Darf Salome in der Kirche tanzen?

Zur Kontroverse um den Videoclip von C. Tangana und Nathy Peluso

Andreas Mertin

Der Anlass

Es scheint ein irgendwie schon vertrauter Sturm im Wasserglas, wenn nach der Veröffentlichung eines Musik-Videoclips, der in einer Kirche spielt und dabei auch Tanz und erotische Motive einsetzt, ein Aufschrei empörter konservativer Christen zu hören ist. Das ist bekannt, seitdem Ende der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts Madonnas Clip „Like a prayer“ die (katholische und evangelikale) Welt erregte.

Und wann immer man im Feuilleton von einem neuen Musikvideo liest, das die Gläubigen aufregt (Link 1, Link 2), schüttelt man mit dem Kopf. Man wendet sich ab, weil das ja nun wirklich keine überraschende Mitteilung ist. Das Reiben am christlichen Glauben ist in der Popkultur inzwischen so routiniert und vor allem so kalkuliert geworden, dass eine Beschäftigung mit dem konkreten Phänomen kaum noch notwendig zu sein scheint.

Im vorliegenden Fall ist das jedoch meines Erachtens anders. Zwar setzt auch hier die Provokation die bekannt-vertrauten Mittel ein: ein heißer Tanz in einer berühmten Kirche, die Beschwörung des Teufels und viel bloße bzw. verpixelte nackte Haut. So weit, so bekannt.

Was das aktuelle Beispiel nun interessant macht, ist einerseits, dass es all das in den Videoclip mit aufnimmt, also die im Voraus bereits erwartbaren Reaktionen und Gegenreaktionen bereits vorab thematisiert und andererseits mehrere narrative Zwischeneben einbaut, die jede einfache lineare Lesart des Clips verhindert. Das ist, so muss man sagen, ganz gut gemacht.

Worum geht es? Anfang Oktober 2021 erschien das Musikvideo „Ateo“ (Atheist) des spanischen Rappers C. Tangana und der argentinischen Sängerin Nathy Peluso. Dieses Video zeigt einen erotischen Bacha­ta-Tanz in der Kathedrale der Stadt Toledo (Catedral de Santa María de la Asunción de Toledo). Der Liedtext schildert, wie sich ein junger Mann in eine junge (vielleicht anrüchige) Frau verliebt und sie zueinander finden, musikalisch beerbt es den aus der Dominikanischen Republik stammenden Stil Bachata. Visuell spielt es mit diversen Verknüpfungen aus der Kunst- und Kulturgeschichte.

Die Musik

Vereinfacht gesagt – man möge mich korrigieren – ist der Anfang der 60er-Jahre entstandene Bachata ursprünglich eine Gitarrenmusik für Verliebte, ihr Ursprung stammt aus der Dominikanischen Musik. Später wird der Musik auch ein Tanzstil beigesellt, der dann in den 2000er-Jahren zu einer großen Popularität führt. Noch in den 80er-Jahren galt Bachata „als vulgäre Musik der unteren Bevölkerungsschichten, wurde mit Prostitution, Kriminalität und Armut assoziiert und … kaum im Radio gespielt. Das änderte sich erst um 1990, vor allem durch Bachata Rose von Juan Luis Guerra, das einen Grammy gewann.“ (wikipedia)

Die Künstler:innen

C. Tangana, eigentlich Antón Álvarez Alfaro, ist ein 1990 geborener spanischer Rapper und zählt heute zu den einflussreichsten und erfolgreichsten Musikern Spaniens. Sein ebenfalls 2021 erschienenes Musikvideo zu „Demasiadas Mujeres“ (Zu viele Frauen) spielt bereits im Ordo der katholischen Kirche und zeigt seine eigene Beerdigung.

Nathy Peluso ist eine 1995 in Argentinien geborene Sängerin, Texterin und Produzentin. Seit 2004 lebt sie in Spanien. 2020 wurde sie bekannt mit dem post-feministisch zu nennendem Song „Sana Sana“.

Das Cover

Werfen wir zunächst einen Blick auf das Cover der Single. Auf den ersten Blick scheint es mit dem noch vorzustellenden Liedtext und dem Musikvideo nicht zu harmonieren. Es ist zwar auch ein mehrschichtiges ‚Gemälde‘, aber scheinbar mit einer etwas verworrenen Bildaussage. Im Vordergrund sehen wir eine nackte Frau mit langen Haaren, die von einem dunklen Tiermonster ergriffen wird. Darüber erhebt sich ein himmlischer Hofstaat, der das Geschehen auf der Erde emotionsgeladen beobachtet, nur dass an Stelle Gottvaters ein von Engeln getragenes Smartphone zu sehen ist. Erkennbar viel Ironie.

Von Aufbau und Anlage her erinnert das Bild an klassische Weltgerichtsdarstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts. Im Vordergrund wäre dann freilich keine Verführungsszene zu sehen, sondern der Versuch eines Teufels, eine aus dem Erdreich auferstehende Frau in die Hölle zu zerren. Man könnte an Signorellis Darstellung des Jüngsten Gerichts im Dom von Orvieto denken (auch Giottos Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Scrovegni-Kapelle in Padua zeigt dieses Motiv). Und tatsächlich zeigt uns ein Blick in das Musikvideo, dass wir es hier mit der Umsetzung eines Weltgerichtsmotivs aus der Kathedrale in Toledo zu tun haben. Nach 3:45 Minuten zeigt es einen Tanz der beiden im Kapitel­saal der Kathedrale und schwenkt dabei auch auf einen Ausschnitt eines dort befindlichen Wandfreskos von Juan de Borgoña (1470-1536), es ist die Weltgerichtsdarstellung über dem Ausgang des Kapitelsaals. Die Frau, die dort zu sehen ist, ist auf der von den Betrachter:innen aus gesehenen linken, ‚guten‘ Seite. Sie gehört zu jenen, die ins Paradies kommen werden. Aber der Teufel in Gestalt eines Wildschweins versucht dennoch, sie an den Haaren in die Hölle zu ziehen, wo schon all die anderen Todsünder:innen warten, die Wollüstigen, Zornigen, Neidischen usw.

Bleibt noch jenes Detail auf dem Cover, das die Darstellung des triumphierenden Christus in der Deesis zwischen Maria und Johannes durch eine Deesis von zwei Engeln mit einen Smartphone ersetzt. Das ist zunächst einmal eine, wie ich meine, etwas kindische Idee, auch wenn sie sich vielleicht auf Martin Luther berufen könnte: „Woran dein Herz hängt, das ist dein Gott“. Aber so richtig treffend ist der Vergleich des Smartphones mit Gott nicht.

Nun spielt das Smartphone in dem noch zu analysierenden Musikvideo tatsächlich die Rolle eines (angemaßten) Richters, eine Funktion, die im Video sehr kritisch dargestellt wird. Das Smartphone als Symbol der Social-Media, die alles aufzeichnen und niemals vergessen, das würde gut zum Liedtext passen, der ja von Geschichten der Vergangenheit erzählt, die immer wieder hervorgeholt werden. Das Netz vergisst nichts.

Schaut man sich die entsprechenden Bilder des Originals im Internet an, dann kann man gut die kompositorischen Änderungen studieren, die durchaus programmatisch vorgenommen wurden. Ist die Frau auf dem Cover ganz individuiert, so geht es in der Weltgerichtsdarstellung im Kapitelsaal um die Auferstehung aller Menschen. Geht es im Weltgericht um die letzte Gerechtigkeit, geht es auf dem Cover mehr um Nacktheit und Sünde. Vor allem ist es das, was das Cover weglässt, was die Differenz ausmacht. Das Cover verzerrt die Szene zur Ironie und Groteske, wo die Vorlage durchaus die Menschlichkeit der Personen zur Geltung kommen lässt.

Der Liedtext

Auf den ersten Blick erscheint der Liedtext vielleicht nicht sehr provokativ, eher raunend als konkret (ähnlich wie das ja auch bei Madonnas ‚Like a prayer“ war). Er setzt ein mit der Feststellung der Sängerin „Diese Liebe ist wie eine Religion“. Und das ist von einer eigentümlichen Ambivalenz, die einem erst am Ende des Liedes richtig deutlich wird. Zunächst denkt man an Ulrich Becks „Liebe als Nachreligion“ bzw. „Die irdische Religion der Liebe“. Aber hier ist „Religion“ in ihrer ganzen Abgründigkeit gemeint, in ihren guten, wie auch in ihren fatalen Bindungen. Das wird nach und nach klar. Denn dann antwortet der Sänger: „Gefährliche Angelegenheiten der Vergangenheit verfolgen mich noch, Geschichten, die die Leute nicht vergessen haben, und sie erinnern mich jeden Tag. Aber nun lebe ich hier und eine alte Wunde wird mich nicht töten. Lass sie böse reden, lass sie doch an Neid sterben.“ Das könnte der Beginn einer wunderbaren Verstrickungsgeschichte sein, wird aber im Folgenden eher der Fantasie der Hörer:innen überlassen und nicht weiter erläutert.

Dann folgt ein Duett der beiden in dem sie vier Mal singen: „Ich war Atheist, aber jetzt glaube ich, denn ein Wunder wie Du musste vom Himmel kommen.“ Oder aus der Hölle. Weiter im Duett: „Sie sprechen über mein Leben, als hätten sie es erlebt. Aber während sie eine Geschichte erzählen, sind es doch wir beide, der Bachatas und eine Flasche. Ich will dein langes Haar, deinen Mund und dein Gesicht anbeten. Möge die Jungfrau von Almudena mir verzeihen für das, was ich in Deinem Bett tue“. Hier wechselt das Lied sozusagen die Location, die Heilige Jungfrau von Almudena ist in der Kathedrale von Madrid verortet und ist dort die Patronin der Stadt.

Weiter geht es im Text, die Ebenen werden vielschichtiger: „Du hast mich aus der Dunkelheit herausgezogen. Wir sind eine ernste Angelegenheit. Du weckst den Teufel auf, der mir meine Spiritualität nimmt. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Nichts kann dich ersetzen. Dein Mund ist wie mein Haus. Was sie sagen, scheint Gift. Wenn sie mich fragen, werde ich sagen, dass ich Dich nicht kenne.“ Ein kleiner Rekurs auf das Petrus-Motiv, mitten in den Text eingeschoben. „Ich möchte schreien, weil ich dich vermisse. Gib mir das heilige Wasser, um meine Gier zu stillen. Der letzte Romantiker. El Madrileño!“ Und dann wiederholt sich der Refrain. [El Madrileño ist der Titel des letzten Studio-Albums des Rappers C. Tangana, also eine Selbstreferenz. El último romántico ist ein Liedtitel von Nicola Di Bari aus dem Jahr 1971.]

Ein wenig erinnert mich das alles an das Lied „Je te rends ton amour“ von Mylene Farmer, nur dass der Kontext ein anderer ist. Bei Mylene Farmer ging es 1999 um den Missbrauch in der katholischen Kirche, darum geht es im vorliegenden Lied nicht. Allenfalls Prostitution könnte als Subtext der Musik des Bachata und des Liedtextes eine Rolle spielen. Aber das hätte ja eine gute innerkatholische Tradition, die Reue der Sünderin, sei es Maria Magdalena, sei es eine andere spätere Heilige. An keiner Stelle verlässt der Liedtext den Ordo der katholischen Tradition – so viel kann man jetzt schon sagen.

Der Dreh-Ort

Der Drehort des Clips ist die Kathedrale der Stadt Toledo. Sie ist ehemalige Grablege der spanischen Könige und auch heute den Granden von Spanien heilig, wie ich einmal bei einem Besuch feststellen konnte, als diese dort an einem nationalen Feiertag mit ihren Doggen und Falken im Innersten der Kirche einen Gottesdienst feierten.

Die Kathedrale von Toledo ist ein eigentümlicher Kosmos, der einen modernen Menschen durchaus in Verwirrung stürzen kann. Eine klare Strukturierung in Sinne einer Wegekirche fehlt hier, gleich mehrere religiöse Verdichtungen sind im Raum zu finden.

Man betritt die Kirche heute nicht mehr durch das Hauptportal, sondern – wie auch im Video – vom Süden her durch die Puerta Lana. Ihr gegenüber liegt die Taufkapelle. Das Zentrum der Kirche bildet eine Art Kirche in der Kirche: der sogenannte Chor und die Hauptkapelle. Im Chorumgang finden sich dann zahlreiche Kapellen und auch der Kapitelsaal, der im Video eine Rolle spielt. Für die kunsthistorisch interessierten Besucher:innen ist noch die Sakristei wichtig, weil hier neben zahlreichen Werken von El Greco (u.a. die Entkleidung Christi) auch zahlreiche weitere bedeutende Kunstwerke zu finden sind.

Die Kenntnis der Kirche ist deshalb wichtig, um zu erkennen, wo sich die Tanzenden ans und ins „Heilige“ wagen und wo sie „nur“ den Kirchenraum als solchen nutzen. Natürlich ist für den, der die Kathedrale in der Tradition der spanischen Könige sieht, allein schon der Umstand, dass ein popkulturelles Musikvideo an diesem Ort gedreht wird (gleich wie dessen Inhalt aussieht), eine Art Sakrileg. Andererseits waren auch die Bilder von El Greco in ihrer Zeit keinesfalls konventionell, sondern sind mit Sicherheit verstörend gewesen.

Die Inszenierung / Handlung im Clip

Kommen wir nun zum Musikvideo. Dieses hat eine Dauer von 4:27 Min. und wurde unter der Regie und nach einem Skript von Antón Álvarez (= C. Tangana) gedreht.

Der Clip eröffnet mit einem knappen Blick auf den Glockenturm der Kathedrale von Toledo und kurz angespielten Glockentönen. Dann sehen wir einen Priester, der einen Segensgestus in Richtung einer der Seitenkapellen der Kathedrale macht. Plötzlich dreht er sich um, als ein junger Mann die Kathedrale durch den südlichen Eingang betritt.

Nach dem nächsten Schnitt sieht man eine junge Frau allein im Innersten der Kirche mit bewegtem Hüftschwung tanzen. Sie wird von zwei Männern beobachtet, einem Priester und einem Küster. Der folgende Schnitt zeigt uns dann schon den jungen Mann und die Tänzerin beim vereinten Bachata-Tanz. Es folgt eine kurze Kaskade entsetzter Männerblicke und -Gesten.

Das tanzende Paar befindet sich, wenn ich es recht sehe, nun im zentralen Bereich der Kirche, also zwischen dem Chor und dem Hauptaltar. Ihre Tanzbewegungen werden heftiger, erotischer, lasziver. Der Tänzer fasst den Haarschopf der Tänzerin und reißt ihn nach hinten.

Urplötzlich erfolgt ein Blickwechsel bzw. ein Schnitt. Das Bild friert ein, wird kleiner und erscheint als Ausschnitt auf dem Monitor eines Youtubers, der den Clip im Netz sieht und quasi live kommentiert. Unter dem Stream des Musikvideoclips sieht man zahlreiche Kommentare. Die Kamera fährt weiter zurück und nun sieht man andere, die offenbar dem Stream des Youtubers folgen, ihn teilen und nach und nach entsteht das bekannte Netz der Tweets und Re-Tweets und der Verlinkungen und Tik-Tok-Imitationen. Die Bilder verselbständigen sich, lösen sich vom ursprünglich betrachteten Videoclip ab und bekommen Mem-artig ein Eigenleben. Das Mem lautet: fast unbekleidete Tänzer:innen in einer heiligen Kirche.

Und so sehen wir nun eine aufgebrachte Masse fackeltragender Menschen vor einem überdimensionalen Smartphone, auf dem eine heiße Tanzszene des Paares zu sehen ist. Das mit den Fackeln ist etwas overdressed, Reminiszenz an ein falsches Bild des Mittelalters, passt aber andererseits zu Toledo, wo noch so vieles mittelalterlich wirkt. Das Bild mit den Protestierenden wird nun selbst zum Mem, das als Foto auf dem Smartphone anderen zur Kommentierung präsentiert wird und eine weitere Runde der Reiz-Reaktions-Mechanismen in Gang setzt. Und das kann dann ad ultimo weitergehen. Durchbrochen wird es im Videoclip durch eine junge Frau, die etwas abschätzig auf das Mem-Bild schaut, worauf die Kamera sich ihrem linken Auge nähert und quasi durch es hindurch auf eine andere Bildebene (im Kopf der Frau?) fährt.

Diese Bildebene verweist auf jene gefährlichen Angelegenheiten der Vergangenheit, von denen der Liedtext handelt, und über die alle tuscheln: „Sigue, que vivo aquí, no me va a matar una vieja herida / Déjales que hablen mal, se mueran de envidia (Que hablen).“ Wir sehen die Tänzerin nackt auf einem Podest, umgeben von einer Gruppe von Zuschauer:innen, deren Smart­phones zugleich die Szene erleuchten. Die Zuschauer:innen starren freilich alle nur auf das Display ihres Smartphones. In ihrer ausgestreckten linken Hand hat die Tänzerin den abgeschlagenen Kopf des Tänzers, den sie nun den Betrachter:innen entgegensteckt. Über ikonographische Vorlagen zu dieser Inszenierung wird noch zu sprechen sein.

Die Szene blendet dann über zu einem Kritiker:innen-Quartett im Fernsehen, ein Format, dem wir uns heute kaum noch entziehen können, weil es beinahe permanent auf jedem Fernsehsender ausgestrahlt wird. Sie reagieren auf die Reaktion von Nutzer:innen, die auf andere Nutzer:innen reagieren, die meinen etwas Besonderes in medialer Präsentation gesehen zu haben. Diese in sich verschachtelte Ebenen-Konstruktion von Präsentation eines Musikvideos bei gleichzeitiger Präsentation und Reflexion seiner Rezeption ist für ein Musikvideo neuartig. Am Ende heißt es in dieser feuilletonistischen Runde: Daumen runter.

Eingeschoben werden Zuschauer:innen, die den Tanz der beiden und das Kritiker:innengespräch mit den heute unvermeidlichen 3D-Brillen verfolgen, vermutlich, um einen noch sinnlicheren Eindruck vom heißen Tanz zu bekommen. Nach dem Urteil der Kritiker:innen geraten sie in eine handfeste Auseinandersetzung.

Es folgt die ästhetisch schönste Sequenz des Videoclips, der Tanz vor der Frontseite des hellerleuchteten Chorraums.

Dazwischen eingeschoben noch eine Sequenz mit der nackten Tänzerin, die nun von ihrem Sockel herabsteigt, einige der sie filmenden Smartphone-Besitzer umlegt, um dann in die Höhe zu steigen.

Es folgt dann der ziemlich überraschende Schluss des Videos. Das tanzende Paar lässt sich mit ihren(?) zwei Kindern vor der Kathedrale vom Priester fotografieren und macht dann noch ein Gruppenfoto mit dem Kirchenpersonal. Wer’s glaubt, wird selig. Das erscheint mir doch ein Kotau vor dem örtlichen Pastoral, das den Videodreh genehmigte. Stimmig ergibt es sich aus der Erzählung des Musikvideos nicht.

Die Schichten

Man kann nun detailliert den verschiedenen Ebenen bzw. Schichten des Musikvideos bzw. des Liedtextes nachgehen. Offenkundig spielen ja oben und unten eine wichtige Rolle, Erstarrung und Bewegung eine andere. Am Anfang ist es nicht zuletzt der Blick, der in das Bewusstsein der Betrachter:innen tritt: wie blicken Männer auf eine tanzende Frau, wie Gläubige auf ein scheinbares Sakrileg, wie Voyeure auf eine nackte Frau? All diese Fragen werden dann zum Material für die kommentierenden Nerds, die zu allem etwas zu sagen und zu streamen haben. Einmal in Gang gesetzt, entwickelt sich dieser parasitäre Diskurs viral. Er setzt einen Fluss von Wertungen und Bewertungen, Vorurteilen, Urteilen und Verurteilungen in Gang. Der Mensch, so viel wird klar, ist ein juridisches Wesen. Deutlich wird, wie sehr sich das Tuscheln unter Nachbar:innen oder am Stammtisch inzwischen  in die Netzkultur verlagert hat – unter Befeuerung der traditionellen Medien.

Abseits von diesem medienkritischen Schichten gibt es noch die inhaltlich bestimmten, die um Sexualität und Religion, den Tod und das Mädchen, das sexuelle Begehren der Geschlechter kreisen, die eine Hierarchie von schlechtem (höllischem) und gutem (himmlischen) Verhalten voraussetzen und dann leider doch nur in der Heiligen Familie terminieren.

Die (religiösen) Deutungsebenen

Die (religiös inspirierten) Deutungen müssen sich abarbeiten an der Szenenfolge ab Minute 1:50, in der die Sängerin nackt vor das mit Smartphones bewehrte Publikum tritt und den abgetrennten Kopf ihres Tanzpartners in ihrer linken Hand hat. Das passt nun gar nicht zum schmachtenden Liedtext einer heißen Liebe, die vom Himmel kommt. Man könnte es als bösartige Traumsequenz einer anderen Frau deuten, durch deren Auge die Kamera gefahren war, bevor wir auf die Enthauptungs-Szene stoßen. Dazu passt aber nicht, dass dieser Szene das Kritiker-Quartett unter dem schönen Titel „Was sagst Du?“ folgt, welches über die Szene spricht. Also muss die Szene selbst zeichenhaft aufgefasst werden. Welche Szenen von Frauen, die den enthaupteten Kopf eines Mannes vor sich hertragen, kennen wir?

Ludwig XVI.

Hätten wir es nur mit der Präsentation des Hauptes eines geköpften Mannes zu tun, könnte man an das berühmte gewordene Bild des am 21. Januar 1793 guillotinierten Ludwig XVI. denken, dessen Kopf der gaffenden Menge präsentiert wird, die nur gekommen ist, um genau das zu sehen. Von allen Bildkonstellationen scheint es dem Bild im Musikvideo am nächsten zu kommen, weil im Musikvideo eben auch das um die nackte Frau mit dem abgeschlagenen Kopf herumstehende Publikum eine Rolle spielt. Auch die in einem Live-Video dokumentierte barbarische Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg durch Abu Musab az-Zarqawi vom irakischen Ableger der Terrorgruppe al-Qaida weist analoge Bilder auf, wobei hier das Publikum die Betrachter:innen auf den Social-Media-Plattformen sind. Dies ist m.E. aber eine eher unwahrscheinliche Spur.

Denn diese Bilder eignen sich nicht zum Vergleich, weil im Musikvideo so dezidiert auf die Präsentation des Kopfes durch eine nackte Frau gesetzt wird. Nichts erfordert eigentlich in diesem Augen-Blick die Präsentation des nackten weiblichen Körpers. Sie ergibt sich weder aus dem Tanz des Paares noch aus dem dunklen Raunen des Liedtextes – es sei denn man assoziiert Sünde gleich mit Sexualität, wie es in der katholischen Kirche, aber auch im Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts üblich war.

Der nackte Körper der Frau

John Berger hat sich im dritten Kapitel seines immer noch lesenswerten Büchleins „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ mit der Nackt- bzw. Akt-Darstellung von Frauen in der Kunst- und Bilderwelt beschäftigt. Er differenziert anhand der Kunstgeschichte die Unterschiede der Präsentationsformen von Männern und Frauen: Männer handeln und Frauen treten auf. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. Wie gesagt, das entnimmt Berger der Bilderwelt bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Seitdem hat sich viel geändert, aber es auch nicht so viel, als dass seine Beobachtung im allgemeinen nicht zutreffen würde:

Sie ist nicht nackt, wie sie ist.
Sie ist nackt, weil der Betrachter sie sieht.

Berger verweist dazu auf ein Bild von Felix Trutat (1824–1848), ›Ruhende Bacchantin‹, das in anderen Überlieferungen „Nacktes Mädchen auf einem Pantherfell“ heißt. Berger nutzt dazu die viel leichter zu durchschauende SW-Abbildung aus einem Katalog von 1900, da das Original viel von der Bildaussage im Dunkeln verschwinden lässt. Wir sehen die Nackte, aber erst durch den Blick des Betrachters im Bild und dem der Betrachter:innen vor dem Bild wird es zum Akt-Bild.

 

Diese Bilder stehen in einem direkten Kontrast zum Auftreten der Nackten im Videoclip zum Stück „Ateo“. Man sieht unmittelbar den Willen der Smartphone-Nutzer:innen, die Tänzerin zum Akt zu machen, aber sie verweigert sich ihnen demonstrativ. Sie stört, ja zerstört die unendlichen Spiegelungen des Nacktseins, die sie als Akt festhalten wollen.

In einem Gestus, der dem des Johannes des Täufers auf dem Louvre-Bild von Leonardo da Vinci nachempfunden sein könnte, schwingt sie sich in andere Ebene des Geschehens auf, aus der Hölle der (unter-) irdischen Begehrlichkeiten hinauf in die Arme des Geliebten. Wenn man es so beschreibt, ist es elender Kitsch. Trotzdem dürfte die Gestik auf Johannes verweisen.

Das bringt uns zur antiken und auch biblisch begründeten Ikonographie, bei der Frauen gewaltsam den Tod eines Mannes bewirken. Und das sind mehr als man denkt. Da ist zum einen Judith, die Holofernes tötet (Buch Judit), da ist zum zweiten Jael, die Sisera tötet (Richter 4, 17-24) und da ist zum dritten Tomyris, die Cyrus tötet (Herodot). Und neutestamentlich wäre selbstverständlich an die im NT noch namenlose Salome zu denken, die im Auftrag von Herodias ihren Stiefvater um den Kopf des Täufers Johannes bittet.

Nun sind alle diese Figuren in der jeweiligen Erzählung keine nackten Figuren, sie werden es erst in ihrer späteren (männlichen) Rezeptionsgeschichte, in der Regel im 16. Jahrhundert, als der nackte Körper der Frau im Rahmen von Renaissance und Humanismus in der Bildenden Kunst eine immer größere Rolle spielt.


Judith und Holofernes

Die Erzählung von der Enthauptung des feindlichen Königs Holofernes durch Judith finden wir im biblischen Buch Judit aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. erzählt, wobei der jüdische Tanach das Buch nicht unter die biblischen Schriften aufgenommen hat. In der katholischen Kirche zählt es zu den deuterokanonischen Schriften das AT. In der Kunst gibt es eine lange Entwicklungsgeschichte dieses Motivs. Der Maler John Ruskin schreibt 1875 über die Darstellung der Erzählung: „Wissen Sie selber irgendetwas über Judith, außer, dass sie Holofernes den Kopf abschlug; und dass sie zum Highlight nahezu einer Million nichtswürdiger oder schamloser Bilder seitdem gemacht wurde, in denen die Maler dachten, sicherlich das Publikum anziehen zu können durch die doppelte Zurschaustellung einer Hinrichtung und einer hübschen Frau – insbesondere mit dem zusätzlichen Vergnügen auf eine vorausgegangene gemeine Sünde anzuspielen?“

Ikonographisch finden wir mit der nebenstehenden Se­xua­li­sierung der Judith-und-Holofernes-Szene durch Conrat Meit vom Anfang des 16. Jahrhunderts eine deutliche Übereinstimmung zum Motiv im Musikvideo. Zwar sehen wir im Musikvideo kein Schwert oder Messer in der Hand der Tänzerin, aber eine Tötung ist durch den präsentierten Kopf vorausgesetzt. Bei Conrat Meit stoßen wir auf eines der wenigen kunstgeschichtlichen Motive, bei denen Judith das Haupt des Holofernes nach dessen Enthauptung an den Haaren hochhebt, so wie wir es auch im Musikvideo finden. Oft wird Judith ja der Kopf des Holofernes von einer begleitenden Dienerin abgenommen oder er liegt vor ihr auf dem Tisch. Das ist hier nicht der Fall. Obwohl in der Tradition der Heroen-Darstellung stehend, wird Judith dennoch hauptsächlich als Akt vorgeführt.

Im Werk von Jan Massys (1509-1575) gibt es – bei ähnlichem Bildaufbau – die interessante Unterscheidung zwischen „bewusst präsentieren“ (mit Blick auf den Betrachter) und nur „am Haarschopf halten“ (mit indirektem Blick).

Im Videoclip haben wir es mit einer bewussten Präsentation zu tun. Nur dass sich hier die Bewusstheit weniger auf den Vorgang eines besiegten und getöteten Mannes liegt, der noch die klassischen Judith-Bilder charakterisierte, sondern im selbstbewussten Umgang mit dem Thema Nackt sein und zum Akt gemacht werden. Davon handelt die Bilderfolge im Clip. Es ist klar, dass in der kritischen Rezeption der konservativen Gläubigen die Handelnde im Clip wieder zu einer Akt-Darstellung herabgewürdigt wird, aber das ist im Clip nicht handlungsbestimmend. Hier haben wir es mit einer handelnden Frau zu tun, die sich nicht auf Klischees reduzieren lassen will.


Salome

Aus vielerlei Gründen ist die Geschichte von Salome der noch naheliegendere motivische Bezug für den Videoclip. Rosina Neginsky schreibt in ihrem Buch “Salome. The image of a woman who never was”, es gebe drei gut unterscheidbare Phasen der Salome-Darstellung: Die böse Salome von den Kirchenvätern bis zur Renaissance, die schöne Salome in der Renaissance und schließlich die verführerische Zerstörerin in der Kunst das 19. Jahrhunderts. Daran ist viel Wahres. Insbesondere in der letzten Phase, der vor allem dem Symbolismus zuzuordnen Kunst, zeigt sich Salome als ambivalente Ikone und Kultfigur, ja als femme fatale. Das folgende Bild von Lucien Lévy-Dhurmer (1865-1953) rekurriert auf Oskar Wildes „Salome“ und zeigt den Kuss, den diese dem auf ihren expliziten Wunsch hin Geköpften gibt (den er ihr vorher verweigerte).


Lucien Lévy-Dhurmer, Salome, 1896

Während sich hier die Angst des späten 19. Jahrhunderts vor der sich emanzipierenden Frau ausdrückt, könnte man die Inszenierung im Videoclip als die bewusste Negation dieser klassischen Rollenzuweisung interpretieren – freilich spricht das Ende des Clips mit der Verherrlichung der „Heiligen Familie“ etwas dagegen, ein Motiv, das dann doch allzu sehr klassischen Rollenklischees entspricht. Wenn man das gedanklich abtrennt, kommt man zu positiveren Urteilen.

Ähnlich verharmlosend ist ja auch eine Serie von Lukas Cranach, bei der als Hoffräulein drapierte Frauen den Kopf des Johannes auf einer Schale vor sich hertragen. Das wirkt eher wie Staffage, ohne der Brisanz der Szene irgendwie nahezukommen. Gefährlich wirken diese Salomes nicht.

Anders ist das im Symbolismus und Jugendstil des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dort wird Salome zur gefährlichen, verführerischen Frau, die droht, unkontrollierbar zu werden. Die Männer treten in den Hintergrund, die Szene wird bis zur Groteske zugespitzt. So drücken die malenden Männer ihre Angst vor der Frau aus, ganz gleich ob bei Franz von Stuck oder Gustav Moreau.

Ich glaube freilich, dass die Rezeptionsgeschichte der symbolistischen Bilder die ursprüngliche Intention ihrer Urheber konterkariert hat. Denn in ihnen ist bereits angelegt, was dann im Video zu „Ateo“ zur Geltung kommen kann: das selbstbewusste Handeln der Frauen, die über ihren Auftritt und ihre Wahrnehmung selbst entscheiden. Sicher, auch das gehört schon zur Geschichte des Pop-Stars Madonna, wird hier aber noch einmal explizit gemacht.

Inversion: Der tötende und der tanzende David …

Es ist nicht unplausibel, auch den biblischen David als Reminiszenz des Videoclips mit in Betracht zu ziehen. Fast schon offensichtlich ist dies ja bei den verschiedenen Versionen von Caravaggios David und Goliath aus den Jahren 1600 (im Kunsthistorischen Museum Wien) und 1606 (in der Galleria Borghese Rom). Die vor dem schwarzen Hintergrund herausgestellte Figur des David, die den abgeschlagenen Kopf des Goliaths dem (imaginären) Publikum entgegenstreckt, ist von der Inszenierung im Musikvideo nicht weit entfernt.

Unbekannter ist die Szene des tanzenden David vor der Bundeslade, der das Missfallen seiner Frau Michal hervorruft, wie 2. Samuel 6 berichtet:

David tanzte mit aller Kraft vor Gott, David, bekleidet mit einem Priesterschurz aus Leinen. So brachten David und ganz Israel den Schrein Gottes hinauf unter Jubellärm und Hörnergetön. Als der Schrein Gottes dann in die Stadt Davids kam, schaute Michal, die Tochter Sauls, aus dem Fenster herunter und sah den König David hopsend und tanzend vor Gott. Da schätzte sie ihn gering in ihrem Herzen ... Auch David kam heim, um sein Haus zu segnen. Da trat Michal, die Tochter Sauls, heraus, David entgegen und sagte: »Wie hat sich der König von Israel heute Achtung verschafft, der sich vor den Augen von Sklavinnen und Sklaven entblößt hat, wie sich wirklich nur ein Nichts entblößt.« David sagte zu Michal: »Vor Gott, der mich deinem Vater und seiner ganzen Familie vorgezogen hat, um mich als Hirten über das Volk Gottes, über Israel, einzusetzen – vor Gott will ich tanzen, und will mich noch geringer machen als diesmal und will niedrig sein in meinen Augen, aber bei den Sklavinnen, von denen du geredet hast, will ich mir Achtung verschaffen.« Michal, die Tochter Sauls, hatte kein Kind bis zum Tag ihres Todes. [Übers.: Bibel in gerechter Sprache]

Die Ironie dieser Erzählung ist es aus heutiger Perspektive, dass sich in der Missbilligung der Michal die akute missbilligende Haltung der katholischen Kirche in Toledo spiegelt. Sie kritisieren den entblößten Tanz der Protagonistin und achten nicht darauf, für wen und für was sie tanzt. Und beide müssen für diese Haltung und ihre Folgen einstehen.

Die Reaktion(en)

Es widerstrebt einem ja, über die scheinbar unvermeidlichen und in der Regel allzu dummen Reaktionen zu schreiben, die so ein Musikvideo immer begleiten. Aber seien wir ehrlich – ohne diese hätte man den Videoclip gar nicht wahrgenommen.

Die spanische Zeitschrift „El Mundo“ berichtet, einige Priester der Kathedrale sprächen davon, dass der Videoclip „Gott ernsthaft beleidigt“. Nun ist das ein überaus ambivalentes Argument, das ich nun meinerseits als blasphemisch bezeichnen würde. Es offenbart ein Gottesbild, bei dem sich der biblische Gott wie ein Gott der griechischen Mythologie von einzelnen menschlichen Handlungen beleidigen lassen kann. Wie klein kann man nur von der Souveränität des biblischen Gottes denken! Und dann sind da die inzwischen unvermeidlichen „religiösen Gefühle“, für deren Verletzung sich der Erzbischof von Toledo entschuldigt. Nun sind diese religiösen Gefühle in den meisten Fällen eher Geschmacksurteile im Sinne von „das gefällt mir aber nicht“. Es ist immer wieder bemerkenswert, wann religiöse Gefühle ins Spiel gebracht werden. Wenn Menschen getötet werden, wenn sie als Ausgegrenzte obdachlos auf den Straßen leben, wenn sie Dahinsterben wie die Fliegen – dann werden die religiösen Gefühle nicht verletzt. Wenn aber ein wenig Haut in einer Kirche zu sehen ist, dann schreit man laut auf. Es ist bigott.

Zwischenzeitlich musste Juan Miguel Ferrer, der Dekan der Kathedrale, der den Dreh ursprünglich erlaubt hatte, zurücktreten, einen Monat vor dem eh‘ anstehenden Ende seiner Amtszeit als Dekan. Wie menschenverachtend doch kirchliche Bürokratie sein kann. Die symbolische Geste (er muss bestraft werden), die man damit zum Ausdruck bringen will, schlägt auf die Institution zurück, sie ist nur noch erbärmlich. Im Grunde bestätigt die Institution nur das im Videoclip Verhandelte. Wenn es möglicherweise falsche Handlungen in der Vergangenheit gegeben haben sollte, dann lassen die Menschen bzw. dann lässt die Institution einen nicht los.

Scrollt man durch die Kommentare der Leser:innen der Zeitschrift El Mundo, ist man einigermaßen erschüttert. Natürlich darf der Hinweis nicht fehlen, die Clip-Produzenten sollten das Gleiche doch mal in einer Moschee versuchen, dann würden sie aber etwas erleben. Kaum versteckt offenbaren sich so die Vernichtungsfantasien derer, die das schreiben. Zumindest zeigt man, dass man es in dieser Frage am liebsten den Salafisten gleichtun würde. Für Fundamentalisten ist Kulturvernichtung oder Kulturverhinderung immer die einfachste Lösung. Da sind die Kritiker:innen, die das Video ganz offensichtlich gar nicht wirklich betrachtet haben und deshalb die Präsentation von bloßer Haut in einer Kirche für ein Sakrileg halten. Nun sind die einzigen Nackten, die im Video innerhalb der Kirche gezeigt werden solche, die schon seit 500 Jahren als Nackte in der Kirche sind: die Nackten auf dem Auferstehungsbild im Kapitelsaal der Kirche. Die bewegten Nacktszenen des Videos dagegen wurden auch programmatischen Gründen außerhalb der Kirche gedreht, weil sie ja gerade die Vorgeschichte erzählen. Aber man kritisiert, weil man beschlossen hat, es zu tun, und die konkreten Abläufe im Videoclip gar nicht wirklich wahrnehmen will.

Auf der anderen Seite gibt es auch veritable katholische Stimmen, die das Video mit guten Gründen verteidigen. So hat Schwester Maria Gabriela Zinkl auf katholisch.de das Video in seiner Vielfalt skizziert und nicht zuletzt als religionspädagogisch wertvoll eingeordnet. Das sehe ich auch so. Es ist in vielerlei Hinsicht eine Anregung zur Auseinandersetzung, sicher auch zur kritischen Auseinandersetzung.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/am738.htm
© Andreas Mertin, 2021