Bruchstücke von Liebe und Freiheit

Ein Sonett aus dem Canzoniere von Francesco Petrarca

Karin Wendt

Südwestlich von Padua, in den Euganeischen Hügeln zwischen Padua und Ferrara nahe der antiken Via Adriatica, liegt der Ort Arquà Petrarca, bekannt für seine heilenden Thermen, weite Mischwälder, Weinberge, Oliven- und Mandelbäume. Seinen Namenszusatz verdankt er dem Humanisten und Dichter Francesco Petrarca (1304 Arezzo - 1374 Arquà), der hier seine letzten vier Lebensjahre verbrachte und dort begraben liegt.

Petrarcas Netz- und Lebenswerk

Francesco Petrarca wird am 20. Juli 1304 in Arezzo als Sohn des Notars Pietro (Petracco) di Parenzo geboren. Dieser war zwei Jahre zuvor mit Dante Alighieri und anderen Anhängern des Papstes aus Florenz verbannt worden und lebte seitdem mit seiner Familie zunächst noch in der Toskana, in Incisa, Arezzo und Pisa, bis er schließlich ins Exil an den päpstlichen Hof nach Avignon geht. Mit sieben Jahren folgt Francesco seinem Vater in das benachbarte Carpentras. Hier erfährt er eine umfassende Bildung; er studiert Jura, ab 1316 in Montpellier und ab 1320 in Bologna, bricht das Studium jedoch ab. In Folge einer spirituellen Erfahrung 1336 während einer Bergexpedition in den französischen Alpen, die er später augustinisch als conversio, als Umkehr, deutet und in einem Brief an seinen Beichtvater, den Augustiner Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro, literarisch verarbeitet[1], lässt er sich in Avignon zum Diakon weihen; zwischenzeitlich arbeitet er als Kaplan für die Familie des Kardinals Giovanni Colonna. Mit den Schriften von Augustinus wird er sich zeitlebens beschäftigen. Nach Reisen durchs heutige Frankreich, Belgien und Deutschland kehrt Petrarca 1337 nach Avignon zurück, wo er weitgehend zurückgezogen lebt, intensiv forscht und schreibt; 1341 wird er in Rom zum Dichter (poeta laureatus) gekrönt. Es folgen acht Jahre im Dienst der Visconti in Mailand, als deren Gesandter er unter anderem zu Karl IV. nach Prag reist; besonders Galeazzo II. Visconti, Gründer der Universität von Padua, wird sein Förderer. Einen Ruf 1351 an die neu gegründete Universität in Florenz lehnt Petrarca ab – sicher auch aufgrund der zeitgleichen Kriegserklärung von dort an Giovanni Visconti, Herr und Erzbischof von Mailand, nachdem dieser sich mit verschiedenen ghibellinischen Häusern der Toskana verbündet hatte. 1361 stirbt Petrarcas Sohn Giovanni in Mailand an der Pest. 1362 vermacht er einen Teil seiner Bücher einer neu eröffneten öffentlichen Bibliothek in Venedig und erhält dafür einen Wohnpalazzo. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbringt er abwechselnd in der Lagunenstadt, in Padua und in dem Dorf Arquà, wo auch seine Tochter Francesca mit ihrer Familie lebt. Am 18. Juli 1374 stirbt Petrarca in seinem Wohnhaus in Arquà.

Das meiste, was von Petrarcas Leben bekannt ist, wissen wir von ihm selbst, durch seine Schriften und aus seiner Korrespondenz. Petrarcas Interesse war breitgefächert und ebenso vielgestaltig war seine eigene Tätigkeit als Forscher, Kopist, Historiker und Dichter. Er verfasst dialogische Moraltraktate, Lebensbeschreibungen berühmter Römer, Übersetzungen, Kommentare, Naturschilderungen in Prosa und Versform, literarisch stilisierte Briefe und Lyrikwerke.

Als Sammler antiker Manuskripte macht er wichtige Entdeckungen, darunter Handschriften von Cicero und Quintilian. Fast zehn Jahre schreibt er an dem Epos „Africa", einer Geschichte über den Zweiten Punischen Krieg.

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Antikenforschung bilden die Schriften von Vergil, die er sich zunächst durch die Augen von Augustinus aneignet. Es entsteht der berühmte Codex Ambrosianus, eine Vergil-Sammlung mit Kommentaren und weiteren Quellenschriften, die er von dem befreundeten Maler Simone Martini illustrieren lässt.

Ikonographisch wirkmächtig ist seine späte dichterische Allegorie der Trionfi, angelehnt an die antiken Triumphzüge, deren Motive nachfolgend vor allem in der bildenden Kunst aufgegriffen wurden.

Mit Petrarcas Denken und Schreiben verbindet sich für Italien der Beginn der Neuzeit. Als neu, schreibt Winfried Wehle, „galt vor allem das Bild des Menschen, dem er als ‚Vater des Humanismus‘ zu Begriff und Ausdruck zu verhelfen wusste. Modern im späteren Sinne ging er allerdings nicht vor; er brach nicht mit seiner Tradition. Seinen Aufbruch gewann er durchaus noch der zeitgenössischen Figur der Responsion ab. Sie generiert Neues in der Art einer anknüpfenden Abwendung vom Alten.“[2] Petrarca prägte den Begriff und die universelle Idee der rinascita, der Wiederentdeckung, Aneignung und Auslegung der römischen Antike im Sinne einer historischen und ästhetischen Inspirations- und Projektionsfläche, und er formte damit die italienische Gesellschaft und die Gedankenwelt des Frühhumanismus bis heute nachhaltig.

Im Freskenzyklus der „berühmten Männer und Frauen“ (1448-1451), gemalt von Andrea del Castagno im Auftrag des Gonfaloniere di Giustizia, dem Oberkommandierenden der Streitkräfte von Florenz, sehen wir Petrarca als Kanoniker in rotem Gewand, mit der Schreibkladde unter dem linken Arm und die rechte Hand zu einer typisch italienisch deklamatorischen Geste erhoben.

Berühmt wurde Petrarca durch seinen Perspektivwechsel weg von der statischen Traktatliteratur hin zu einer engagierten, patriotisch gefärbten Geschichtsauslegung, wegweisend wurde er aber vor allem wegen seiner Dicht- und Vortragskunst im poetischen Dialog mit seinem Vorbild Dante Alighieri. Auch Dante, so noch einmal Wehle, „war eine Gestalt der Schwelle, aber nach rückwärts; der mit einem unerhörten Aufgebot an Gedanken und Bildern versucht hatte, Gott und Welt noch einmal in eins zu fassen. Petrarca hingegen geht das Wagnis ein, sich gerade auf ihr Differenzverhältnis einzulassen. Der poeta doctus bereitet damit den Weg zum homo novus des Renaissance-Humanismus. Das kunstvoll verspiegelte Werk des Francesco Petrarca hat sich dabei dem Projekt einer ästhetischen Anthropologie verschrieben. Dies gilt in besonderem Maße für das Buch, das heute Weltruhm besitzt, den Canzoniere.[3] Mit Petrarca beginnt sich die mittelalterliche Weltordnung in einen humanistischen Kosmos zu transformieren, in dem der fragende Mensch, dessen Denken und vor allem dessen Fühlen zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Rerum vulgarium fragmenta oder: ll Canzoniere

Die größte Leistung von Petrarca liegt aus heutiger Sicht in seiner Lyrik. Über einen langen Zeitraum, laut dem Codex Vaticanum von etwa 1338 bis 1369, entsteht ein Zyklus von 366 Gedichten: 317 Sonette, 29 Kanzonen, neun Sestinen, sieben Balladen und vier Madrigale. Der ursprüngliche Titel lautete: „Rerum vulgarium fragmenta“ ('Fragmente volkstümlicher Dinge'). Heute heißt das Werk „Il Canzoniere" (‚Der Sänger‘). Ab 1470 erscheinen die ersten gedruckten Ausgaben und 1501 kommt in Venedig eine durchgesehene Ausgabe bei Aldus Manutius heraus. Es folgen weitere Editionen und im frühen 16. Jahrhundert die ersten Kommentare, u. a. von Francesco Filefo, Alessandro Vellutello und Giovanni Andrea Gesualdo. Bald liest und imitiert man Petrarca in ganz Europa. Da er den Canzoniere anders als seine übrigen Arbeiten nicht in klassischem Latein, sondern im toskanischen Volgare, dem gesprochenen Italienisch seiner Zeit und Region, verfasst hat, soll er dem Werk einigen Quellen zufolge eher privaten Charakter zugemessen haben; er muss dessen epochale Wirkung aber mindestens geahnt haben, hat er doch bis zum Ende seines Lebens daran gearbeitet und gefeilt. Dass er Bezeichnungen wie „verstreute Verse“, „Kleinteile“ oder „Bruchstücke“ wählte, hält auch Wehle nicht für einen „Bescheidenheitstopos"; sie deuten vielmehr an, dass Petrarca von einer eigenen ästhetischen Qualität des Fragmentarischen überzeugt war.[4]

Der Titel „Il Canzoniere“ zeigt an, dass es um gesungene Gedichte in der Tradition der Trobadordichtung geht, die Petrarca bereits in Avignon kennengelernt hatte. „Sonett“ bedeutet „kleines Tonstück“ (ital. sonetto von lat. sonare ‚tönen, klingen‘, sonus ‚Klang, Schall‘). Anders als beim Madrigal gibt es für ein Sonett jedoch keine eigens komponierte Melodie, der Vortrag gleicht eher einem Sprechgesang;  vielleicht ähnlich wie im modernen Rap geht es um eine kunstvoll rhythmisierte Lebensbeichte über Ruhm und Leiden des Dichters, um den sprachlichen Klang, um die Musikalität der Worte und Reime. So erklärt es Silke Leopold:

„Text – Klang – Emotion: Diese drei sind eins, und sie sind der Stoff, aus dem der Canzoniere gemacht ist. Mehr als 300 der 366 Gedichte im Canzoniere sind Sonette, und sie quellen über von Verweisen auf das Singen … Auf den ersten Blick mag es überraschen, auf den zweiten entfaltet diese Beobachtung aber ihre Logik: Zu Petrarcas Lebezeiten wurden seine Sonette nicht vertont, wie überhaupt der Canzoniere, soweit uns die Überlieferung diese Aussage gestattet. Wir kennen eine einzige Komposition, und sie betraf kein Sonett, sondern ein Madrigal aus dem Canzoniere. Das ist kein Widerspruch zu der Idee des Sonetts als musikalischer Form: Gerade weil die Sonette in gesungener Form vorgetragen wurden, bedurften sie keiner wie immer gearteten Veredelung oder auch Verkünstelung durch komplexe musikalische Strukturen. … Eine inhaltliche Interpretation des Gedichts durch die Musik geschah, wenn denn überhaupt, durch den musikalischen Vortrag, die Interpretation des Sängers, der seinen Text wie ein Schauspieler ausgestaltete, nicht aber durch die Melodien selbst.“[5]

Ein einzelnes Sonett besteht aus 14 metrisch gegliederten Verszeilen, die in der italienischen Originalform in vier kurze Strophen eingeteilt sind: zwei Vierzeiler (Quartette) und zwei sich daran anschließende Terzette. Idealerweise folgt im italienischen Sonett auf eine These im ersten Quartett die Antithese im zweiten Quartett und die Synthese in den Terzetten. Petrarca entwickelt eine besonders klare, strenge Form, die als Petrarca-Sonett nach ihm benannt ist.

Gleich zu Beginn seines Vortrags gibt der Canzoniere eine Art Intro, das seine Verfassung beschreibt, er stimmt darin den „Sound" an, um die Zuhörenden für sich und seine Gefühlslage einzunehmen, damit sie mitgehen:

Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono
di quei sospiri ond'io nudriva l'core
in sul mio primo giovenile errore
quand'era in parte altr'uom da quel ch'i sono

Ihr, die ihr in verstreuten Versen hört den Klang
jener Seufzer aus denen ich das Herz ernährte
in meinem ersten jugendlichen Irrtum
als ich in Teilen ein anderer (Mensch) war als jener der ich bin.

Del vario stile in ch'io piango e ragiono
fra le vane speranze e l'van dolore
ove sia chi per prova intenda amore,
spero trovar pietà, nonché perdono.

Für den mannigfaltigen Stil, in dem ich weine und rede/argumentiere,
zwischen leeren Hoffnungen und eitlem Schmerz,
wo jemand sei, der wirklich Liebe intendiert,
da hoffe ich zu finden Erbarmen, wenn nicht Vergebung.

Was den Canzoniere Petrarca bewegt, ist das Phänomen der Liebe und das, was sie in seinem Innen-Leben an Gefühlen, Stimmungen, Turbulenzen und Verfehlungen, an Gedanken und Fragen auslöst und bewirkt; all das wird kunstvoll gespiegelt in Bildern und rhetorischen Metaphern der Antike einerseits und der christlichen Erzählwelt andererseits. Das Hauptthema wird gerahmt und unterbrochen von vereinzelten Betrachtungen zu religiösen, politischen und ethischen Themen – etwa die Schluss-Kanzone „Alla Vergine“, eine Fürbitte an Maria, oder die Kanzonen „Italia mia“ und „Spirto gentil“ über seine Heimatstadt Arezzo, für die er sich ein Ende von Bürgerkrieg und Fremdherrschaft erhofft.

Laura, Liebe meines Lebens

Nach dem Vorbild von Dantes Vita nova und unter dem Einfluss des darin formgewordenen Dolce stil novo  thematisiert und reflektiert Petrarca im Canzoniere seine unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau namens Laura, und später seine Trauer über ihren Tod; so wird die Sammlung von Editoren heute zweigeteilt: in die Gedichte, die zu Lebzeiten der „Madonna Laura“ geschrieben wurden und solche, die nach ihrem Tod 1348 entstanden.

Seine erste Begegnung mit Laura, wahrscheinlich mit Laura de Noves, findet in Avignon während eines Gottesdienstes statt, den Petrarca mit Verweis auf die frühchristliche Zahlensymbolik als Beginn seiner Leidensgeschichte auf einen Karfreitag, den 6. April 1327, datiert, dem Kalender nach jedoch ein Ostermontag. Petrarca zufolge stirbt Laura in Avignon an der Pest, der Tag wieder ein 6. April.

Im Italienischen bezeichnet man den Moment, in dem man sich auf den ersten Blick verliebt, auch als „colpo di fulmine“, als Blitzschlag; so erfährt es auch Petrarca: um jenen Augenblick zu charakterisieren, der ihn dauerhaft verwundet, greift er auf das seit Ovid vertraute Motiv von Amors Pfeils zurück, der ihn wie aus dem Nichts trifft, ohne dass er sich noch wehren kann. Ein einziger Blick genügt, um fortan sein Inneres mit der Sehnsucht nach Laura zu bewegen. So heißt es im zweiten Sonett:

Per fare una leggiadra sua vendetta
et punire in un dí ben mille offese,
celatamente Amor l’arco riprese,
come huom ch’a nocer luogo et tempo aspetta.

Um seine Rache süß zu machen
und zu bestrafen in einem von gut tausend Angriffen,
nahm Amor heimlich seinen Bogen,
wie jemand der um zu schaden Ort und Zeit abpasst.

Von der historischen Laura haben wir leider kein zeitgenössisches Bild. Petrarca schreibt, er habe bei Simone Martini ein Bildnis in Auftrag gegeben, es gilt aber als verschollen. In der heute als Museum zu besichtigenden Casa del Petrarca in Arquà, die Francesco I. da Carrara, damaliger Stadtregent von Padua, ihm als Alterswohnsitz geschenkt hatte, finden sich Fresken, die der Nachbesitzer Pietro Paolo Valdezocco (dort wohnhaft 1546–1556) im 16. Jahrhundert in Erinnerung an den Dichter anfertigen ließ; ein Friesfresko in dem Saal mit dem schönen Namen stanza delle Visioni hält in einer zeichenhaft intensivierten Darstellung den schicksalhaften Moment der ersten Begegnung fest. Hier ist es jedoch nicht Amor, sondern ganz im Sinne der florentinischen Renaissance die Frau Laura auf Augenhöhe, die ihm – unwissend, ohne ihn zu sehen – die Verletzung zufügt und ihm sein Herz entreißt, wobei die geschlossenen Augen Lauras gleichwohl als ein indirekter Verweis auf den in der Emblematik häufig als blind dargestellten Amor verstanden werden können. Petrarca erstarrt und verliert seine Handschuhe, vielleicht ein Zeichen für den Verlust von Contenance – sein Leben gleitet ihm aus den Händen.

Wir wissen nicht, ob es die einzige Begegnung war, aber zu einer gelebten Beziehung, zu einer realen Berührung mit Laura kam es nie. So wird die Sehnsucht nach ihr zur Triebfeder eines jahrzehntelangen Schreibens ihr zu Ehren, bis sich „‚Laura‘ unter dem … Blick in reine Sprache auflöste“.[6]

Um exemplarisch nachzuvollziehen, wie Petrarca das, was er konkret empfindet, sprachlich so entfaltet, dass aus dem Nachempfinden ein Nachdenken über Liebe, Freiheit und Kunst beginnen kann, möchte ich das Sonett 97 aus dem zweiten Teil des Canzoniere übersetzen und versuchen, es zu lesen.

Ahi, bella libertà! (Sonett 97)

Das Sonett 97 aus dem zweiten Teil des Canzoniere, also nach Lauras Tod, ist eine kurze, direkte Rede des Sängers an die Freiheit, eine Art inneres Zwiegespräch, eine Auseinander-Setzung mit sich selbst. Der erste Vers vergegenwärtigt rückblickend noch einmal den Augen-Blick, in dem ihn die Liebe zu Laura oder auch die Besessenheit von ihr wie ein Pfeil trifft und ihn seine vormals selbstverständliche Freiheit kostet. Petrarca/der Sänger erinnert sich, wie er sein Leben empfunden hat, bevor er Laura zum ersten Mal sah. Es war schön, frei zu sein! Seit der Begegnung erfährt er sich gebunden, unheilvoll besetzt von dem Gedanken an ihre unerreichbare Schönheit und dem verbotenen Begehren, sie doch für sich zu gewinnen. Damals hat ihn das Gefühl von Freisein verlassen; diesen Verlust durchlebt er jetzt noch einmal. Das italienische „ahi" ist das Äquivalent für das deutsche „aua“. Sogar der Laut für das Empfinden von Schmerz ist tradiert!

Ahi, bella libertà, come tu m’ài,
partendoti da me, mostrato quale
era ’l mio stato, quando il primo strale
fece la piagha ond’io non guerrò mai!

Aua, schöne Freiheit, wie hast du,
von mir gehend mir gezeigt, welcher
mein Zustand war, als der erste Pfeil
die Wunde schlug von der ich niemals heilen werde!

Wenn im italienischen Sonett auf das im ersten Quartett Vorgetragene im zweiten idealerweise eine Antithese folgt, ist das hier nur indirekt der Fall. Petrarca schildert, wie er sich dem, was die Augen ihm an Schönheit gezeigt und an Lust versprochen haben, nachgegeben hat und die Stimme der Vernunft nicht mehr hat gelten lassen. Interessant finde ich die Verwendung des altitalienischen Verbs invarghire (ital. far lasciare vargo, ‚leer werden lassen‘). Es reflektiert m. E. diesen Moment des sich Verliebens auch als Moment des Leerwerdens, indem sich der Blick im Begehren nach außen richtet.

In zweiten Versteil reflektiert er die mögliche – biographische – Ursache, warum er in diesen Zwiespalt hineingeraten ist, indem er grundsätzlich die Erfahrungsdifferenz von Kunst und Leben bedenkt. Die Wahrnehmung und Beurteilung des Schönen, in der er sich seit seiner Jugend geübt hat, geht einher mit einer Verachtung für das Werk von Sterblichen, für das „vernünftige“ Leben, für ein Streben nach den Maßstäben der Vernunft. Resigniert, müde sei er, als habe er schon zu oft, zu lange darüber nachgedacht. 

Gli occhi invaghiro allor sì de’ lor guai,
che ’l fren de la ragione ivi non vale
perch’ànno a schifo ogni opera mortale.
Lasso, così da prima gli avezzai!

Ich ließ die Augen einst sich so verlieben in ihr Unheil,
dass ebenda vernünftiger Widerstand nichts gilt,
weil sie jedwedes Werk von Sterblichen verachten.
Müde, ach, ich hab sie so zuerst daran gewöhnt!

Das nachfolgende erste Terzett beginnt mit einem rätselhaften Satz, einer doppelten Negation, was erst einmal im Italienischen nicht selten ist. Dennoch erschließt sich mir der sprachliche Sinn nicht eindeutig. So sei das Terzett zunächst zitiert.

Né mi lece ascoltar chi non ragiona
de la mia morte; et solo del suo nome
vo empiendo l’aere, che sì dolce sona.

Es ist mir nicht erlaubt zu hören wer nicht denkt
an meinen Tod; und allein mit ihrem Namen
gehe ich die Luft erfüllen, der so lieblich klingt.

Die Wiener Werkedition[7] von 1827 übersetzt vergleichbar:

Ich darf, wer meines Todes nicht gedenket,
Nicht hören, nur ihres Nahmens Süße,
Des lieblich tönenden, ruf' ich den Lüften.

Es könnte bedeuten: Es wäre Petrarca möglich gewesen, die anzuhören, die seinen Tod bedenken, die sehen, dass ihn diese Liebe ins Unglück führt, er lässt es jedoch nicht zu, er erlaubt es sich nicht, bis zum Schluss. In diesem Sinn übersetzt Jürgen von Stackelberg[8]:

Ich hörte nicht auf die, die meinen Tod
heraufbeschworen;
und nur mit ihrem Nahmen füllte ich das All,
weil er so süß klingt.

Als Petrarca diese Zeilen verfasst, ist Laura bereits gestorben. Sein dichterisches Lob ihrer Person setzt er nach ihrem Tod fort. Auch der Gedanke an die eigene Endlichkeit, den eigenen Tod, ändert für ihn daran nichts. Darin läge eine andere, zugegebenermaßen sehr forcierte Deutungsmöglichkeit dieser Zeilen, nämlich der Gedanke, dass mit dem Tod die Beteiligung am Diskurs endet, nicht aber der Diskurs selbst.[9] Niemand weiß, wer nach dem Tod an ihn denkt, ob jemand seiner gedenkt oder ob man vergessen wird. Erinnern, Gedenken und Vergessen sind Erfahrungskategorien der Lebenden. Das gilt auch für die Erfahrung der Kunst.

Ähnlich argumentiert, wenn ich es recht verstehe, Wehle. Er schreibt zur Zäsur im Canzoniere:

„Mit starken Zeichen versieht der Autor diese Schwelle zur zweiten Lebenshälfte: ihr [Lauras] Tod scheidet den Canzoniere in zwei Teile. Das Manuskript letzter Hand (Cod. Vat. lat. 3195) erhebt ihn zu einer Diskurskatastrophe. Durch Laura hatte das Ich zur Sprache des lauro gefunden. Ihr Tod aber verschlägt sie ihm auf radikale Weise. Sieben Seiten der kostbaren Pergamenthandschrift bleiben an diesem Wendepunkt … leer: ein Verstummen, das den Verlust ihrer Sichtbarkeit poetisch demonstriert.“[10]

Im letzten Vers, dem zweiten Terzett des Sonetts 97, geht es noch einmal ausdrücklich um die Liebe. Aber ist es nur die Liebe zu Laura? Die Begegnung mit ihrer Schönheit hat eine seelische Wunde geschlagen, die sich nicht mehr schließen lässt, weil die fortan gefühlte Liebe unerfüllt blieb, mit dem Tod der Geliebten endgültig. Aber in dieser lebenslangen Sehnsucht, in dem sich selbst reflektierenden Verlangen, ist etwas Neues entstanden, nämlich das Verlangen, das Erfahrene in Worte zu fassen, es zu formen und zum Klingen zu bringen. Hier beginnt die Liebe zur Kunst.

Im letzten Vers pointiert er erneut die Singularität und Exklusivität der Geliebten. Kein anderer Mensch vermochte den Dichter Petrarca so zu inspirieren und durch sein Schaffen zu begleiten wie sie. Aber es geht auch um die ästhetische Vergegenwärtigung des dichterischen Prozesses, um die mediale Distanz, durch die das / die Betrachtete endlich und ewig zugleich erscheint. Ich denke, Petrarca hat Recht: die Kunst ist der einzige Weg, den Menschen auf Erden zu preisen.

Amor in altra parte non mi sprona,
de né i pie’ sanno altra via, né le man come
lodar si possa in carte altra persona.

Liebe an anderer Stelle spornt mich nicht an,
weder die Füße wissen einen anderen Weg noch die Hände wie
man einen anderen Menschen auf Papieren preisen kann.

Dichterisches Alltagszeugnis

In der Casa del Petrarca kann man ein – etwas morbide inszeniertes –  anekdotisches Detail entdecken, in dessen Spur man einen sinnlichen Eindruck von Petrarcas Alltag und vor allem von seinem Humor und Charisma gewinnt: in der stanza di Venere, dem ehemaligen Schlafzimmer, befindet sich ein barockes Wandepitaph mit der Reliquie einer mumifizierten Katze, vermutlich aus dem 17. Jahrhundert. Cristina Nadotti ist der Geschichte dahinter in einem schönen Dossier für die italienische Zeitung la Repubblica nachgegangen.[11] So erinnert das Reliquiar an Petrarcas zugelaufene Hauskatze, die seine Bücher vor dem Mäusefraß bewahrte. Das nebenstehende Fresko eines unbekannten Malers in der Sala dei Giganti, heute Teil des neuen Palazzo Liviano in Padua, zeigt den Dichter in seinem Studierzimmer am Schreibpult, und davor auf dem Boden zusammengerollt liegend seine Katze (die allerdings eher einem Hund ähnelt).

Sie ist ihm in seinen letzten Lebensjahren so ans Herz gewachsen, dass er seinem Schüler Giovanni Boccaccio in einem langen Brief von ihr erzählt und ihn darum bittet, sie nach seinem Tod einbalsamieren zu lassen und ein Epigramm zu verfassen. Petrarca wäre nicht Petrarca, wenn er nicht auch diese Beschreibung seines Haustiers und Gefährten geist- und anspielungsreich assoziieren würde. So schreibt er im Sommer 1374 seinem Freund diese Zeilen:

„Laura, die Liebe meines Lebens, deren Schönheit ich nie besessen habe und die mir die Pest vor einer Ewigkeit in Avignon genommen hat, noch jetzt, so lange nach ihrem Tod ist sie die unangefochtene Königin meines Herzens. Und doch ist eines Tages, inzwischen ist es fast zwei Sommer her, eine Katze hereingekommen, um an meinem Leben teilzuhaben, mit der klaren Absicht, den ersten Platz darin einzunehmen. Seitdem streiten sich diese beiden Wesen um das Zepter meines Herzens und fechten einen langen anstrengenden Kampf auf dem Schlachtfeld meiner Gedanken und Gefühle, noch ohne Sieger …

Die Katze ist dreifarbig wie nur wenige in dieser Gegend, hat lange Pfoten und einen sanften Charakter. Ihr Fell ist weich wie die feinste Seide, aber es sind die Augen, die sie so besonders machen und die sie von allen Kreaturen ihrer Art unterscheiden. Ihr linkes Auge ist leuchtend grün wie ein Bergsee, das andere hat die geheimnisvolle Farbe von funkelndem Bernstein. Sie ist eines schönen Sommertages, während ich meine Vitensammlung berühmter Männer fertigstellte, in mein Haus und in mein Herz getreten. … Manchmal bin ich geneigt zu denken, wenn Gott ein Mensch sein konnte, hätte er auch eine Katze sein können, so vollkommen ist dieses Tier. Aber ich würde es nie wagen, diesen Gedanken auszusprechen, ich bitte Dich, bewahre auch Du ihn für dich. …

Sie achtet sehr auf ihre Freiheit. Sie schmeichelt dir nur, wenn es ihr passt. Wenn ich sie rufe, kommt sie nur, wenn sie Lust dazu hat. Ich kenne keine anderen so freien und unabhängigen Tiere. Erinnerst Du dich? Auf dem Aventin gibt es einen Tempel der Freiheit, den der römische Konsul Tiberius Sempronius Gracchus hat errichten lassen, bevor unsere Herren geboren wurden. Im Innern kann man eine Allegorie der Freiheit bewundern, dargestellt als eine Frau mit einem Schwan und einer zerbrochenen Kette zu ihren Füßen, und an der Seite eine Katze mit dem Schwanz vor den Vorderpfoten. Die Katze war schon im paganen Rom das Symbol der Freiheit. Als ich damals in Rom lebte, habe ich nie darauf geachtet. Aber jetzt, da mir dieses Erinnerungsdetail wieder in den Sinn kommt, hat es sich mir vollkommen erhellt.

Die Bücher sind immer mein Leben gewesen. Deshalb soll sie, wenn sie sterben wird, einbalsamiert werden und ihr Gedächtnis für immer in Ehren gehalten werden. ... Würdest Du mir den Gefallen tun, ein Epigramm für das Epitaph zu verfassen? Ich bitte dich darum als letzten Wunsch, ich bin dazu nicht mehr in der Lage. Ich liebe sie zu sehr und könnte es nicht ertragen, ihren Tod vor der Zeit zu begehen.“[12]

***

Wer hören möchte, wie Petrarca auf Deutsch rezitiert klingt, kann dies hier.

Anmerkungen


[1]    Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux, Lat./Dt. Hrsg. u. Übers.: Kurt Steinmann, Reclam Universal-Bibliothek Bd. 887, Leipzig: Reclam 1995.

[2]    Winfried Wehle: Im Labyrinth der Leidenschaften. Zur Struktureinheit in Petrarcas Canzoniere, in: Petrarca und die Herausbildung des modernen Subjekts, [Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, 2], hg. v. Paul Geyer und Kerstin Thorwarth, Göttingen: V&R Unipress 2009, S. 73-108, hier. S. 73.

[3]    Ebd.

[4]    Ebd.

[5]    Silke Leopold: „In rime sparse il suono“. Das Sonett und seine musikalische Geschichte, in: Das Sonett und die Musik. Poetiken, Konjunkturen, Transformationen, Reflexionen. Beiträge zum interdisziplinären Symposium in Heidelberg vom 26. bis 28. September 2012 [Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 320], hg. von Sara Springfeld, Norbert Greiner, Silke Leopold, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016, S. 1-25, hier: S. 4-5.

[6]    Geraldine Gabor, in: Francesco Petrarca: Canzoniere. Nach einer Interlinearübersetzung von Geraldine Gabor in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer. Mit Anmerkungen zu den Gedichten von Geraldine Gabor. Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1989. Zweisprachige Ausgabe. Zitiert nach: Die Deutsche Gedichtebibliothek. Gesamtverzeichnis deutschsprachiger Gedichte: ‚Petrarca‘. Leider lag mir diese Übersetzung nicht vor.

[7]    Petrarca, Francesco: Italienische Gedichte. Band 1, Wien 1827, S. 113.

[8]    Francesco Petrarca. Liebesgedichte an Laura, ausgewählt, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Jürgen von Stackelberg, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag 2004, S. 33.

[9]    „Die Todeserfahrung", so der Philosoph Christoph Menke, „ist ein Problem für unsere Beteiligung an Diskursen, nicht für unsere Diskurse selbst.“ (Ders.: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 259.)

[10]   Wehle, a.a.O., S. 85.

[11]   Cristina Nadotti: Ad Arquà c'era una volta una gatta che fece innamorare Petrarca, la Repubblica 12. Juli 2021.

[12]   Brief von Francesco Petrarca an Giovanni Boccaccio, geschrieben zwischen dem 4. Juni und dem 12. Juli 1374, zitiert nach: Doriana Goracci: Tre sfumature di gatta: un'estate con Petrarca, AgoraVox Italia, 14. August 2018. Dt. Übersetzung v. d. V.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/kw93.htm
© Karin Wendt, 2021