01. Oktober 2021

Liebe Leserinnen und Leser,
es gibt, so schreibt der Kunsthistoriker Savatore Settis, eine Geographie des Heiligen:

„Die Geographie des Heiligen kennt keine Landschaft und lehnt die Geschichte ab. Das Geflecht von Bergen und Tälern und Flüssen, der Pass und die Brücke, das Schiff, das übers Meer fährt, erscheinen ihr vor allem als Punkte, die sich entlang der Linie einer Reiseroute zur Wallfahrtsstätte miteinander verbinden. Die Städte, die Burgen können Bezugspunkte, Stationen sein: Aber eine Karte, die die exakten Bodenerhebungen zeigt, ist nicht nur ‚technisch‘ unmöglich, sondern auch gar nicht wünschenswert. Welche Bedeutung hat es schon, wie breit der Fluss ist? Man kann ja kaum die Tage zählen, die man gehen muss. Auf einem so zielgerichteten Weg wie dem nach Rom oder Santiago de Compostela wirkt es, als würden die Knotenpunkte der Reiseroute nicht von der Organisation der Straßen und der Wartezeiten, sondern vorrangig von einer individuellen Spannung des Reisenden zusammengehalten, der sich hauptsächlich auf eine privilegierte Begegnung mit dem Heiligen zubewegt, in der er sein Heil sucht. Verherrlicht durch die kollektive Wallfahrt, die den Festtagen und dann der Abbitte und dem Sündenerlass entspricht, hat dieser Weg, auch wenn er allein zurückgelegt wird, stets eine eigene irgendwie chorale Dimension: Den Weg der anderen (der anderen vorher und der anderen nachher) nachzugehen bedeutet, das eigene Schicksal, die eigene Hoffnung mit der aller zu vermischen.“

Den Weg der anderen nachzugehen, zu sehen, was diese be-wegt hat, darum geht es.

„Und dennoch birgt diese Geographie des Heiligen, die die echte Geographie zu zerstören und ihr zu widersprechen scheint, eine eigene Wahrheit: Denn peregrinus ist nicht nur der, der sich ‚fuori dalla patria sua‘ (Dante), also außerhalb seiner Heimat bewegt, sondern jeder Christ ist per definitionem ein Fremder in der Welt, aufgrund des Schicksals, das durch Gottes Worte an Abraham schon symbolisch angekündigt wurde: ‚egredere de terra tua [...] et veni in terram, quam monstrabo tibi‘ (Ziehe hinweg aus deinem Vaterland und gehe in das Land, das ich dir zeigen werde) (Gen 12.1).“

Die Leser:innen des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik werden in diesen Worten auch etwas wiedererkennen, was periodisch Thema verschiedener Hefte war: die Lokalisierung wenn nicht des Heiligen, so doch des Religiösen, die Spurensuche nach den kulturellen und religiösen Verdichtungspunkten dieser Erde. Gleich zwei Hefte haben wir der Stadt Paris gewidmet, ein Heft dem Museum als Ort ästhetischer Verdichtung, oder Kirchen als Kulturorten, immer wieder Ausgaben über die documenta (11, 12, 13 und 14) in Kassel und die Biennale in Venedig (52., 53., 54.). Diese Spurensuche werden wir auch in Zukunft kultivieren und fortsetzen.


Dieses Mal also Padua. Wie verortet sich Padua auf der Landkarte des Heiligen – sei es das religiös Heilige oder das ästhetisch Heilige? Die aktuelle Ausgabe des Magazins, die zugleich mit etwa 200 Seiten die bisher umfangreichste ist, trägt den Titel „Kult(ur)ort Padua“, weil in dieser Stadt das Ästhetische und das Religiöse, der Alltag und der Feiertag auf scheinbar unentwirrbare Weise miteinander verknüpft sind. Es ist ein Kult-Ort und ein Kultur-Ort und es ist ein Kulturort, weil es über Jahrhunderte bis in die Gegenwart vor allem ein Kultort war. Und es ist als Kultort deshalb so bedeutsam, weil die besten Künstler der Welt diesen Kultort gestaltet haben. Aber Padua ist eben nicht nur das, es ist auch ein Ort der Emanzipation, der Befreiung von kirchlichen Vorgaben, der Ort des Galileo Galilei, der jüdischen Rabbinerausbildung, der ersten Promotion einer Frau an einer Universität weltweit.

Die Texte in der Rubrik VIEW stellen uns Padua in diversen Formen vor: Andreas Mertin beschreibt verschiedene Verdichtung im Kult(ur)ort Padua, geht auf die Spurensuche nach Reflexionen in Landkarten, Lexika und Literaturen. Karin Wendt beschäftigt sich mit einem Sonett aus dem Canzoniere von Francesco Petrarca. Anne Karakulin steuert einen Reisebericht bei, der ihre subjektive, ganz unvoreingenommene Annäherung an die Stadt wiedergibt. Michael Waltemathe liefert uns eine SW-Fotoserie mit Impressionen eines Besuches in der Stadt aus dem September 2019 und stellt uns darüber hinaus das Pre-Cinema-Museum vor.

In der Rubrik PERCEPTION steuert Wolfgang Vögele unter dem erfrischenden Titel „Der Kongress springt in die Limmat“ Beobachtungen zum diesjährigen Kongress der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie bei.

Unter RE-VIEW finden Sie eine Rezension von Wolfgang Vögele über das Buch „Notizzettel“ von Hektor Haarkötter.

Die Rubrik CAUSERIEN enthält eine Erinnerung an die Nanking-Tagebücher von John Rabe aus der Feder von Burckhard Dücker.

Unter CINEMA entwirft Hans J. Wulff eine Skizze zu einem enzyklopädischen Artikel über die biblischen Plagen im Film.

Unter POST gibt es gebündelte Einsprüche von Andreas Mertin gegen die Diskursverflachung in der theologischen Rede und eine Apologie des Wortes "Erzkatholisch".

Heft 134 des Magazins für Theologie und Ästhetik, das Anfang Dezember 2021 erscheint, steht unter der Überschrift „Weihnachten“. Dazu laden wir zur Mitarbeit ein.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Wolfgang Vögele und Karin Wendt
sowie Jörg Herrmann und Horst Schwebel



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