Invasoren reagieren, gestaltet und – das heißt immer auch – deutet er seine Gegenwart, er schreibt Gegenwartsgeschichte und orientiert damit zukünftige Erinnerungen an diese Gegenwart. Insofern erfüllt sein Tagebuch wie jeder literarische Text die Funktion eines Weltauslegungsangebots. Die geradezu weltgeschichtliche Dimension seiner privaten Aufzeichnungen über das Massaker zeigt sich daran, dass er die chinesische, japanische und westliche – speziell die deutsche – Perspektive auf die Geschehnisse in Nanjing verbindet. ›Nanjing‹ als Kürzel für das Massaker der japanischen Soldaten bindet die Perspektiven der Opfer, Täter und der an – westlich definierten – universalen Werten orientierten Vermittler. In der Folge produzieren diese unterschiedlichen lebensweltlichen Perspektiven heterogene Erinnerungsbilder und -deutungen, objektiviert z.B. im Kriegsverbrecherprozess 1947 in Tokio, in der Umwandlung von Rabes Haus zum international anerkannten Gedenkort und Friedensforschungszentrum am 31.10.2006 oder in Rabes Nichtzugehörigkeit zur deutschen Erinnerungskultur bis 1997. Den Einsatz seiner Tagebücher im Kriegsverbrecherprozess 1947 in Tokio zugunsten der Anklage lehnt er ab, um sich nicht an der Rechtsprechung über Geschichte und die Verurteilung von Tätern eines anderen Landes zu beteiligen. Womöglich glaubte er, den Anforderungen eines »Tatzeugen« nicht gerecht werden zu können, während das Konzept »Zeitzeuge«[18] noch nicht eingeführt war, obwohl er es in seinem Kriegstagebuch reflektierte und mit diesem praktizierte. Wenn »Geschichte selbst justiziabel«[19] wird, indem sie an Einzelhandlungen und überlieferten Denk- und Vorurteilsstrukturen belegt wird, gewinnen besonders jene dokumentarisch detaillierten Aufzeichnungen Gewicht, wie Rabe sie hinterlassen hat.

[Der Gedenkort ist] durch Diskontinuität, das heißt: durch eine eklatante Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet. Am Gedenkort ist eine bestimmte Geschichte gerade nicht weitergegangen, sondern mehr oder weniger gewaltsam abgebrochen […] Gedenkorte sind solche, an denen Vorbildliches geleistet oder exemplarisch gelitten wurde. Mit Blut geschriebene Einträge wie Verfolgung, Demütigung, Niederlage und Tod haben im mythischen, nationalen und historischen Gedächtnis einen prominenten Stellenwert. Sie sind unvergeßlich, sofern sie von einer Gruppe in eine positiv verpflichtende Erinnerung übersetzt werden.[20]

Genau dieser Transformationsprozess gilt für das Rabe-Haus: Verweist es in der Ereigniszeit 1937/38 als Zufluchtsort auf die Gräueltaten, so repräsentiert es in der Gegenwart als Zentrum für Friedensforschung die programmatische Kontinuität der Sicherheitszone.

Wie im Tagebuch üblich, schreibt Rabe in der ersten Person Singular, er sagt ›ich‹, d.h. er konstruiert ›seine‹ Wahrheit, seine Sicht der Ereignisse nach seinen persönlichen Wahrnehmungen als Zeitzeuge. Indem er sein Leben gemäß den Ereignissen erzählt (autobiographische Dimension), gestaltet er Geschichte (historische Dimension). Seine Perspektive ist nicht die der teilnehmenden Beobachtung, sondern die dessen, der dazugehört und dazu beiträgt, dass sich die Gegenwart durch seine und die Berichte anderer Zeitzeugen[21] selbst historisch macht und sich in Tradition und historischem Prozess verortet. Obwohl bei Rabe – wie für die Textsorte Tagebuch üblich – die monologische Perspektive dominiert, fügt er auch Dialog- und Erzählpartieen ein. Er ›macht‹ Geschichte, erfindet wohl auch ritualisierte Abläufe, um der neuen Situation Struktur und den Flüchtlingen in der Sicherheitszone kollektive Identität zu geben. Weil literarische Weltauslegungsangebote zeitthematische Referenzen gestalten und deuten, haben sie prinzipiell die Funktion zeitgeschichtlicher Quellen. Daher ist von einem Verhältnis der Reziprozität zwischen historisch-sozialer Lebenswelt und deren literarischer Gestaltung auszugehen. Wie der literarische Text realgeschichtliche Phänomene integriert, analysiert die integrative Literaturgeschichte.[22] Umgekehrt sollte zur Methodik der Geschichtswissenschaft die systematische Berücksichtigung literarisch gestalteter Zeitthematik als Quelle gehören. Literatur hat einen Zweck.[23]

Rabes Kriegstagebuch plädiert für den Weltfrieden, durch Fakten und Argumente soll es von der Wahrheit dieses Narrativs überzeugen, das Friedensplädoyer soll mehrheitsfähig werden, darin kann der Zweck von Rabes Kriegstagebuch gesehen werden. Indem er auch Gerüchte – z.B. japanische Gasangriffe, chinesische Gegenangriffe – erwähnt, zeigt er, dass die Welt jederzeit veränderbar ist, weil sie historisch und interessenabhängig ist, weil sie gemacht wird. So scheint dem Tagebuch eine geschichtsphilosophische Ausrichtung immanent zu sein. Als zugehörig zur Erinnerungskultur des Zweiten Weltkriegs markiert es eine Station der Erinnerung in der Erinnerungsgeschichte des Weltkriegs. Weil Handeln nur in der Gegenwart möglich ist, ist auch Erinnerungshandeln Gegenwartshandeln. Erinnerungsgeschichte meint alle Zugriffe handelnder Personen auf Erinnerungsobjekte, seien dies Texte, Bilder, Ruinen usw., um durch die Berufung auf und die Argumentation mit der Vergangenheit ein Problem im Hier und Jetzt der Gegenwart zu lösen. So ist von Gegenwartsbewältigung durch Rückgriff auf und strategischen Einsatz von Überlieferungsbeständen auszugehen, die ›Vergangenheit‹ bleibt deutungsoffen, jederzeit kann auf sie zurückgegriffen werden, um sie in aktuellen Kontexten zu benutzen. Rabes Tagebücher gehören seit ihrer Edition zur deutschen und globalen Erinnerungskultur des Weltkriegs.[24]

Kriegstagebücher geben zumeist kein Protokoll von Beziehungen, von psychischen Prozessen oder identitätsstiftenden religiösen Erfahrungen wie Tagebücher und Autobiographien des Pietismus, Rabe thematisiert sich als darstellendes und dargestelltes Subjekt relational zu den Ereignissen in Nanjing, die der Anlass für sein Kriegstagebuch sind. Das Tagebuch dokumentiert sie und bietet für deren Erinnerung eine Serie von Kommentaren und Reflexionen. Zur vergangenheitsbezogenen Erinnerungsarbeit gehört als andere Seite die gegenwarts- und zukunftsbezogene Funktion des Appells, Kriege und Massaker zu vermeiden. 

Weil Rabe sich mit seinem humanitären Engagement in institutionell legitimierter Funktion als Chairman des Komitees gegen Japan und damit indirekt auch gegen Deutschland als Verbündeten Japans positioniert, bedeuten schon das Führen und Sichern des Tagebuchs den Vollzug von Widerstand. Indem Rabe schreibt, handelt er, er gestaltet Situationen, die als Folge seines sprachlichen Handelns deutbar werden, daher ist vom Gestus performativen Erzählens auszugehen. Dass ihm diese Konstellation bewusst ist, belegt er in Briefen an seine Frau mit Hinweisen auf die gleichsam existentielle Bedeutung der Tagebücher für ihn, die daher unbedingt erhalten und möglichst geheim gehalten werden sollen (s. Kap. 2).

Als Diarist legitimiert sieht sich Rabe durch die tägliche Konfrontation mit den Referenzereignissen. Er reflektiert die Möglichkeiten seiner Situation, seine Entscheidungen, Praktiken, Befindlichkeiten usw. in Bezug auf die tägliche Dynamik des Schreckens in der Stadt. Mit Bezugnahmen auf frühere Einträge (Analepsen) und Verweise auf mögliche künftige Entwicklungen (Prolepse) weicht er zwar vom chronologischen Prinzip ab, verdichtet aber seinen Text zum wahrscheinlichen Abbild täglicher Abläufe. So ist das Auslegungsangebot des Diaristen zu rektifizieren oder zu falsifizieren.

2. Aufbau und inhaltliche Schwerpunkte der Tagebücher

Nach elftägiger Reise trifft Rabe am 7.9.1937 aus seinem Urlaubsort Peitaiho kommend in Nanjing ein. Im ersten Tagebucheintrag vom 21.9.1937 vermerkt er, dass »alle reichen und besser situierten Chinesen« und »viele Amerikaner und Deutsche […] ebenfalls abgereist«[25] seien; damit leitet er über zur Reflexion seiner Entscheidung, in Nanjing zu bleiben. Diese immer wieder aufgenommene Reflexion bildet einen thematischen Schwerpunkt des Tagebuchs.

Ich selbst habe mir den Fall von allen Seiten in der letzten Nacht reiflich überlegt. Ich bin nicht aus Abenteuerlust aus dem sicheren Peitaiho hierher zurückgekommen, sondern zunächst zum Schutze meines Eigentums und zur Vertretung der Siemens-Interessen. Natürlich kann die Firma nicht erwarten, und tut es auch nicht, daß ich mich für sie hier totschießen lasse. Ich habe ferner auch nicht die geringste Lust, mein Leben für irgendwelche Sachwerte der Firma oder meines Eigentums aufs Spiel zu setzen; aber es gibt da einen moralischen Punkt, über den ich als ehrbarer Hamburger Kaufmann bis jetzt nicht hinwegspringen konnte. Unsere chinesischen Diener und Angestellten, mit ihrem ganzen Anhang von etwa 30 Personen sehen nur auf den ›Master‹. Bleibt er, so stehen sie treu bis zuletzt auf ihrem Posten. Das habe ich in früheren Kriegen im Norden Chinas gesehen. Läuft er fort, dann stehen die Firma und das Privathaus nicht nur verödet da, sondern sie werden wahrscheinlich auch noch beraubt. Davon abgesehen, so unangenehm das auch wäre, kann ich mich bis dato noch nicht dazu entschließen, das Vertrauen, das die Leute in mich setzen, zu täuschen. (33)

Eindeutige Priorität für Rabes Entscheidung haben vor der materiellen Sicherung des Eigentums seine moralische Einstellung und sein Ehrbegriff als Hamburger Kaufmann, den Menschen, für die er verantwortlich ist, zu helfen.[26] »Kann und darf ich unter diesen Umständen fortlaufen? Ich glaube nicht! Wer einmal, an jeder Hand ein zitterndes Chinesenkind, stundenlang bei einem Luftangriff im Unterstand gesessen hat, wird mir das nachfühlen können«.[27] Menschlichkeit und Mitleid sind für ihn quasi natürliche, emotional fundierte, fraglose Handlungsanforderungen. Täglich kommen immer mehr Flüchtlinge in sein Areal, deren Dank und Sicherheitsgefühl ihn in seiner Entscheidung zu bleiben weiter bestätigen und bestärken.[28] Seine besondere Geltung als Schutzinstanz beruht darauf, dass er für die Hilfesuchenden persönlich erreichbar und ansprechbar ist, er ist keine anonyme Institution, sondern nimmt Anteil an den vielfältigen Sorgen und ist spontan zum Zuhören und Eingreifen bereit, daher erfüllt er geradezu eine therapeutische Funktion. Auch gibt er dem Areal damit die Aura einer anderen Welt, eines sicheren Zufluchtsorts. »Mein Haus gilt als das sicherste. Wenn ich zu Hause bin, dürfte das wohl stimmen, denn ich rücke jedem Eindringling auf den Leib, aber wenn ich fort bin, ist es um die Sicherheit schlecht bestellt«.[29] Er generiert durch sein Handeln einen sozialen Raum, in dem Menschenrechte, Gleichberechtigung, Toleranz, nicht aber das Recht des Stärkeren gelten. Da er in diesem Raum auch schreibt, ist es ein Ort der Gegenwartsbewältigung und der Zukunfts- bzw. Erinnerungsgestaltung.

Interessanterweise fügt er gleich im ersten Eintrag eine politische Begründung, seinen »letzten und nicht den unwichtigsten Grund«, hinzu, der sich allerdings nur in seinem »Unterbewusstsein« melde. »Ich bin Parteigenosse der NSDAP, bin Amtswalter, vorübergehend sogar stellvertretender Ortsgruppenleiter gewesen, [was] es mir selbstverständlich erscheinen läßt, daß ich hier durchhalte«.[30] Wenn für Rabe zwischen seiner Menschlichkeit und seiner Mitgliedschaft in der NSDAP hinsichtlich der Lebensrettung chinesischer Zivilisten kein Dissens besteht, geht er offenbar davon aus, im Sinne der Partei und Adolf Hitlers zu handeln. Ihnen scheint er die für ihn selbst geltende moralische Maxime zuzuschreiben, dass die Rettung unschuldiger Menschen Vorrang vor der Durchsetzung politischer Ziele mit allen Mitteln habe.

Eine wichtige Schutzmaßnahme stellt neben der Grabung von Unterständen die folgende dar: »Im Garten ist ferner ein 6 mal 3 Meter großes Segeltuch aufgespannt, das wir mit der Hakenkreuzfahne bemalt haben«,[31] damit die japanischen Flieger Rabes Anwesen als das eines verbündeten Deutschen nicht bombardieren. Er instrumentalisiert nationalsozialistische Symbole und Insignien für die Rettung chinesischer Zivilisten vor japanischen Soldaten.[32] Auch dieses symbolische Handeln erfüllt nicht nur eine politische, sondern auch eine pragmatische Funktion: Es reagiert auf eine Anforderungssituation, verhindert faktisches Handeln der Japaner und rettet das Leben der Zivilisten. So bindet dieses Hakenkreuztuch als Erinnerungsobjekt Geschichten von Menschen, die sich bewusst darunter als dem scheinbar sichersten Ort aufhalten. Zu den Unterständen gehören die narrativen Motive Nässe, Enge, Angst. Aber auch eher private Details teilt er zu diesem frühen Zeitpunkt noch mit. »Herr Hauptmann Oehme reiste heute Abend – in die Heimat – hat mir für 60 Dollar Konserven zurückgelassen … Es hat doch auch sein Gutes, wenn jemand abreist – ich esse heute Abend Bismarckheringe aus der Dose!!!«[33]

Paradigmatisch für die weiteren Bände hebt Rabe im ersten Tagebuch seine Sorge um seine Manuskripte hervor. Er kauft sich vier Koffer, »in die ich meine selbstverfaßten 16 Bücher verpacken will«,[34] um sie zur Sicherheit seiner Frau in Shanghai zu schicken.

Den umfassenden materiellen Mangel und die völlige Auflösung gesellschaftlicher Strukturen reflektiert Rabe als Symptome von Modernisierung und modernem Krieg. »Ein moderner Krieg ist halt ein Pandemonium auf Erden, und dabei ist das, was wir hier in China erleben, vielleicht nur ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was ein neuer Weltkrieg für Europa bedeuten würde, vor dem ein gütiges Geschick uns in Gnaden bewahren möge«.[35] Offenbar deutet Rabe Modernisierung als unausweichliche Entwicklung zu einem komplexen Konflikt, der alle Lebensbereiche in Stadt und Land, Landwirtschaft und Industrie, für jung und alt, Männer und Frauen erfasst und zerstört. Um den Totalitätscharakter dieser Kriegsvision hervorzuheben, benutzt Rabe nur in diesem Zusammenhang das griechische Wort Pandemonium. Pandaemios (πανδημιοσ) bedeutet »dem ganzen Volk angehörig, im ganzen Volk verbreitet«.[36] Ähnlich gibt Georges an: »pandemus (πανδημοσ), das ganze Volk betreffend, allgemein«.[37] In einem Lexikon (1938) erscheint »Pandaimonion [gr.], Pandämonium [l.], Reich der bösen Geister, des Teufels«.[38]

Angesichts dieser – buchstäblich – jeden Einzelnen betreffenden Bedrohung gewinnt das Projekt der Sicherheitszone prominente Bedeutung, weil sie als kriegsfreier Raum, als Friedensraum, für alle chinesischen Zivilisten, die es wünschen, zugänglich ist. Nur wenige Jahre später werden in Europa gerade Wohngebiete und zivile Einrichtungen Ziele des Luftkriegs. Rabe vermerkt unter dem 19.11.1937, dass »sich eine Internationale Kommission gebildet [habe], hauptsächlich aus amerikanischen Ärzten vom Kulou-Hospital und Professoren der Nanking University, alles Missionare«. Deren Einladung zur Mitarbeit an der Einrichtung einer »neutrale[n] Zone« für »Nichtkombattanten«[39] nimmt er an, obwohl seine Überlegungen zum modernen Krieg erkennen lassen, dass er von der Möglichkeit des Status als »Nichtkombattant« – zumindest für Europa – nicht überzeugt zu sein scheint. Die weiteren Eintragungen spiegeln Rabes Einsatz für die Zone wider, er wird am 22.11. zum »Chairman« gewählt.[40] Weil die administrativen Strukturen wegen der Flucht der chinesischen Amtsinhaber nicht mehr funktionieren, übernimmt das Komitee vorübergehend als einzige noch funktionierende Institution geradezu zwangsläufig deren Aufgaben, Rabe als Chairman kommt so in die Rolle des Bürgermeisters von Nanjing.[41]

Rabe fundiert sein humanitäres Engagement in einer Geschichtsauffassung, die von der Geschichtsmächtigkeit (agency) des Einzelnen ausgeht, der bereit ist, sich zu exponieren. Gemeint sind nicht nur institutionell legitimierte Repräsentanten oder ›große‹ Männer und Frauen, die durch ihre Geschichten Geschichte machen. Vielmehr kann jede und jeder von einem gewöhnlichen Menschen zu einer historischen Figur werden, wenn sie oder er Verantwortung übernimmt. Für Rabe scheinen es weniger Strukturen als vielmehr Personen zu sein, die Geschichte machen. Vor diesem Hintergrund wendet er sich – als Einzelner – mehrmals an Adolf Hitler mit der Bitte, die Japaner zur Mäßigung zu bewegen. »Meine Hoffnung ist Hitler! […] Und ich habe immer das Gefühl, daß ich hier einfach unbedingt durchhalten muß. […] und auf meine armselige Gegenwart kommt es doch an«.[42] Zwar ist Rabe ›Pg.‹, Berlin aber ist weit, so dass in Nanjing alles auf ihn ankommt. Um die Not der Menschen zu lindern, handelt er – als Einzelner – nach dem Prinzip: »Wenn man Gutes tun kann, warum lange fragen? Die Zustimmung wird später schon eintreffen«. Er wiederholt seine Hoffnung,

daß Hitler uns hilft. Ein einfacher, schlichter Mensch – wie Du und ich . . . Es gibt keinen unter uns Deutschen oder Ausländern, der nicht fest davon überzeugt ist, daß ein Wort von Hitler, und nur von ihm, den allergrößten Einfluß zu Gunsten der von uns vorgeschlagenen neutralen Zone auf die japanischen Behörden haben würde, und dieses Wort wird er sprechen![43]

Rabes pointierte Zuversicht, die keine Kenntnis der tatsächlichen Vorgänge in Deutschland verrät, scheint eigene Zweifel an der Vereinbarkeit seiner japankritischen Strategie mit der Politik der NSDAP überdecken zu sollen. Zugleich macht er sich keine Illusionen über seine Chancen, bei Hitler etwas zu erreichen. Er entschuldigt ihn im Vorhinein, um sein Bild von Hitler zu bewahren. »Eine Antwort von Hitler kann nicht erwartet werden, da derartige hochdiplomatische Fragen wohl auf andere Weise erledigt werden. Ich erkläre indessen, daß ich die feste Überzeugung habe, daß der Führer seine Hilfe nicht versagen wird«.[44] Rabe nimmt seine Überlegungen zu Hitler immer wieder auf.

Seine tägliche Arbeit besteht in Gesprächen mit dem deutschen Botschafter Trautmann, in Meetings mit japanischen und chinesischen Vertretern, um die entmilitarisierte Zone (erst im letzten Augenblick Abzug der chinesischen Soldaten) als Selbstverwaltungseinheit zu sichern, in Komiteesitzungen und der Organisierung lebenswichtiger Güter und Transportmittel. Bis zur letzten Minute verhandelt er mit den Japanern über die Anerkennung der Zone, obwohl er nur mit geringem Erfolg rechnet. »Wir sind alle tief deprimiert«.[45]

Mit dem Einmarsch der Japaner in Nanjing am 13.12.1937 ändert sich die Situation grundlegend, um bis zu Rabes Abreise nach Deutschland in diesem Status zu bleiben. Die alten Probleme des Mangels spitzen sich zu, von nun an aber geht es unmittelbar um Leben und Tod. Im Tagebuch liest man von Leichen auf Straßen, Plätzen, in Teichen (Verseuchung des Wassers), von Hinrichtungen durch Erschießen, Bajonettieren, Ertränken im Jangtse, vor allem aber von Vergewaltigungen, Plünderungen und »offiziellen Brandstiftungen«[46] durch japanische Soldaten. »Es ist nicht mehr daran zu zweifeln, daß die Japaner die Stadt verbrennen, wahrscheinlich nur um die Spuren ihres Plünderns und Raubens zu verwischen. Gestern Abend brannte die Stadt an sechs verschiedenen Stellen«.[47] Makino diagnostiziert »die systematische Zerstörung des chinesischen Wirtschaftssystems«.[48] Immer wieder muss das Komitee oder Rabe selbst Einzelfälle durch beherztes Auftreten, durch Zeigen nationalsozialistischer Symbole und die Rufe ›Hitler‹ und ›Deutsch‹ verhindern. Rabe bedauert die Amerikaner, die diese Möglichkeiten nicht haben. Auch unbewaffnete chinesische Soldaten, Kriegsgefangene, werden außerhalb der Zone getötet. Rabe überprüft alle Vorfälle selbst (autoptisch), »damit ich später als Augenzeuge davon reden kann. Derartige Grausamkeiten dürfen nicht verschwiegen werden!«[49] Er sucht Leichenhallen auf, um die Todesursache – Krankheit, Unfall, Mord – der Aufgebahrten festzustellen.[50] Weihnachten 1937 befinden sich ca. 650 Personen in Haus und Garten Rabes und 200 000 Menschen in der Sicherheitszone.[51] »Ich bereue nicht, daß ich hier blieb, denn meine Gegenwart hat viele Menschenleben gerettet, aber ich leide trotzdem unsäglich«.[52] Bestätigt sieht er seine personalisierte Geschichtsauffassung.

Das Komitee dokumentiert alle Zwischenfälle und reicht die »Aufstellung, wie üblich, als Protest bei der Japanischen Botschaft ein«, ohne sichtbare Folgen. Rabe zieht die Bilanz: »Man will nur noch leben!«[53] Zum Neujahrsdinner in der Japanischen Botschaft hält er eine ›diplomatische‹ Rede, d.h. er spricht die Übergriffe der japanischen Soldaten nicht offen an, »aber ich hielt das im Interesse unserer guten Sache für nützlich«.[54] Auch dieses strategische Zugeständnis, das er als solches reflektiert, hat neben den konkreten Hilfsmaßnahmen und der Abwehr japanischer Soldaten als Teil von Rabes Handlungskonzept zu gelten. Er handelt nicht gegen sein Gewissen und Ziel, sondern zeigt sich flexibel.

Positiv erwähnt werden Selbstverständlichkeiten. »Ich stelle mit Genugtuung fest, daß der tote chinesische Soldat, der sechs Wochen vor meiner Tür lag, jetzt endlich bestattet ist«, d.h. aber bestattet werden durfte. Am 04.02. bestätigt Rabe wieder seine Intention, Geschichte zu machen, indem er aufschreibt, was (nur) er wahrnehmen kann. Er ist sich bewusst, dass es um weltgeschichtliche Dimensionen geht.

Heute muß ich Wache schieben, das heißt, ich muß mein eigenes Flüchtlingslager, die hinter mir liegende Deutsche Schule mit 600 und die vor mir liegende Mittelschule mit 5000 Flüchtlingen im Auge behalten. Viel ausrichten werde ich nicht können, wenn die Japaner gewaltsam eindringen, aber ich kann wenigstens dabei sein und mir die Sache ansehen, damit die Welt orientiert werden kann.[55]

Immer häufiger erwähnt Rabe im Januar und Februar 1938 seine körperliche Anspannung, das Nachlassen seiner Leistungsfähigkeit, gewiss auch Folge seiner chronischen Diabeteserkrankung und seine allmähliche Zustimmung zur Heimreise. Seinem Tagebuch vertraut er seine psychischen Probleme an, nach außen lässt er sich nichts anmerken.

Einem wird übel, wenn man immer wieder derartige Berichte von Augenzeugen erzählt bekommt. Man sollte meinen, daß die japanische Armee aus entlassenen Sträflingen zusammengestellt sei. Normale Menschen können nicht derart vorgehen! // Wir degenerieren hier alle. Wir verlieren unser Rückgrat, unsern anständigen Charakter! // Ich bin tatsächlich etwas chinamüde momentan; aber ich kann hier doch nicht fahnenflüchtig werden![56]

Wenn Rabe sich selbst mit Wendungen wie »nicht fahnenflüchtig werden« oder ›Durchhalten‹ motiviert, so lassen diese militärischen Ausdrücke ein Selbstbild im Sinne des preußischen Dienstverständnisses erkennen, wohl eine Folge seiner Sozialisierung im Wilhelminismus. Am 27.1.1938 gedenkt er ›Kaisers Geburtstag‹.

Heute ist Kaisers Geburtstag. Ein kurzes Gedenken wird auch wohl einem Nazi nicht schaden. Wer unter des Kaisers Regierung geboren ist, hat ihn doch noch nicht ganz vergessen. Ich ersehne die Zeiten, aber nicht den Kaiser zurück; denn Hitler ist mir lieber, aber wie gesagt: Die Erinnerung läßt einen nicht los, denn mit dem Tag erscheinen die Geister so vieler Verstorbener, die an Kaisers Geburtstag so froh und stolz in ihren bunten Uniformen zur Parade antraten. Staub und Asche sind sie alle, oder doch beinahe alle. Möge ihnen die Erde leicht sein![57]

In diesen knappen Hinweisen klammert Rabe ausnahmsweise die Realität des Massakers aus, weil es offenbar um das Format einer Identitätserzählung als Rahmen geht, die das Subjekt privilegiert. Erinnerungspraktisch scheint sich Rabe dem Kaiserreich zuzuordnen, dem er seine prägenden Erfahrungen wie Schulzeit, Berufsausbildung, Auslandserfahrungen, Heirat, Familiengründung, Ansiedlung in China verdankt. Wenn er das Kaiserreich als Sehnsuchtszeit verinnerlicht, so scheint sein Bekenntnis zu Hitler eher eine Schutzbehauptung für den Fall zu sein, dass sein Tagebuch in ›falsche‹ Hände geriete. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man Rabes bloß formalen Hinweis auf den 5. Jahrestag der ›Machtergreifung‹ Hitlers mit seinem Gedenken an ›Kaisers Geburtstag‹ vergleicht. Im Rahmen eines Dinners mit deutschen Freunden, das offenbar nicht aus diesem Anlass stattfindet, heißt es lapidar: »Wir senden dem Ortsgruppenleiter, Dr. Lautenschlager, ein Telegramm anläßlich des heutigen fünften Jahrestages der Machtergreifung Hitlers«.[58] Weiter privilegiert Rabe ›Kaisers Geburtstag‹ dadurch, dass er gerade an diesem Tag seine Nanjinger Tagebücher[59] mit Hilfe des englischen Konsuls an seine Frau nach Shanghai schickt; im Begleitbrief gibt er Hinweise zum Umgang mit den Aufzeichnungen:

Was ich Dir heute schicke, enthält die Zeit vom Tage der Abfahrt der Kutwo von Nanking bis gestern – also die Hauptsache. Die Blätter sind für Dich geschrieben. Ich werde sie später einbinden lassen. […] Falls Du irgendwem die Bücher oder Teile davon zu lesen geben willst – das bleibt Dir überlassen. Veröffentlicht darf nichts werden ohne die Erlaubnis der Partei. Darüber müßte also erst Herr Lahrmann gefragt werden in Shanghai. Ich glaube aber, es ist besser, Du läßt nichts veröffentlichen, bis ich dort bin, denn ich bezweifle sehr, daß das Reich dazu seine Erlaubnis gibt. Außerdem ist das Buch, wie ja alle meine Bücher, nicht direkt für die Öffentlichkeit geschrieben, sondern für Dich beziehungsweise für die Familie.

Rabe ist sich über die politisch deviante Dimension der Texte im Klaren und macht sich keine Illusionen über deren Veröffentlichung, was der Gültigkeit seines Glückwunsches zur ›Machtergreifung‹ Hitlers widerspricht. Wohl die geradezu existentielle Bedeutung der Tagebücher und deren mutmaßliche Bedrohung durch die Partei veranlassen ihn, nur einen Tag später, am 28.1.1938, seine Frau zu bitten, ihm die Ankunft der Bücher sofort unter Codewort mitzuteilen: »Bugan – Bücher gut angekommen«.[60] Schon im Brief vom 30.12.1937 erkundigt er sich nach dem Schicksal seiner auf der ›Kutwo‹ gelagerten Bücher (s. Anm. 59). Dass Rabe mit seiner Einschätzung recht hat, zeigt sich schon kurz nach seiner Abreise. Im März 1938 eröffnet der ›Ostasiatische Beobachter‹ eine Serie mit Auszügen aus den Tagebüchern. Der »Leiter [der] Landesgruppe China der NSDAP, Siegfried Lahrmann, stellte dem Tagebuchauszug [ein] Geleitwort voran, das Rabes Rettungstat für die Deutschen in China als besonderes Vorbild würdigte«.[61] Daraufhin wird Lahrmann zur Einstellung der Serie verpflichtet und im Juni 1938[62] – als Rabe in Deutschland seine Vorträge hält – zur strikten Befolgung der Japanpolitik Hitlers. Rabes weltgeschichtlich orientierte Tagebücher erreichen vorerst kein Weltpublikum.

Nachdem er aus Anlass des chinesischen Neujahrsfestes am 31.1.1938 als ›Lebender Buddha‹ (Living Buddha) geehrt worden ist, folgen im Februar ergreifende Abschiedsinszenierungen von Flüchtlingen, die ihn angesichts der anhaltenden Notlage zum Bleiben bewegen wollen.[63] Einzelne Komiteemitglieder und die Botschaften geben Abschiedsempfänge für Rabe.

Betrachtet man die Tagebücher insgesamt, so ergibt sich das Bild eines von seiner moralischen Mission Überzeugten, allen Menschen in Not zu helfen, unabhängig von jeder Interessenpolitik. Daher ist es für ihn keine Frage, auch gegen die Ziele seiner Partei zu handeln, deren Insignien funktional einzusetzen und dafür die Konsequenzen zu tragen. Seine humanitäre Praxis ist ihm Sinngebung seines Lebens. Indem er sich für Harmonie und Ausgleich zwischen den Konfliktpartnern einsetzt, zeigt er ein ziviles Pflichtbewusstsein. Kulturgeschichtlich und handlungsstrukturell mag die Tradition jener Positionen aufgerufen sein, für die religiöse Orientierungen oder universale Werte Priorität haben vor politischen Anordnungen. Für seine Konsequenz wurden Rabe öffentliche Auftritte und die Werbung für seinen Friedensplan verboten, beruflich wurde er zurückgestuft.

In seinen Tagebüchern gestaltet Rabe ›sich‹ keine Gegenwelten der Literatur, Musik, Kunst, Natur, Kindheit, die er als Fluchträume zur Kompensation der täglichen Erfahrungen des Massakers aufsuchen könnte. Er bleibt ausschließlich bei der Dokumentation, Kommentierung und Reflexion der Ereignisse. Mit seiner Friedensprogrammatik und der »Geschichte des Leidens der Zivilbevölkerung«[64] macht er ein Angebot über ›Nanjing‹ hinaus, denn Nanjing ist einmalig, Massaker sind es nicht.

Weil er Ort und Zeit der Übergriffe und die Straßen, die die Sicherheitszone umgrenzen, nennt, sind seine Angaben nachvollziehbar und überprüfbar. Diese topo- und chronografischen Hinweise erlauben es, die »Großstadt als Text«[65] zu lesen. So werden beim ›International Peace Hiking‹ in Nanjing am 30.11. 2019 die Erinnerungsorte vergegenwärtigt.

3. Rabes Tagebücher – Literatur für die Schublade?

Bis 1945 muss Rabe Nachteile für seine humanitäre Haltung, für Menschlichkeit und Solidarität mit den Leidenden hinnehmen, danach für seine Parteimitgliedschaft. Im Krieg wird er nicht öffentlich zurecht gewiesen, weil dies auch den japanischen Kriegsverbrechen Öffentlichkeit verschafft hätte, nach 1945 wird er nicht öffentlich für sein humanitäres Engagement anerkannt, weil dies womöglich eine Relativierung nationalsozialistischer Orientierung und Verbrechen hätte bedeuten können. Seine Tagebücher kann er weder vor noch nach 1945 veröffentlichen und auch nicht in das Diskursgeschehen um die sozial-kulturelle Neuordnung in Deutschland und die Formung des Konzepts Zeitzeuge einbringen.

In seinem Berliner Tagebuch (24.04.1945 - 07.06.1946) erzählt Rabe vom umfassenden System- und Kulturwandel der Übergangszeit vom Kriegsende zur »neuen Zeit«, wie er ihn in seiner begrenzten Erfahrungswelt subjektiv wahrgenommen hat. Während er das Nanjinger Tagebuch vor Repräsentanten der NSDAP verbirgt, hält er dieses Tagebuch vor russischen Soldaten im besetzten Berlin geheim. »Ich schreibe diese Zeilen in Hast und Eile im halbverdunkelten Zimmer«.[66] Wieder geht es um eine zentrale lebensgeschichtliche Phase, an deren Anfang als Anlass der Aufzeichnungen der Einmarsch der Roten Armee in Berlin-Siemensstadt steht und deren Endpunkt Rabes Entnazifizierung im Berufungsverfahren markiert. Als ein Symptom der »neuen Zeit« diagnostiziert er die Institution der »Zwangsarbeit«, von der er allerdings durch ärztliches Attest befreit ist. »Ich brauche also jetzt nur zu leben, nur durchzuhalten«,[67] wieder benutzt er die preußisch geprägte Vokabel, um die Härte der Anforderung und seinen Willen, ihr zu genügen, zu bezeichnen.

Fragt man nach soziopolitischen Koordinaten, die Rabes produktive Integration in und Teilnahme an der Normalisierung und Veralltäglichung der neuen Zeit verhindern, so scheinen die Institutionen der Entnazifizierung und ›re-education‹ als Basis neuer Normativität eine Rolle zu spielen. Beide gehen von einer besonderen Nähe ihrer Referenzpersonen zum NS aus, die in eine demokratische Einstellung verändert werden soll. Rabe wirkt vom 12.7. bis 7.8.1945 als Erster Dolmetscher »im Hauptquartier der englischen Militärregierung«, wird dann aber als ›Pg.‹ entlassen, geht am 1.10.1945 bei Siemens in Pension und erhält am gleichen Tag einen provisorischen Anschlussvertrag als Dolmetscher.[68] Als Ziele von ›denazification‹ und ›re-education‹ gelten einerseits, »daß alle dem NS verwandten organisatorischen Strukturen und individuellen Einstellungen ausgelöscht«[69] und aus dem öffentlichen Bereich entfernt werden, andererseits dass demokratische Werte wie »Toleranz, soziale Verantwortungsfähigkeit und partnerschaftliche Familienbeziehungen«[70] vermittelt werden. Acht Kriterien erlauben die Identifikation eines nationalsozialistisch Belasteten, auf Rabe treffen sie alle nicht zu.[71] Im Gegenteil hat er die demokratischen Werte schon in Nanjing praktiziert und ist dafür mit dem chinesischen ›Blauer-Jade-Orden‹ und dem ›Orden des Internationalen Roten Kreuzes‹ in Deutschland ausgezeichnet worden.[72]

Rabes Moral- und Ehrauffassung erlauben es ihm nicht, seine kurze Verhaftung durch die Gestapo einzusetzen, um von den Vorteilen als »politischer Häftling« zu profitieren, da er ›Pg.‹ gewesen sei. Auch wisse in Deutschland kaum jemand etwas von der Notwendigkeit humanitären Engagements in Nanjing 1937/38.[73] Dort hätte man von den »Grausamkeiten«[74] der SS nichts gewusst. Hätte man ihn zum Chairman des Komitees gewählt, wenn man ihm nicht vertraut hätte, fragt er. Am 17. April 1946 wird sein Antrag auf Entnazifizierung abgelehnt, weil er »vorübergehend stellvertretender Ortsgruppenleiter der NSDAP in Nanking [war] und […] ein Mann meiner Intelligenz hätte nicht der Partei beitreten dürfen«. Daher darf er seit dem 3. Mai »offiziell nicht mehr im Siemens-Büro arbeiten«,[75] er macht ab 31. Mai Homeoffice. Schließlich wird seine Entnazifizierung in der Berufungsverhandlung am 3. Juni anerkannt, weil sein Parteieintritt 1934 sachlich notwendig (Bedingung für Subventionen für die Deutsche Schule) war, weil »von den schädlichen Zielen und der verbrecherischen Tätigkeit der NSDAP […] den Deutschen in China nichts bekannt« war, weil er »auf Bitten der Amerikaner und Engländer […] Vorsitzender der Sicherheitszone« wurde und »als solcher wahrscheinlich [hat] vermeiden können, dass diese Sicherheitszone von den Japanern bombardiert wurde«, weil er für seine Rückkehr nach Deutschland »das britische Kanonenboot ›Bee‹ als Ehrengast bis Shanghai benutzen« durfte, weil er in Berlin in Vorträgen »über die unmenschliche und terroristische Kriegsführung der Japaner« informiert hat und »darauf von der Gestapo verhaftet [wurde], die ihm die weitere Tätigkeit auf diesem Gebiete untersagte«. Alle diese Angaben werden von nicht belasteten Zeugen bestätigt, vor allem die Unkenntnis in China über die »imperialistischen Ziele der NSDAP«. Besondere Anerkennung findet die »von dem Appellanten gezeigte[] menschliche[] und soziale[] Einstellung«.[76]

Als soziokulturelle Leitbegriffe für die Neuordnung, die Selbstverständigung der Überlebenden und eine neue Normativität spielen ›Stunde Null‹ und ›Trümmerliteratur‹ eine wichtige Rolle. Mit ›Stunde Null‹ wird der Neuanfang gedeutet, der unbelastet sei von ideologischen und personellen Hypotheken und Kontinuitäten des NS, ein nicht wirklich tragfähiges Konzept, weil es eine Situation ohne Tradition und historisches Fundament behauptet. Im literarischen Feld bezeichnet die Stunde Null eine Konstellation, die die Literatur des Exils, der inneren Emigration und der sog. Jungen umfasst, d.h. jener, die nach dem Krieg überhaupt erst zu schreiben beginnen. ›Trümmerliteratur‹ hat eine deskriptive und eine appellative Bedeutungskomponente. Nicht nur materiell, auch intellektuell, moralisch und sprachlich sei etwas an sein Ende gekommen, ein anderes Wertmuster müsse gefunden werden. Die Trümmer müssen weggeräumt, die Situation muss gereinigt werden, damit neues soziales Leben möglich werde. Für die neue Zeit hätten die einfache, eindeutige Sprache von Rabes Tagebuch und seine subjektiv legitimierte Weltdeutung, die Wahrheit seiner geschichtsbildenden Gestaltung, womöglich hilfreich sein können, weil sie sich von der Deutungshoheit der NSDAP nicht hätten einschränken lassen.[77]

Überdies ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich für Rabes Tagebücher und ihren Friedensappell in den 1950er Jahren die Chance geboten hätte, im Rahmen der Kriegs- und Antikriegsliteratur, der Diskussion um Wiederbewaffnung, allgemeine Wehrpflicht, Abrüstung und die Atombombe gehört zu werden. Als mögliche Rezeptionsforen für Rabes Programmatik sind auch die zahlreichen kirchlichen, gewerkschaftlichen usw. »Gesprächskreise« zu berücksichtigen, nach van Laak »Oasen der Besinnung«[78], was immer auch Entwurf und Aushandlung neuer Positionen einschließt. Beziehungen zwischen Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues (1929) und Rabes Friedensprogrammatik sind leicht nachzuweisen, da beide eine pazifistische Tendenz vertreten.[79] Wenn Rabe die »Brutalität und Bestialität der japanischen Soldateska« diagnostiziert und resümiert, dass es sich um eine »Armee aus entlassenen Sträflingen«[80] handeln müsse, liegt der Vergleich mit dem Satz »Soldaten sind Mörder« nahe, den Kurt Tucholsky in einem Artikel der Zeitschrift ›Die Weltbühne‹ (1931) prägt. Dieser Satz, der zum Motto pazifistischer Richtungen wird, löst über Jahrzehnte eine Kette von Skandalen und Prozessen mit katalysatorischer, erkenntnisfördernder Wirkung aus.[81]

Nicht nur ist Rabes Tagebuch bis 1997 nicht bekannt, auch das Massaker in Nanjing wird bis zu diesem Jahr in intellektuellen und literarischen Diskursen in Deutschland kaum thematisiert. Zu fragen ist, warum z.B. Uwe Johnson im zweiten Band seiner Jahrestage (1971) die Chance zur kontextuellen Erinnerung nicht genutzt hat, wenn er schreibt: »Die Japaner haben Hankau eingenommen und besetzt«.[82] Keine Angabe zum historischen Kontext, kein Hinweis auf das zuvor erfolgte Massaker in Nanjing und auch nicht auf Rabe erläutern diesen Satz.

In autobiografischen Aufzeichnungen erinnert Wolf Schenke an Rabe, indem er eine Meldung aus ›Die Welt‹ vom 07.08.1947 zitiert, dass der Bürgermeister von Nanjing einen Deutschen suche, der vielen Menschen während des Massakers das Leben gerettet habe. Daraufhin stellt ein »ehemaliger China-Deutscher«[83] John Rabes Wirken in einem umfangreichen Leserbrief vor und teilt auch Rabes Berliner Adresse von 1947 mit. Offenbar haben diese Informationen keine öffentliche Aktualisierung der Erinnerung an Rabe ausgelöst.

Als ähnlich folgenlos erscheint ein weiterer Hinweis auf den japanisch-chinesischen Krieg. Im Kursbuch 122/1995 heißt es, dass nach Meinung der Chinesen »die Ausländer dem Reich der Mitte nur Böses [wollten]. Kein Historikerstreit wird die Verbrechen etwa der klassischen Imperialmächte oder der Japaner zwischen 1937 und 1945 in ein gefälliges Licht rücken können«.[84]

Rabe scheint sein Tagebuchprojekt nach Kriegsende nicht mehr erwähnt zu haben. Vielleicht fürchtete er nach seinen Erfahrungen mit der Entnazifizierung aufgrund seiner Bekenntnisse zu Hitler ein Glaubwürdigkeitsproblem. Dass er in China als ›living Buddha‹ gilt, sich in Deutschland aber in der sozialen Position eines »›Pariah‹ oder Outcast«[85] sieht, ist für ihn nicht zu vereinbaren.[86] Durch Spenden aus China ermöglichte Lebensmittelsendungen sichern nicht nur das physische Leben der Familie Rabe, sondern haben für John Rabe vor allem die Funktion persönlicher Anerkennung. Seine angegriffene Gesundheit, seine untergeordnete Tätigkeit bei Siemens und beengte Wohnverhältnisse scheinen ihn in eine grundsätzlich resignativ-depressive Haltung versetzt zu haben. Für seine Familie hatten die Tagebücher keinen singulären historischen Wert, sondern waren eine ständige Bedrohung. Rabes Enkelin Ursula Reinhardt schreibt am 30. Mai 1994 an Erwin Wickert: »Jahrzehntelang habe ich gewünscht, diese Tagebücher existierten gar nicht. Ich habe sie weder gemocht noch gelesen, wie sie da jahrelang auf dem Bücherbrett standen, und ich habe gedacht, die Nazis oder die Russen könnten uns erschießen, weil sie politisch explosiv waren«.[87] Für diese Einschätzung persönlicher Betroffenheit mögen die Prozesse gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher seit den 1940er Jahren zu berücksichtigen sein.

4. Rezeptions- und Erinnerungsformen seit 1996

Mit der Gedenkfeier für John Rabe am 12.12.1996 in New York, die von der »Alliance in Memory of Victims of the Nanjing Massacre«[88] veranstaltet wird, setzt weltweite Aufmerksamkeit für ihn ein. U. Reinhardt stellt bei dieser Gelegenheit die Persönlichkeit ihres Großvaters vor und präsentiert seine Tagebücher. Da Rabes Mitgliedschaft in der NSDAP von Anfang an nicht verschwiegen wird, prägt die Polarität von Nazi und humanitärem Engagement das Bild Rabes, wofür in der New York Times die Wendung vom ›chinesischen Schindler‹ zu lesen ist. Definitiv geplant sind zum Zeitpunkt der Gedenkfeier Veröffentlichungen der Tagebücher in USA, China, Japan, Deutschland. David W. Chen informiert in seinem Artikel über Rabes Biographie und humanitären Einsatz in Nanjing, so dass Rabe als historische Figur eingeführt ist. Iris Chang sei die Entdeckung der Tagebücher zu verdanken. Diese seien »a rare third-party account of the atrocities«. Zur allgemeinen Kennzeichnung des wissenschaftlichen Werts dieses Tagebuchs als historische Quelle heißt es, dass es »is valuable not so much for revealing new historical facts, but because it provides an unusually detailed and personal account from a German witness to an incident considered among the most brutal in modern warfare«. Der Vergleich mit Oskar Schindler stamme von Iris Chang: »›John Rabe is the Oskar Schindler of China, another example of good in the face of evil‹«. Aber auch auf die für manchen unverständliche Ambivalenz zwischen ›Pg.‹ (»a Nazi loyalist«) und seinem Engagement für die chinesischen Zivilisten (he »risked his life und his status to save people«) wird hingewiesen und damit ein Gegenstand sozialer und historischer Diskurse eröffnet. »Mr. Rabe's outspoken support for the Chinese upon his return to Germany appears to have ruined his career«.

In einem zweiten Artikel vom 15.12.1996 stellt Chen Rabe in den Diskurskontext von »Schindler's List and Hitler's Willing Executioners«.[89] Rabes Text sei »a counterweight to Japanese efforts to whitewash the Nanking episode«, heißt es hier. Damit werde das »rich paradox« als zentrale Diskursfigur privilegiert: »an unarmed Nazi – a standard-bearer for notions of racial superiority – was defending Asians against the brutal army of a country edging closer to Germany as world war approached«. Mit diesem Auslegungsangebot eröffnet Chen die Mitteilung von Tagebuchauszügen in Übersetzung, wozu auch Rabes Brief an Hitler gehört.

Zunächst orientiert sich die Rabe-Rezeption an der Studie von Iris Chang The Rape of Nanking. The Forgotten Holocaust of World War II (1997, dt. 1999), die ihn in die Erinnerungskultur von Holocaust und Zweitem Weltkrieg integriert. Für diese Deutung hat die Verfasserin die Tagebücher Rabes, Aufzeichnungen anderer Zeitzeugen wie Christian Kröger und George Fitch sowie Informationen von Reinhardt ausgewertet. Changs Text verdichtet die Zeitzeugenberichte zu einer Folge von Fallbeschreibungen mit entsprechenden Fotodokumenten.[90] Eine z.T. einseitig japankritische Ausrichtung Changs sowie sachliche Fehler ihrer Studie deckt der Japanologe Gerhard Krebs in seinem Rezensionsartikel Nanking 1937/1938 auf.[91] Allerdings scheint Krebs' eigene Argumentation nicht frei von Widersprüchen zu sein. [92]

Irmela Hijiya-Kirschnereit, auf die sich Krebs für die Behauptung über die japanische Belletristik beruft, beginnt ihren Beitrag 1997 über Gestaltungen des Massakers in der japanischen Literatur mit dem Hinweis auf Rabe und seinen aktuellen Beinamen: »Im Frühjahr [1997] wurde die Geschichte von John Rabe bekannt, dem ›Oskar Schindler von Nanking‘«. Obwohl in Japan »zumal prominente Politiker einen Feldzug gegen die 'Nanking-Lüge' führen«, sei auch in Japan die Erinnerung noch lebendig, aber besonders »in der Belletristik werden diese Erfahrungen aufbewahrt«. Sie stellt die Erzählung Päonien (1955) von Yukio Mishima (1925-1970) vor, der von einem Oberst erzählt, der für die von ihm selbst »'genußvoll' und 'mit Bedacht'« getöteten 580 chinesischen Frauen ebenso viele Päonien pflanzt, um sich an den Blumen zu erfreuen. Obwohl im Text der Begriff ›Nanking-Massaker‹ gebraucht werde, sei nicht bekannt, »daß diese Erzählung seinerzeit wegen ihrer Thematik größere Aufmerksamkeit erregt hätte«. Dagegen müsste der Autor »heutzutage«, also 1997, »mit ernsthaften Drohungen der Geschichtsrevisionisten und ihrer Handlanger rechnen«.[93]

Rabes Dokumentation und Deutung des Massakers haben ihm und seinem Tagebuch hohe Aufmerksamkeit und Anerkennung verschafft. Entsprechend seiner trinationalen Referenzen scheint Rabes Text im wissenschaftlichen Feld zum Themenbereich China, Deutschland, Japan als Quelle standardmäßig berücksichtigt zu werden. Kuhn geht in seiner Studie zum ›Zweiten Weltkrieg in China‹ ausführlich auf das Massaker ein, er spricht von »Säuberungs- und Ausrottungsaktionen im Stadtgebiet«, deren »Durchführung General Matsui seine[n] Truppen«[94] auferlegt habe. Der Sinologe Kai Vogelsang widmet in seiner Studie ›China und Japan‹ der Eroberung Nanjings ein Unterkapitel. Dafür stützt er sich auf Rabe, Christian Kröger nach Rabe und Yukio Omata nach Chang.[95] Mehrere Studien stellen eine Beziehung zwischen dem Nationalsozialismus und dem Massaker her. Neben »The Forgotten Holocaust of World War II« von Chang ist »The Other Nuremberg« zu erwähnen.[96] Als Legitimation für Rabes prominente Position in der Erinnerungskultur des Massakers mag gelten, dass die Deutungshoheit seines Tagebuchs über das Massaker in Nanjing als unzweifelhaft anerkannt ist.

Bekanntlich besteht die Erkenntnisfunktion historischer Vergleiche zwischen chronologisch und diskursbezogen – zumeist – getrennten Phänomenen darin, Beziehungen herzustellen, um Struktur- und Kontextähnlichkeiten aufzudecken, Aufmerksamkeit für ungewohnte Perspektiven und nicht beachtete Kontinuitäten zu wecken. Bei Vergleichen als Aufmerksamkeitsgeneratoren wird der komparatistische Blick in der Regel vom weniger bekannten Ereignis auf das in seiner paradigmatischen Geltung – womöglich Alleinstellungszuschreibung – fraglos etablierte Phänomen gerichtet, um von dessen geschichtsbildendem Kapital zu profitieren, die Zugehörigkeit zu dessen symbolischem Kapital zu erreichen. Das ist in der Wertung des Massakers als ›vergessener Holocaust‹ und des Kriegsverbrecherprozesses in Tokio als ›das andere Nürnberg‹ der Fall. Fragt man nach Vergleichsmerkmalen zwischen Massaker und Holocaust, so kann die Vernichtung eines Kollektivs, nicht Einzelner, ohne Tatvorwurf und Anklage angeführt werden, das Fehlen juristischer Verfahrensabläufe, die Gewalt. Gegen einen Vergleich sprechen die räumliche und zeitliche Begrenztheit des Massakers, dessen viel geringere Opferzahl,[97] die Ermordung der Opfer gegenüber der systematisch betriebenen, industriemäßig ausgeführten Vernichtung im Holocaust, die Willkür einzelner japanischer Soldaten gegenüber dem regierungsoffiziellen Vernichtungsprogramm der ›Endlösung‹. Daher erscheint das Bild ›des vergessenen Holocaust‹ auf das Massaker nicht anwendbar. Nicht dieser Vergleich, sondern vor allem Rabes Tagebuch hat dem Leid der chinesischen Zivilisten weltweite Aufmerksamkeit verschafft.

Wickert macht auf seine Edition der Tagebücher mit einem umfangreichen Artikel in der FAZ aufmerksam, dessen Untertitel mit Bezug auf die New York Times lautet: »John Rabe, der 'Oskar Schindler von Nanjing'«.[98] Er bietet alle Informationen, die Rabes Tätigkeit in Nanjing betreffen, zitiert aus den Tagebüchern und erwähnt Rabes Schwierigkeiten nach seiner Rückkehr 1938 nach Deutschland.

Ähnlich detailliert informiert Carlos Widmann in seiner Rezension über Rabe und dessen Tagebücher. Er druckt Rabes Eingabe an Hitler vom 08.06.1938 ab. Rabe bleibe in Nanjing, »weil er ›seine‹ Chinesen dem Terror nicht ausliefern will«.[99] Während Widman Schindler nicht als »Durchschnittsmensch[en]« beurteilt, hält er für Rabe »das Etikett des gewöhnlichen Deutschen« für angemessen. Ironisch verdichtet er die Kontroverse, ob ein Nazi ein guter Mensch sein könne: »Nirgends auf der Welt ist das Symbol der Nazi-Partei so schamlos für humanitäre Zwecke mißbraucht worden«.[100]

Die Rezensentin der FAZ diagnostiziert bis zur Veröffentlichung der Tagebücher allgemeines Unwissen über das Massaker und über Rabe. »Bis vor kurzem wußte man auch nicht, daß es in der Zeit der japanischen Besetzung Nankings einen Deutschen gab, dem es zu verdanken ist, daß nicht noch mehr Menschen Opfer des japanischen Mordens wurden«.[101] »Als John Rabe im Jahr 1950 starb, gab es keine Gedenkfeiern, keine Dankesreden«. Rabe sei vergessen worden. Erst Wickerts Ausgabe habe ihn wiederentdeckt. Er wird literaturkritisch vorgestellt: »Es ist ein packender Bericht«. Auch wird die nicht gestellte Frage beantwortet: »Seine Verdienste um die Zivilbevölkerung von Nanking schmälert seine Parteizugehörigkeit nicht. Sein Eintreten […] befreit ihn vom Vorwurf des Rassismus, und Antisemitisches hat Wickert im Tagebuch auch nicht gefunden. John Rabe bleibt der gute Deutsche von Nanking«.[102]

Anlässlich der Renovierung des Rabe-Hauses durch chinesische Studierende 2006 meldet sich Wickert noch einmal zu Wort, weil es immer noch Zeitgenossen gebe, »denen es schwerfällt, in ihm einen guten Deutschen zu sehen«.[103] Wickert stellt Rabes ›gute Werke‹ mit dem Hinweis zusammen, dass dieser niemals geleugnet habe, ›Pg.‹ zu sein. Die Komiteemitglieder wussten es. »Aber sie sahen darüber hinweg. John Rabe sprach nicht die nationalsozialistische Sprache, weder in der Wortwahl noch in den Themen«.[104]

Dass Rabe Teil der deutschen Erinnerungskultur geworden und institutionell legitimiert ist – obwohl in öffentlichen und intellektuellen Diskursen noch nicht angemessen präsent –, belegen die Rabe-Lemmata in den maßgeblichen biographischen Enzyklopädien.[105] Eine moderne Form historischer und zeitgeschichtlicher Anerkennung stellt die Verfilmung von Rabes Leben für Kino und Fernsehen 2007 auf der Basis seiner Tagebücher dar. Mitgeteilt wird dies zum 70. Jahrestag des Massakers verbunden mit der Erinnerung an Rabes Würdigung durch Bundespräsident Johannes Rau bei dessen Besuch in Nanking am 13.09.2003 und die Einrichtung des Rabe-Hauses als Museum.[106] Chinesische Gedenkveranstaltungen für das Massaker und Rabe werden in Deutschland rezipiert.[107] Ebenso fehlen im Nachruf auf Erwin Wickert nicht die Hinweise auf dessen Rabe-Edition mit biographischen Informationen über Rabe und dessen historische Funktion sowie auf die gerade laufende Verfilmung seines Lebens.[108]

Auf einen bisher nicht erkannten literarischen Bezugstext ist hinzuweisen. 32 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers und Pazifisten Erich Kästner (1899-1974) erscheint 2006 erstmals Das Blaue Buch. Kriegstagebuch und Roman-Notizen. Kästner beginnt sein Kriegstagebuch am 16.01.1941. Seine Motivation ist ähnlich wie die Rabes und anderer Verfasser privater Kriegstagebücher. Kästner »hielt es für notwendig, das Geschehen aus ziviler Perspektive festzuhalten – möglichst ohne Emotion und Deutung«.[109] Da er sich über die Brisanz des Textes im Klaren zu sein scheint, schreibt er Stenografie, hält das Buch geheim und stellt es unauffällig in blauem Umschlag in sein Bücherregal. Zweimal erwähnt er Nanjing, zuerst am 06.02.1941:

Noch ein Gerücht: Japan versuche krampfhaft, mit Tschiang Kai-schek Frieden zu schließen; Japan sei sogar bereit, dafür die Nanking-Regierung zu opfern. Der Vorgang wäre verständlich. Denn Japan muss, nun der Krieg mit Amerika droht, zweifellos den Arm frei bekommen. 
[Unter »Chronologische Punkte« im »Roman Konvolut II«] 1937: Wieder Krieg gegen China. Ziel: Eroberung einer Küstenprovinz nach der anderen. Ohne Kriegserklärung. Von Peiping bis Hanchow unterworfen. Dann Vorstoß ins Innere. Marionettenregierung von Nanking.[110]

Kästner gibt keine Informationen zum Massaker und zu Rabe, ob er keine Kenntnis davon hatte, ist noch zu prüfen. Die wichtigen Tagebuchaufzeichnungen von Minnie Vautrin über das Massaker mit mehrfachen Würdigungen Rabes und des Komitees erscheinen 2008.[111]

Auch im Zentrum eines journalistischen Reiseberichts über Nanjing steht John Rabe, »der 'chinesische Schindler', [der] bei uns erst durch den Film von Florian Gallenberger bekannt geworden [ist]. In Nanjing ist er ein Volksheld«. Ausführlich informiert der Beitrag über das Rabe-Museum, Rabes Aktivitäten während des Massakers, sein Schreiben an Hitler und das 2007 eingeweihte »Massakermuseum von Nanjing«.[112] 2016 wird Rabe klischeehaft im Chinaroman Auf der Suche nach Wang Wei von Frank Quilitzsch erwähnt, der 1989/1990 Lektor an der Universität Nanjing war.[113]

2005 wird das John Rabe-Kommunikationszentrum in Heidelberg eingerichtet, das seit 2009 den John Rabe Friedenspreis verleiht.[114] Im Garten des Zentrums haben chinesische Studierende eine Bronzebüste Rabes aufgestellt, jeweils am 13.12., als Jahrestag des Massakers, findet eine Gedenkfeier für Rabe statt. Siemens in Nanjing hat auf dem Firmengelände eine Rabe-Statue aufgestellt. 2009 erscheint die Rabe-Biographie seines Enkels Thomas Rabe. Der Rabe-Film ist 2009 in die Kinos gekommen, Tang Jianping hat die Oper »Die Tagebücher von John Rabe« komponiert. In Berlin auf dem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisfriedhof hat Rabe auf Initiative der Stadt Nanjing ein Ehrengrab erhalten, im Nanjing Massaker Memorial ist der originale Grabstein des Ehepaars Rabe auf dem Ehrenfriedhof aufgestellt.[115]

Dass Rabe als eindeutig in die chinesische Erinnerungskultur integriert gilt, belegt eine ganzseitige Anzeige in der FAZ mit der Überschrift »John Rabe, Held von Nanjing«.[116] Als zentrale Abbildung ist das Foto gewählt, das Rabe am Eingang des Unterstands in seinem Garten zeigt, auf weiteren Fotos sind das Ehepaar Rabe und ihr als Gedenkstätte eingerichtetes Haus zu sehen. Ein Szenenfoto von einer Wiener Aufführung der Oper »Die Tagebücher von John Rabe« dokumentiert die internationale Rezeption Rabes, ein weiteres Foto soll offenbar die produktive Verpflichtung Chinas widerspiegeln, Deutschland als Dank für Rabes Engagement zugunsten der chinesischen Zivilisten im Kampf gegen Corona zu unterstützen: Ein Vertreter der chinesischen Botschaft überreicht Thomas Rabe und dessen Ehefrau medizinisches Material. Im Textteil werden Stationen der Lebensgeschichte Rabes erwähnt, vor allem sein Einsatz während des Nanjing-Massakers, aber auch das aktive erinnerungskulturelle Engagement Chinas für Rabe, dessen Familie und Deutschland.

John Rabe, der sich als ›Pg.‹ im internationalen Komitee in führender Funktion mit weltweiter Anerkennung gegen die projapanische Politik der NSDAP für die Rettung chinesischer Zivilisten im von japanischen Soldaten ausgeführten Nanjing-Massaker eingesetzt hat, hat erinnerungskulturell und -politisch in Debatten zum Zweiten Weltkrieg in Deutschland kaum Relief.[117]

Das könnte die Frage nach Kriterien der Zugehörigkeit zum kulturellen Gedächtnis aufwerfen.

Anmerkungen


[1]   Vgl. Erwin Wickert (Hg.): John Rabe. Der gute Deutsche von Nanking. [1997] München 2008, 38 (03.10.1937). Vgl. Thomas Rabe (Hg.): John Rabe. Sein Leben und seine Zeit. Nanking/China 1937/1938/ Seine Freunde/ Seine Gegenspieler. Mit Beiträgen von John Rabe, Thomas Rabe, Erwin Wickert, Ursula Reinhardt, Ruth Hallo und Mechthild Leutner. Heidelberg 2009, 18-48.

[2]   Ich spreche von Projekt, weil Rabe keine definitive Fassung seines Manuskripts für den Druck hinterlassen hat, obwohl er im Krieg eine Reinschrift womöglich zur Druckvorbereitung anfertigte. Vgl. Wickert (Anm. 1), Stuttgart 1997, 21.

[3]   Es sind sechs Bände: Band I umfasst die Zeit vom 21.9.1937 bis zum 5.11.1937, Band II vom 6.11.1937 bis zum 1.12.1937, Band III vom 2.12.1937 bis zum 24.12.1937, Band IV vom 25.12.1937 bis zum 17.1.1938, Band V vom 18.1.1938 bis zum 11.2.1938, Band VI vom 12.2.1938 bis zum 26.2.1938.

[4]   Erwin Wickert (Hg.): Die Entdeckung der Tagebücher. In: Wickert (Anm. 1), 387-391. Eine andere Version der ›Entdeckung‹ bei Iris Chang: Die Vergewaltigung von Nanking. Das Massaker in der chinesischen Hauptstadt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser. Zürich/München 1999, 203-204. [The Rape of Nanking. The Forgotten Holocaust of World War II. New York 1997]

[5]   Erwin Wickert: Mut und Übermut. Geschichten aus meinem Leben. München [1991] 1993, 229-231.

[6]   Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012. Christian Ernst/Peter Paul Schwarz: Zeitzeugenschaft im Wandel. In: BIOS 25/2012, H.1.

[7]   Lutz Niethammer: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1980. Herwart Vorländer (Hg.): Oral History: mündlich erfragte Geschichte. Acht Beiträge. Göttingen 1990.

[8]   Felix Ackermann: Die Leichen im Familienalbum. Dekolonisierung als Privatsache: Wie soll man mit Aufnahmen vom Völkermord an den Herero und vom Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion umgehen? In: FAZ Nr. 135, 15.06.2021, 12.

[9]   Volker Zastrow zit. nach Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993, 7.

[10]  Suping Lu: Introduction. In: Minnie Vautrin: Terror in Minnie Vautrin's Nanjing. Diaries and Correspondance, 1937-38. Edited and with an Introduction by Suping Lu. Urbana /Chicago 2008, XVII.

[11]  Dan Diner: Das kognitive Entsetzen. Gewalttaten aus eigenem Unrecht: Über die Geltung und die Grenzen des Vergleichs von Massenverbrechen. In: FAZ Nr.155, 08.07.2021, 11. Ulrike Jureit: Ähnlichkeiten reichen nicht. Die Debatte ist schon weiter, als manche Vereinfacher meinen: Wie sollte nach dem Verhältnis zwischen nationalsozialistischer und kolonialer Herrschaft gefragt werden? In: FAZ Nr. 158, 12.07.2021, 11. Diner und Jureit erwähnen das Nanjing-Massaker und Rabe nicht.

[12]  Chang (Anm. 4). 1938 findet sich in einem Text bei Timperley folgende Situationsbeschreibung: »Trucks and cars jammed, were overturned, caught fire, at the gate more cars jammed and were burned - a terrible holocaust – and the dead lay feet deep«: Harold J.Timperley: What War Means. The Japanese Terror in China. A Documentary Record. Compiled and Edited by H.J.Timperley, China Correspondent, Manchester Guardian. London 31938, 27. Die erste und zweite Auflage erscheinen im Juli 1938, die dritte im Oktober 1938.

[13]  Lily Abegg: Chinas Erneuerung. Der Raum als Waffe. Frankfurt am Main 1940, 5-6. Vgl. Wolf Schenke (1914-1989): Reise an der gelben Front. Beobachtungen eines deutschen Kriegsberichterstatters in China. Oldenburg/Berlin, 6.-10. Tsd. 1941, 336: »Der Chinakrieg, so wenig Beziehungen er auch zuerst zu europäischen Dingen zu haben schien, ist nur ein Vorspiel. Auch er ist nur ein Teil des gewaltigen Ringens, das 1914 begann und sich auf der ganzen Welt abspielt um neue Formen des Zusammenlebens der Menschen und dessen beide Parteien in Deutschland und England nur ihre Vorkämpfer haben. Auch der Chinakrieg ist ein Teil des Weltkampfes gegen die Reaktionäre der Weltgeschichte«.

[14]  Wickert (Anm. 1), 35. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm Bd. 11, München 1984 [1873], Sp. 2295: »Kriegstagebuch«: »tagebuch im kriege geführt«. Sp. 2270: »Kriegsgeschichtschreiber; Kriegsgeschichte, res bellicae. Stieler 1747 1) ereignis, erlebnis im kriege, ein alter soldat z.b. erzählt gern k.n. 2) die ereignisse eines krieges oder des kriegs überhaupt als ganzes und als gegenstand zusammenhängender darstellung oder kenntnis«. Ein konkreter Anlass bzw. eine Gelegenheit scheint konstitutiv für private Kriegstagebücher zu sein. Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Frankfurt a.M. 1983 [1947], 7f.: »Dieses Buch will kein Kunstwerk sein. Dieses Buch ist Wahrheit. – Als am 10. November 1938 die Synagogen brannten, entstand in mir der Entschluß, es zu schreiben. Seine Aufzeichnung, die Sammlung seines Materials und seiner Unterlagen erfolgte Tag für Tag in den Jahren 1938 bis 1945. Ich habe nicht die Absicht, politische Heldentaten zu zeigen, Verschwörungen aufzudecken oder von bewaffnetem Widerstand gegen Gestapo und Hitler-Tyrannei zu erzählen. Der ganzen Welt ist es bekannt, daß wir Hitler nicht beseitigt, Goebbels nicht gestürzt, Göring nicht umgebracht haben. Nur wenige aber wissen, warum das alles nicht geschah. […] Dieses Buch kann seinen Zweck nur dann erfüllen, wenn es Wort für Wort ehrlich ist. Möge es als Zeugnis in die Welt hinausgehen, daß auch unter Hitlers Regime in Deutschland Menschen gelebt haben, die es nicht verdienen, daß man um einer verantwortungslosen Regierung willen sie und ihr ganzes Volk verachtet!« Vgl. die Bemerkungen zum Anlass in Hans Graf von Lehndorff: Ostpreussisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945-1947. München 41961, 5: »Dieser Bericht ist vor zwölf Jahren niedergeschrieben worden, teils nach herübergeretteten Tagebuchaufzeichnungen, teils aus der noch überwachen Erinnerung. Der Verfasser hat ihn bisher zurückgehalten, weil er selber noch keinen genügenden Abstand dazu gewinnen konnte. Inzwischen aber ist aus dem Geschehen der damaligen Zeit Geschichte geworden und das Persönliche aus den Grenzen der Person herausgetreten. Deshalb soll es jetzt gewagt werden, Erlebtes aus der Hand zu geben, auch auf die Gefahr hin, altes Leid von neuem in Bewegung zu bringen. Mögen diese Blätter mithelfen, ein Stück Vergangenheit zu begreifen und dem Leben dienstbar zu machen, das täglich seine Forderungen an uns stellt«. Auch Ulrich von Hassell – hingerichtet im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 – beginnt sein (geheimes) Tagebuch aus konkretem Anlass: »Berlin, 17. 9. 38. Eisenbahn Berlin-Weimar. Internationale Gewitterstimmung. Innen wachsende Depression unter dem Druck der Parteiherrschaft und der Kriegsfurcht. […] Zugleich nimmt die Abneigung gegen selbständige Charaktere zu. Wer nicht kriecht, gilt als hochmütig. Das ist auch der Kern meiner Lage.«: Die Hassell-Tagebücher 1938-1944. Ulrich von Hassell. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland. Nach der Handschrift revidierte und erweiterte Ausgabe unter Mitarbeit von Klaus Peter Reiß hg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen. München 1991 [1946; 1988], 51. Ähnlich Friedrich Kellner: »Laubach, den 26. September 1938. Der Sinn meiner Niederschrift ist der, augenblickliche Stimmungsbilder aus meiner Umgebung festzuhalten, damit eine spätere Zeit nicht in die Versuchung kommt, ein ›großes Geschehen‹ daraus zu konstruieren. {(eine ›heroische Zeit‹ od. dergl.)} Vor allem: es herrscht keinerlei Begeisterung. Alle Menschen ›hoffen‹, glauben an Wunder und machen sich ein Weltbild in ihrem Köpfchen zurecht, das mit Weitblick aber auch gar nichts zu tun hat. {Wer die zeitgenössische Gesellschaft, die Seelen der ›guten Deutschen‹ kennenlernen möchte, der lese meine Aufzeichnungen. Aber ich hege die Befürchtung, nach dem Ablauf der Geschehnisse werden nur wenig anständige Menschen übrig bleiben u. die Schuldigen haben kein Interesse daran, ihre Blamage festgehalten zu sehen.}«: Friedrich Kellner: »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939-1945. Bd. 1. Hg. von Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth. Göttingen 42011 [2011], 15.

[15]  Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a. M. 1994 [Le pacte autobiographique, 1975]. Stephan Jaeger: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft. In: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, 237-263, hier 245-250.

[16]  Meyers Großes Konversations-Lexikon. Leipzig/Wien 61905-1909. Berlin 2005. Bd.11, 1907, 679 : »Kriegstgb, Nachweis der Kriegsereignisse bei mobilen Truppen, wird in Dtsld. bei allen Truppenkörpern vom Infanteriebataillon, dem Kavallerieregiment und der Artillerieabteilung sowie von selbständig auftretenden kleinern Verbänden geführt und reicht von der Mobilmachung bis zur Demobilmachung. Die Aufbewahrung der Kriegstgb. erfolgt in den Kriegsarchiven«.

[17]  Wickert (Anm. 1), 215: Bericht Eduard Sperlings: An die Deutsche Botschaft z.H. Herrn Dr. Rosen: »Die Mutter eines jungen hübschen Mädchens rief mich und flehte weinend auf den Knien, ich sollte ihr helfen. Ich fuhr mit ihr in ein Haus in der Nähe der Hankow road. Bei meinem Eintritt in das Haus sah ich Folgendes: Ein japanischer Soldat lag vollständig entkleidet auf einem jungen hübschen Mädchen, das furchtbar weinte. Ich brüllte diesen Kerl in allen Sprachen fürchterlich an, und wünschte ihm ›Happy New Year‹ und im Nu, seine Hosen noch in der Hand, lief er eiligst davon«. Eine ähnliche Episode erzählt Rabe vom 18.12.1937, Wickert (Anm.1), 130. Vgl. Jaeger (Anm 15), 250: »Die historische Erzählung fungiert als anschauliches Argument«.

[18]  Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten. In: Sabrow/Frei (Anm 6), 17: »Der Zeitzeuge […] ist nicht identisch mit dem Tatzeugen, der ein miterlebtes abgrenzbares Geschehen durch seine Darstellung zum Zweck der politischen oder juristischen Ermittlung so präzise wie möglich nachvollziehbar und beurteilbar macht«.

[19]  Clara Meier: Der Sonderweg vor Gericht. Fallakte Deutschland: Kim Priemel führt vor, wie die Nürnberger Prozesse Debatten der Historiker resümierten und vorwegnahmen. In: FAZ Nr. 136, 16.06.2021, N3.

[20]  Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, 309 u. 328.

[21]  Christian Kröger (1903-1993): Schicksalstage von Nanking. Tagebuchaufzeichungen 21.11.1937-13.01.1938, Nachtrag vom 04.01.1986. In: Thomas Rabe (Anm. 1), 203-216. Paul Scharffenberg: Die Tagebücher von Paul Scharffenberg. Kanzler an der deutschen Botschaft in Nanking. [Für den ersten Bericht Rückblick am 27.12.1937] 22.11.1937-21.03.1938. In: Thomas Rabe (Anm. 1), 217-230. Vgl. Thomas Rabe (Anm. 1), Kapitel: ›Die Freunde von John Rabe‹ 285-368 (Dr. M.S.Bates, George Fitch, Ernest H. Forster, Christian Kröger, John G. Magee, James McCallum, Wilson Plumer Mills, Lewis Smythe, Eduard Sperling, Minnie Vautrin, Dr. Robert O. Wilson); ›Die Diplomaten, »ihre Schiffe« und die Presse‹ 370-444, (Dr. Oskar Trautmann, Paul Scharffenberg, Dr. Georg Rosen). Timothy Brook (ed).: Documents on the Rape of Nanking. Ann Arbor 1999, (enthält ›Documents of the Nanking Safety Zone‹, edited by Hsü Shuhsi, 1939, 33-167 und erstmals: ›The Family Letters of Dr. Robert Wilson, 207-254). Vautrin (Anm) 10. Der Zeitzeuge »konstituiert […] durch seine Erzählung eine eigene Geschehenswelt. Er bestätigt weniger durch sein Wissen fragliche Einzelheiten eines sich häufig ohne sein Zutun abspielenden Vorgangs, sondern dokumentiert durch seine Person eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit von innen als Träger von Erfahrung und nicht von außen als wahrnehmender Beobachter« (Sabrow, Anm. 6, 17).

[22]  Vgl. Burckhard Dücker: ›Polenbegeisterung‹ nach 1830. Vorbereitende Bemerkungen zum Konzept einer integrativen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Uwe Maximilian Korn / Krzysztof Zarski (Hg.): Institutionen – Praktiken – Biographien. Verankerung und Profilierung der germanistischen Forschung und Lehre. Wiesbaden 2021, 247-300.

[23]  Mit den Worten des Dichters Johannes Bobrowski (1917-1965) gilt es anzuerkennen, »daß die Literatur eine Materialsammlung zur Erläuterung der Historie sein solle«. J. Bobrowski: Daten zum Lebenswandel des Herrn S. In: Gesammelte Werke IV. Stuttgart 1987, 210-213, hier 213.

[24]  Diese Konstellation generiert ›symbolisches Kapital‹ für den Autor als Form von »Werkpolitik«: Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin u.a. 2007.

[25]  Wickert (Anm. 1), 32 u. 33. (Dann folgen im Original Zeitungsartikel vom August 1937.) Rabe sieht das Flüchtlingsproblem als soziales Phänomen, das die gesellschaftlichen Gegebenheiten widerspiegelt (verwendbar für eine Sozialgeschichte historischer Fluchtbewegungen). »Von allen Seiten sieht man die arme Bevölkerung mit Hausrat und Betten in unsere Zone flüchten. Das sind die Allerärmsten noch nicht, das sind die Vortrupps, die Leute, die noch etwas Geld haben und bei Freunden und Bekannten gegen Bezahlung in unserer Zone unterschlüpfen. Die ganz Mittellosen kommen noch. Für sie müssen die Schulen und Universitäten geöffnet werden, sie sollen in Massenquartieren untergebracht werden und aus großen Volksküchen beköstigt werden« (93, 7.12.1937). Rosen spricht von den Flüchtlingen als »den Ärmsten der Armen« (Leutner Anm. 41, 175).

[26]  Es ist die literarisch vermittelte Tradition des ehrbaren Kaufmanns, der ökonomische Verlässlichkeit mit sozialem Gewissen als Erfolgsprinzip verbindet, wie Gustav Freytag (1816-1895) ihn im Roman Soll und Haben (1855) exemplarisch gestaltet hat. Thomas Mann (1875-1955) verdichtet diese Einstellung in seinem Roman Buddenbrooks (1901) zur Maxime »Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können«. Thomas Buddenbrooks' vor diesem Hintergrund unseriöses und risikoreiches Geschäft, die ›Ernte auf dem Halm‹ zu kaufen, markiert entsprechend den Niedergang des Unternehmens: Thomas Mann Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt a. M. 72002, 482.

[27]  Wickert (Anm. 1), 34.                        

[28]  »Das ganze Volk hat mich plötzlich gern. Früher konnte mich meines Erachtens niemand leiden, oder sollte ich mich getäuscht haben?«: Wickert (Anm. 1), 143, 24.12.1937.

[29]  Wickert (Anm. 1), 130, 18.12.1937.

[30]  Wickert (Anm. 1), 34.

[31]  Wickert (Anm. 1), 35, 22.09.1937.

[32]  Timperley (Anm. 12), 43: »He thrusts his Nazi armband in their [the Japanese soldiers] face and points to his Nazi decoration, the highest in the country and asks them if they know what that means. It always works!«

[33]  John H.D.Rabe: Feindliche Flieger über Nanking. Tagebuchblätter. 1. Bd. Nanjing 2017, 27 (27.09.1937).

[34]  Wickert (Anm. 1), 38, 03.10.1937.

[35]  Wickert (Anm. 1), 49, 09.11.1937. Vgl. die Kennzeichnung des Krieges bei Abegg und Schenke (Anm. 13).

[36]  Gemoll: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch von W. Gemoll und K. Vretska. Zehnte, völlig neu bearbeitete Aufl. München 2012, 604.

[37]  Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hannover/Leipzig Bd. 2, 81918, Sp. 1456.

[38]  Dollheimers Großes Buch des Wissens in zwei Bänden. 2. Bd. L – Z. Leipzig 1938, 1121.

[39]  Wickert (Anm. 1), 57.

[40]  Wickert (Anm. 1), 60. ›Bericht des Legationssekretärs Georg Rosen, Shanghai, an das AA‹, 24.12.1937, in: Mechthild Leutner (Hg.): Deutschland und China. 1937-1949. Politik – Militär – Wirtschaft – Kultur. Eine Quellensammlung. Bearbeitet von Wolfram Adolphi und Peter Merker. Berlin 1998, Text 47, 174: »Es bildete sich ein Komitee, welches aus seiner Mitte Herrn John D. Rabe, den Vertreter von Siemens China Co. in Nanjing, zu seinem Vorsitzenden wählte. Herr Rabe hat sich unter Zurückstellung aller persönlichen Interessen und Bedenken seinem humanitären Werk gewidmet und sogar durch ein Telegramm an den Führer und Reichskanzler – Herr Rabe ist Amtswalter der Ortsgruppe Nanjing der NSDAP – seinen Plan bei den Japanern durchzusetzen versucht, was bei den amerikanischen und englischen Mitgliedern des Komitees mit Dank und Anerkennung für Deutschland begrüßt wurde«. Der deutsche Botschafter Trautmann notiert am 06.01.1938, (Leutner, 174, Anm. 2): »Die Tätigkeit des Internationalen Komitees, an dessen Spitze der Siemens-Vertreter, Herr Rabe, gestanden hat, hat von allen Seiten die größte Anerkennung gefunden. Minister Kong [Xiangxi, i.O.] hat mich gebeten, Herrn Rabe seinen besonderen Dank zu übermitteln. Ich möchte mir vorbehalten, die Verleihung einer Dekoration für Herrn Rabe später zu beantragen«. Schon 1938 privilegiert Timperley (Anm. 12), 51 den Beitrag der Deutschen: »Then our three German friends [Kröger, Rabe, Sperling] on the Committee have won both our admiration and affection. They have been a tower of strength – without them I don't see how we would have got through«.

[41]  Rosen (Anm. 40), 174: »so daß Herr Rabe praktisch die Rolle eines Bürgermeisters spielte«. Auch werden dem Komitee Funktionen eines Gerichts zugeschrieben: Wickert (Anm.1), 104, 11.12.1937.

[42]  Wickert (Anm. 1), 71, 25.11.1937.

[43]  Wickert (Anm. 1), 100, 10.12.1937 und 78, 29.11.1937.

[44]  Wickert (Anm. 1), 79, 29.11.1937.

[45]  Wickert (Anm. 1), 100 u. 101.

[46]  Wickert (Anm. 1), 138, 22.12.1937. Vautrin (Anm. 10), 91: »I have been suspecting that many of fires we see at night are to cover either looting or killing«. Kröger (Anm. 18), 207f., urteilt, dass »überhaupt die kämpfend vorrückenden [japanischen, B.D.] Truppen einen guten, disziplinierten Eindruck machten«, während er mit der Besetzung der Stadt »ein[en] vollständige[n] Umschwung in der Haltung der Japaner« feststellt und eine »verrohte Soldateska« diagnostiziert.

[47]  Wickert (Anm. 1), 134, 21.12.1937. Vor dem Einmarsch hatten chinesische Soldaten Gebäude vor der Stadtmauer in Brand gesetzt, um den Einmarsch der Japaner zu verzögern. Vgl. Rosen (Anm. 40), 175.

[48]  Uwe Makino: Nanking-Massaker 1937/38. Japanische Kriegsverbrechen zwischen Leugnung und Überzeichnung. Mit einer Einführung von Gebhard Hielscher. Norderstedt 2007, 143. »Japan war also einerseits daran interessiert, das Zentrum der chinesischen Industrie zu zerstören. Andererseits demontierte man funktionstüchtige Industrieanlagen und schaffte sie als Eisenschrott nach Japan« (147).

[49]  Wickert (Anm. 1), 143, 24.12.1937. Vgl. Timperley (Anm. 12), 8: »The aim of this book is to give the world as accurately as possible the facts about the Japanes Army's treatment of the Chinese civilian population in the 1937-8 hostilities so that war may be recognized for the detestable business it really is«. Rosen will (Anm. 41), 177 »der deutschen Heimat ein richtiges Bild von den Absichten und dem Verhalten Japans « geben.

[50]  Wickert (Anm. 1), 142, 24.12.1937: »Auch in den Leichenkeller bin ich gestiegen und habe die Leichen auswickeln lassen, die in der letzten Nacht eingeliefert wurden. Darunter ein Zivilist mit ausgebrannten Augen und total verbranntem Kopf, den die japanischen Soldaten ebenfalls mit Benzin begossen hatten. Die Leiche eines kleinen Jungen von etwa sieben Jahren wies vier Bajonettwunden auf, davon eine von etwa Fingerlänge in der Magengegend. Er ist, ohne ein[en] Laut des Schmerzes von sich zu geben, zwei Tage nach seiner Einlieferung im Hospital gestorben«.

[51]  Wickert (Anm. 1), 151.

[52]  Wickert (Anm. 1), 144. Aber auch angesichts der Gräuel und seiner Depressionen findet er an den Weihnachtstagen noch Kraft, um auch die kleinen Dinge zu sehen. »Ich staune immer wieder, daß unsere Boys und Köche noch Lebensmittel für uns auftreiben können. […] Vielleicht helfen die Flüchtlinge, die mich ja zur Zeit ins Herz geschlossen haben, etwas mit, wenn es gilt, Lebensmittel zu besorgen. Ich kriege täglich Spiegeleier, und es gibt Leute, die kaum noch wissen, wie ein Ei aussieht«: Wickert (Anm. 1), 151.

[53]  Wickert (Anm. 1), 164.

[54]  Wickert (Anm. 1), 193. »Einer von den Fällen, die wir nicht melden: Ein chinesischer Arbeiter, der für die Japaner den ganzen Tag gearbeitet hat und an Geldes Statt Reis erhielt, setzt sich mit seiner Familie müde an den Tisch, auf den die Hausfrau soeben die Schüssel mit dünner Reissuppe gestellt hatte: die bescheidene Mahlzeit für eine sechsköpfige Familie. Ein des Weges kommender japanischer Soldat macht sich den Spaß und uriniert in die halbvolle Reisschüssel und geht lachend und ungestraft davon«. Wickert (Anm. 1), 218, 25.01.1938. Vgl. 158, 28.12.1937: »Herr Fukui bittet mich sehr, nichts über Nanking nach Shanghai zu schreiben, das heißt, keine Tatsachen zu berichten, die der Japanischen Botschaft unangenehm sind. Ich habe es ihm versprochen. Was bleibt mir anders übrig? Wenn ich meine Briefe, die nur durch die Japanische Botschaft gehen können, überhaupt fortgeschickt haben will, muß ich mich schon fügen«.

[55]  Wickert (Anm. 1), 238, 31.01.1938 u. 243, 04.02.1938.

[56]  Wickert (Anm. 1), 210-212, 22.01.1938; 217, 24.01.1938; 219, 25.1.1938. Vgl. 15.02.1938, 273: »Ich bin wirklich etwas mit meinen Nerven herunter und sehne mich sehr nach der Urlaubsreise«.

[57]  Wickert (Anm. 1), 223, 27.01.1938.

[58]  Wickert (Anm. 1), 234, 30.01.1938.

[59]  Bd. I und Bd. II/1 sind noch auf dem Dampfer ›Kutwo‹, wo Rabe sie kurz vor dem Einmarsch der Japaner zum Abtransport eingelagert hatte.

[60]  Wickert (Anm. 1), 225, 30.01.1938 u. 225, 28.01.1938.

[61]  Leutner (Anm. 41), Text 48, 177-181, hier 177.

[62]  Leutner (Anm. 41), Text 121, ›Brief des Chefs der Auslandsorganisation der NSDAP, Ernst Wilhelm Bohle, an den Leiter der NSDAP-Landesgruppe China, Siegfried Lahrmann‹, 405f.: »Es ist Ihre Pflicht gegenüber Führer und Reich, die Japan-Politik des Führers zu unterstützen, so sehr menschliches Verständnis für die wirtschaftlichen Schädigungen hier besteht, die unsere deutschen Kaufleute durch den Krieg erleiden. […] Das Schicksal des Reiches liegt in den Händen des Führers, dem wir Nationalsozialisten in blindem Vertrauen ohne Zögern folgen«. Angesichts dieser Maxime ist Rabes selbstbestimmte, mutige Position um so mehr zu würdigen. Die prochinesische Einstellung der Chinadeutschen zeigt sich auch im ›Schreiben der Deutschen Handelskammer Shanghai an den Ostasiatischen Verein, Hamburg-Bremen e.V.‹ vom 6.11.1937, in: Leutner (Anm. 41), 402 heißt es: »..., daß die Möglichkeiten des jetzt erst in das erste Stadium der Schließung eintretenden chinesischen Marktes unendlich viel größer sind als die des japanischen und die allerdirekt oder indirekt unter japanischer Regie stehenden chinesischen Gebietsteile. […] Die gegenwärtige Stimmung unter den Deutschen hier ist aber jedenfalls die, daß die Heimat in China Fenster einwirft, die von uns hier draußen bezahlt werden müssen, – und das einem Phantom zuliebe«.

[63]  Vautrin (Anm. 10), 168: »This afternoon Mary and I had our farewell tea party for Mr. Rabe, no easy thing to manage under present conditions. [...] We were not prepared for the sight that metour gaze when we arrived in front of Science Building. Between 2 and 3 thousand women were there and as Mr. Rabe approached them they all knelt and began to weep and implore. He spoke a few words and then Mary got him away by a back path«.

[64]  Dieter Kuhn: Der Zweite Weltkrieg in China. Berlin 1999, 91.

[65]  Manfred Smuda (Hg.): Die Großstadt als ›Text‹. München 1993.

[66]  Wickert (Anm. 1), 300, 28.04.1945.

[67]  Wickert (Anm. 1), 314, 14.05.1945.

[68]  Wickert (Anm. 1), 340, 24.08.1945 u. 343, 14.10.1945.

[69]  Uta Gerhardt: Re-Education als Demokratisierung der Gesellschaft Deutschlands durch das amerikanische Besatzungsregime. Ein historischer Bericht In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft. 27. Jg. - 1999, H.3, 355-385, hier 376.

[70]  Gerhardt (Anm. 69), 378.

[71]  Uta Gerhardt: Herrschaft der Stunde Null. DFG-Sonderforschungsbereich 619 Ritualdynamik Teilprojekt C 3, Arbeitsbericht. Washington DC / Heidelberg 2004, benennt die acht Kriterien, 238: »Verantwortung für Verfolgung eines Gegners des Nazi-Regimes, Gewalttätigkeit gegen Menschen mit politisch oder religiös begründeter Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, Verbreitung nationalsozialistischer Lehren, Bereicherung an Gütern aus ›Arisierung‹ oder anderweitiger Beraubung der Gegner der Naziherrschaft, schnelle Beförderung als Beamte nach der Machtergreifung der Nazis, Einsatz in der Zivilverwaltung der besetzten Gebiete, Dotierung der NSDAP mit ungewöhnlich hohen Geldspenden sowie Mitgliedschaft in Parteien, die den Nationalsozialismus zur Zeit der Machtergreifung unterstützt hatten«.

[72]  Thomas Rabe (Anm. 1), 464.

[73]  Wickert (Anm. 1). 331f., 31.05.1945: »Von der Antifaschistischen Zentralstelle kommt die Aufforderung, daß sich Juden, Mischlinge und ehemalige politische Häftlinge melden sollen. Zu den letzten gehöre ich ja auch, obwohl ich Pg. war, aber ich zögere, mich zu melden; denn es widerstrebt mir, einen Vorteil daraus zu ziehen, daß ich vorübergehend einmal von der Gestapo verhaftet war. Ich will mich zunächst einmal erkundigen, was mit der Aufforderung bezweckt wird. Meine Erlebnisse in China, die seinerzeit mit meiner Verhaftung zusammenhingen, sind ja nur wenigen Leuten bekannt und sind auch schwer verständlich für meine hiesigen Landsleute. Außerdem hat mich die Gestapo ja auch wieder laufen lassen und mich nicht einmal aus der Partei hinausgeworfen, obgleich wohl Anlaß genug dafür vorlag, weil ich den Japanern gar zu deutlich meine Meinung gesagt hatte, auch fürchtete man wohl einen internationalen Skandal, wenn man mich bestraft hätte, da meine Tätigkeit drüben als Chef der Internationalen Sicherheitszone Nankings in der ganzen Welt bekannt war«. Vgl. Wolf Schenke: China im Sturm. Von Chiang Kai-shek zu Mao Tse-tung. Hamburg 1949, 11: »Ich war dem chinesisch-japanischen Krieg auf der chinesischen Seite […] gefolgt, von Shanghai über Nanking nach Hankau, der ersten Not-Hauptstadt Chinas, nachdem Nanking in japanische Hände gefallen war«. Schenke erwähnt weder das Massaker noch Rabe, er sagt, dass er den Krieg »ganz aus der Nähe und doch unbeteiligt« (8) gesehen habe.

[74]  Wickert (Anm. 1), 332, 31.05.1945: »Wir waren ›Idealisten vom reinsten Wasser‹ und standen unter dem Eindruck, daß alle üblen Erzählungen nur Gerüchte […] seien, Feindpropaganda, zumal, […] keiner zugeben konnte, daß er die beschriebenen Grausamkeiten mit eigenen Augen beobachtet hätte«.

[75]  Wickert (Anm. 1), 343, 18.04.1946 u, 344, 16.05.1946.

[76]  Thomas Rabe (Anm. 1), 478: Wiedergabe der »Entnazifizierungsurkunde [Rabes] vom 3. Juni 1946«. Vgl. auch Rabe in: Wickert (Anm. 1), 345f., 07.06.1946 (letzter Eintrag).

[77]  Vergleichsanalysen zwischen seiner Sprache und der der ›jungen Autoren‹ bieten sich an. Interessanterweise beruft sich Salman Rushdie (›Wahrheit‹ [2018]) in: Sprachen der Wahrheit. Texte 2003-2020. Aus dem Englischen von Sabine Herting und Bernhard Robben. München 2021, 291f. auf die Konzeption der ›Trümmerliteratur‹: »Nach dem Zweiten Weltkrieg verspürten in Deutschland die Autoren der sogenannten Trümmerliteratur das Bedürfnis, ihre durch das Nazitum vergiftete Sprache neu zu gestalten und sie wie das in Trümmern liegende Land neu aufzubauen. Sie begriffen, dass die Wirklichkeit, die Wahrheit, wie die bombardierten Städte von Grund auf wiederaufgebaut werden musste. Ich glaube, wir können an ihrem Beispiel lernen. Wir stehen wieder einmal, wenn auch aus anderen Gründen, inmitten der Trümmer der Wahrheit. Und es ist an uns, den Schriftstellern, Denkern, Journalisten und Philosophen, die Aufgabe zu übernehmen, den Glauben unserer Leser an die Wirklichkeit, die Wahrheit wiederaufzubauen. Und es von Grund auf mit einer neuen Sprache zu tun«.

[78]  van Laak (Anm. 9), 42-52.

[79] Bei Remarque stellen die pazifistischen und antiheroischen Kommentare der jungen Soldaten um den Protagonisten Paul Bäumer die bellizistische Einstellung der Autoritäten Eltern, Lehrer, Offiziere, Ausbilder bloß, Rabes Tagebuch wirkt pazifistisch durch die als autoptisch mitgeteilten Gräuel und seine Kommentare dazu. Remarque schreibt aus der Perspektive derer, die Krieg geführt und erlitten haben, Rabe aus der Perspektive dessen, der die Gräuel des Krieges sehen und ertragen muss, aber nicht verhindern, nur lindern kann. Li Qinghua: Remarque Rezeption in China. In: Remarque Jahrbuch I/1991, 30-47. Ein vergleichender Hinweis auf den Pazifismus Rabes und das Massaker in Nanjing fehlt, obwohl der Vf. am Forschungsinstitut für ausländische Literatur der Universität Nanjing forscht.

[80]  Wickert (Anm. 1), 126, 17.12.1937 u. 210/212, 22.01.1938.

[81]  Ignaz Wrobel (d.i. Kurt Tucholsky): Der bewachte Kriegsschauplatz. In: Die Weltbühne, 04.08.1931. Vgl. Michael Hepp/Viktor Otto (Hg.): Soldaten sind Mörder. Dokumentation einer Debatte. Berlin 1996.

[82]  Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt a.M. 1971, 711. Vgl. Johnsons ›Jahrestage‹. Der Kommentar hg. von Holger Helbig u.a. Göttingen 1999, 411: »Hankau – Stadt an der Mündung des Hankiang in den Jangtsekiang, zu Wuhan gehörig. Japan hatte dort 1937 mit einem Überfall den Japanisch-Chinesischen Krieg begonnen«. Hinweise auf das Massaker und Rabe fehlen.

[83]  Wolf Schenke: Siegerwille und Unterwerfung. Auf dem Irrweg zur Teilung. Erinnerungen 1945-1955. München / Berlin 1988, 141f.

[84]  Tilman Spengler: Die Welt schreitet vorwärts, die Zukunft ist glänzend. Chinesische Reisebilder. In: Kursbuch 122 ›Die Zukunft der Moderne‹. Berlin, Dez. 1995, 171-185, hier 173.

[85]  Wickert (Anm. 1), 344, 18.04.1946.

[86]  Mark Siemons: Trauma Nanking. Das andere Kriegsende: Japans Schuld und der Westen. In: FAZ Nr. 200, 29.08.2005, 29: »In China ist das NSDAP-Mitglied [Rabe] ein Held, hierzulande kaum bekannt«.

[87]  Wickert (Anm. 1), 388.

[88]  David W. Chen: At the Rape of Nanking: A Nazi Who Saved Lives. In: The New York Times, 12.12.1996, 3. Die folgenden Zitate sind diesem Artikel entnommen.

[89]  David W. Chen: Word for Word/The Rape of Nanking: A Nazi in China Who Used His Swastika to Save Lives. In: The New York Times 15.12.1996, 7.

[90]  Vgl. auch Joshua A. Fogel (ed.): The Nanjing Massacre in History and Historiography. Foreword by Charles S. Maier. Berkeley / Los Angeles / London 2000.

[91]  Gerhard Krebs: Nanking 1937/38. Oder: vom Umgang mit Massakern. In: NOAG 167-170 (2000-2001), 299-346. Krebs weist nach, dass in den Nanking-Berichten Fotos aus anderen Kontexten verwendet werden (z.B. 319). »Leider zeichnet Chang ein einseitiges und äußerst negatives Bild von Japan, und zwar nicht nur für die Zeit des China-Krieges, sondern auch für die gesamte Geschichte des Landes, so daß ihr Buch streckenweise peinlich wirkt« (300). Aber 302: »Iris Changs detaillierter Bericht ist trotz der Fehler und Überinterpretationen fesselnd und erschütternd zugleich«.

[92] Wenn Chang die privilegierte Position der »Reichsdeutschen durch das damals bestehende Bündnis Berlins mit Tokyo« hervorhebt, fragt Krebs »Welches Bündnis eigentlich?« (Anm. 91, 303), da der Antikominternpakt von 1936 nur der Propaganda gedient habe und nicht gegen China gerichtet gewesen sei. Gleichwohl heißt es dann bei Krebs zur Wahl Rabes zum Chairman 1937: »Das Komitee konnte annehmen, daß ein Deutscher noch am ehesten von den Japanern respektiert würde« (305). Nach der Gestapohaft 1938 verzichtet Rabe auf weitere Vorträge über das Massaker, »um die deutsche Japanpolitik nicht zu behindern« (306). Da der Dreimächtepakt (Italien, Japan, Deutschland) erst 1940 geschlossen wird, muss also schon vorher eine projapanische deutsche Politik erkennbar gewesen sein. Auch Krebs' Zitat aus einem Artikel des ›Völkischen Beobachters‹ vom 10.01.1938 (307), der Rabes Einsatz für Flüchtlinge in Nanjing anerkennt, erscheint vor allem als Anerkennung Japans, werden doch weder das Massaker als Ursache der Fluchtbewegung noch Rabes ergebnislose Eingaben dagegen bei der japanischen Verwaltung erwähnt. Timperley (Anm. 12), 174ff gibt eine Chronologie der Übergriffe. Krebs erwähnt den Kriegsberichterstatter Wolf Schenke, der »die Grausamkeiten des Krieges in Fernost auch in Hitlers Reich publik [gemacht habe], allerdings ohne das Massaker behandeln zu können« (308). Dass der Redaktion des ›Ostasiatischen Beobachters‹ die Veröffentlichung weiterer Auszüge aus Rabes Tagebuch untersagt wird, teilt Krebs kommentarlos mit. Bei Leutner (Anm. 41), Dokument 48, 177-181, wird ersichtlich, dass die japankritische Ausrichtung als inopportun von der NSDAP angesehen wurde. Nach Krebs habe »das Massaker seine intensivste Behandlung durch japanische Autoren erfahren« (315), auch habe es »eine ungeschminkte Behandlung in der [japanischen] Belletristik« (316) gegeben.

[93]  Irmela Hijiya-Kirschnereit: Blütenköpfe für den Bösen. Jede Wahrheit hat ihre Zeit: Über das Nanking-Massaker, Yukio Mishima und Japans Schweigegebot. In: FAZ Nr. 210, 10.09.1997, 41.

[94]  Kuhn (Anm. 64), 88. Er weist auf Rabes Tagebücher und Changs Untersuchung hin und erwähnt die Präsentation in New York, Anm. 140, 89.

[95]  Kai Vogelsang: China und Japan. Zwei Reiche unter einem Himmel. Eine Geschichte der sino-japanischen Kulturbeziehungen. Stuttgart 2020, 380-386.

[96]  Arnold C. Brackman: The Other Nuremberg. The untold story of the Tokyo war crimes trials. New York 1987, 186: »Among the foreign embassies, perhaps the best informed was the German, since the chairman of the international safety committee was a German, John H.D.Rabe«. Rose schreibt, »This mass slaughter of Chinese citizens […] was witnessed by foreign observers, whose accounts, along with those of survivors, provided the outside world with a picture of an army intent on systematic annihilation of all Chines resistance«: Caroline Rose: Interpreting History in Sino-Japanese Relations. A case study in political decision-making. London/ New York 1998, 14f. Sie erwähnt weder Rabe noch andere Augenzeugen. Yuma Totani: The Tokyo War Crimes Trial. The Pursuit of Justice in the Wake of World War II. Cambridge (Mas.) / London 2008, 121:»With respect to the scale of rape, John H.D.Rabe – a German businessman who served as chairman of the International Committee – reported at least 20,000 known cases of rape within and outside the Safety Zone in the initial six weeks of Japanese military occupation«. Totani zitiert Rabe: Nanking no shinjitsu: The Diary of John Rabe (The Truth about Nanking: The Diary of John Rabe), trans. Hirano Kyoko. Tokyo 1997.

[97]  Zur Diskussion der verschiedenen Angaben der Opferzahlen und zur Opferdefinition vgl. Makino (Anm. 48), 185-218. »Meine Hauptthese war jedoch, daß der größte Teil der Opfer exekutierte Soldaten waren« (205).

[98]  Erwin Wickert: Menschenleben waren ihm wichtiger. John Rabe, der »Oskar Schindler von Nanjing«. In: FAZ Nr. 69, 22.03.1997, B3

[99]  Carlos Widmann: Der Retter mit dem Hakenkreuz. Der Hamburger Kaufmann John Rabe schützte 1937 Tausende von Chinesen vor der japanischen Okkupations-Armee. Der naive Nationalsozialist half - so zeigt sein Tagebuch – aus purer Menschlichkeit und störte damit das Hitler-Regime. In: Der Spiegel 44/1997, 90-96.

[100] Widmann (Anm. 98), 95, 96.

[101] Petra Kolonko: Der gute Deutsche von Nanking. Die Tagebuchaufzeichnungen John Rabes. In: FAZ Nr. 35, 11.02.1999, 11.

[102] Kolonko (Anm. 100). Diese Eindeutigkeit wird von einem Leserbriefschreiber mit Blick auf seinen Vater begrüßt, weil eben auch ein ›Pg.‹ »Leben retten« könne: Menno Aden: Frühe Parteimitglieder. Leserbrief in: FAZ Nr. 53, 04.03.1999, 12.

[103] Erwin Wickert: John Rabe – ein guter Deutscher? In: FAZ Nr. 274, 24.11.2006, 11.

[104] Wickert (Anm. 103).

[105] Deutsche Biographische Enzyklopädie Bd. 8, München 1998, 108. Gerhard Krebs: John Rabe. In: Neue Deutsche Biographie Bd. 21, 2003, 63. [Online-Version] https://www.deutsche-biographie.de/pnd119509652.html#ndbcontent

[106] Frank Hollmann: Der Oskar Schindler kommt ins Fernsehen. Vor siebzig Jahren geschah das Massaker von Nanjing. Das ZDF dreht einen Film über John Rabe, der Abertausende Chinesen vor dem Tod rettete. In: FAZ Nr. 290, 13.12.2007, 38.

[107] Siemons (Anm. 86). P.K.: China gedenkt des Massakers von Nanking. In: FAZ Nr. 291, 14.12.2007, 6.

[108] Andreas Platthaus: Der Reisende auf très grand tour. Im Dienst Ihrer Majestät, der Zeitgeschichte: Der jetzt verstorbene Publizist Erwin Wickert erlebte die großen Umbrüche in Fernost und schrieb darüber. In: FAZ Nr. 74, 29.03.2008, 35.

[109] Erich Kästner: Das Blaue Buch. Kriegstagebuch und Roman-Notizen. Hg. von Ulrich von Bülow und Silke Becker. Aus der Gabelsberger'schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Marbach 22007, 297. Eine ›erweiterte Neuausgabe‹ erscheint 2018, hg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Aus der Gabelsberger'schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Zürich 2018.

[110] Kästner (Anm. 109), 22 u. 284. Zur Erwähnung Nanjings am 06.02.1941 heißt es in der Neuausgabe: »Nanking-Regierung Von Japan im chinesisch-japanischen Krieg 1940 eingesetzte chinesische Marionetten-Regierung« (60). Zur zweiten Erwähnung in »Chronologische Punkte«: »Mit dem Angriff Japans auf China begann 1937 der Zweite Weltkrieg in Ostasien. Die japanhörige Nanking-Regierung wurde erst im März 1940 eingesetzt« (330). Rabe und das Massaker werden nicht erwähnt.

[111] Vautrin (Anm. 10), 240, Chapter 7, Anm. 1: »John Rabe (1882-1950), born on November 23, 1882, in Hamburg, was a German businessman who lived and worked in China from 1908 to 1938. In 1937 he worked as the representative of Siemen's Nanjing Office and was actively involved in the preparation and establishment of the Safety Zone. After Nanjing fell to the Japanese, Rabe played a leading role as the chairman of the International Committee for the Nanjing Safety Zone to provide food, shelter and protection for thousands of Chinese refugees against Japanese atrocities and molestation in Nanjing during the massacre period. He left Nanjing for Germany on February 23, 1938. On January 5, 1950, he died in poverty in Berlin«. »The men on the Safety Zone Committee have done magnificent work, giving all their time and energy for the good of the large group of Chinese – letting their own homes be looted. The German business men have been great, too, and there has been excellent team work. Rabe, chairman, has been fearless« (112, 7. Jan. 1938). »Mr. John Rabe […] has been fearless and untiring« (141, Jan. 1938). »Much genuine appreciation was shown for Mr. Rabe and the unselfish way in which he has given himself to the poor of Nanking. Searle expressed for the other members of the committee their appreciation, and a statement signed by all memebers of the committee was given to him, to the German Embassy, and the Siemens Co. He is an exceptional type of business man – one who unconsciously wins friends for his country« (171, 21. Febr. 1938).

[112] Michael Winter: Das Gedenken ist frei. Zeit für Geschichte: Nanjing, die ehemalige Hauptstadt Chinas, erinnert im Massakermuseum an die Schrecken der Vergangenheit. In: FAS Nr. 47, 22.11.2009 V5.

[113] Frank Quilitzsch: Auf der Suche nach Wang Wei. Eine Reise durch China zwischen Damals und Heute. Esslingen 2016. Im zweiten Kapitel ›Nanjing‹ heißt es, 131: »Man brauchte den Platz [des ›Green Restaurant‹] für eine Erweiterung des John-Rabe-Museums. Die Geschichte des Hamburger Kaufmanns, der 1937 beim Einmarsch der Japaner die Siemens & Halske-Niederlassung in Nanjing leitete und durch die Einrichtung einer Schutzzone Tausenden Chinesen das Leben rettete, ist mir bekannt. Erst kürzlich habe ich die Verfilmung der Episode durch Florian Gallenberger gesehen. Innerhalb von acht Wochen richteten die japanischen Besatzer in der südlichen Hauptstadt ein beispielloses Massaker an. Man schätzt, dass den Massenexekutionen bis zu 300 000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Weil John Heinrich Detlef Rabe sich dem mutig entgegen stemmte, wird er heute noch als ›guter Nazi‹ und ›lebender deutscher Buddha‹ in Nanjing verehrt«. Vgl. auch: Sg: Die Reste Rotchinas und die Suche nach Zeit. In: FAZ Nr. 52, 02.03.2017, R4.

[114] Beziehungen zum Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück sind zu diskutieren.

[115] Thomas Rabe (Anm. 1), 488.

[116] Cheng Lu u.a.: John Rabe, Held von Nanjing. In: FAZ Nr. 205, 03.09.2020, 22.

[117] Eine ähnlich regimekritische und in der kulturellen Erinnerung mäßig präsente Position gilt für Hans Paasche (1881-1920): Vom Offizier der kaiserlichen Marine im Kolonialdienst wandelt er sich zum pazifistischen Kolonialismuskritiker, 1920 ermorden ihn Freikorpsleute, in Kolonialismusdebatten ist er wenig präsent.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/bd04.htm
© Burckhard Dücker, 2021