Der Kindermord in Bethlehem

Andreas Mertin

Die Quellen
  • Matthäus 2, 16-18 (80-100 n.Chr.)
  • Protoevangelium des Jakobus (150 n.Chr.)
    • Auch Elisabeth verbirgt ihren Sohn Johannes
  • Pseudo-Matthäus-Evangelium (600-650 n.Chr.)
  • Legenda Aurea (an 1292)
Matthäus 2, 16-18

Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jeremia 31,15): »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Proto-Evangelium des Jakobus

Herodes aber erkannte, dass er von den Magiern hintergangen worden war. Er wurde zornig und sandte die Mörder und befahl ihnen die Kinder zu töten, von zwei Jahren und darunter. Als aber Maria hörte, dass die Kinder getötet werden, fürchtete sie sich und nahm das Kind mit Joseph und floh nach Ägypten, wie es ihnen befohlen worden war. 

Elisabeth aber nahm den Johannes und ging hinauf ins Gebirge und sah umher, wo sie ihn verbergen könne. Es war kein Ort zum Verstecken da. Da stöhnte sie und sprach: "Berg, Berg, nimm auf eine Mutter mit Kind!" Denn sie konnte nicht (weiter)gehen. Und sogleich teilte sich der Berg und nahm sie auf. Und es war ihnen jener Berg durchsichtig und ein Engel des Herrn führte sie. 

Kunstgeschichte

Der Bildtypus zum Kindermord in Bethlehem wird so beschrieben: „Herodes, meist thronend oder stehend, befiehlt seinen Soldaten, die Kinder von Bethlehem zu töten. Die Mütter weinen und klagen um ihre ermordeten Kinder. Die Darstellungen folgen keinem strengen Kompositionsschema. Die Anzahl der handelnden Personen ist stets symbolisch reduziert bzw. das Ereignis wird szenisch zusammengezogen“. Soweit das Lexikon der christlichen Ikonographie zum Stichwort. Aus heutiger Sicht muss man freilich sagen, dass aufgrund der historischen Größe von Bethlehem (falls es das Ereignis überhaupt gegeben hat) nur zwischen sechs und zwanzig Kinder erschlagen worden sein können, die Bilder also eher zu viele Tote zeigen.

Als eine der frühesten bildlichen Umsetzungen wird das Mosaik in Santa Maria Maggiore in Rom benannt, als das 5. Jahrhundert nach Christus, richtig ausgearbeitete Bilder gibt es dann erst nach der Jahrtausendwende, etwa im Codex Egberti.


430 – Mosaik, Santa Maria Maggiore, Rom

Dieses Mosaik aus Santa Maria Maggiore in Rom ist von allen Bildern zum Thema vielleicht das Schrecklichste, freilich nicht in einem sensualistischen Sinn, da haben die Jahrhunderte danach viel mehr zu bieten. Nein die sich der Warteschlange der Mütter ausdrückende Unterwerfung unter die absolute Macht eines Herrschers, der nur die Finger (in einer Art teuflischem Segensgestus) erhebt, um Kinder töten zu lassen, ist einfach schrecklich. Nun hat das vielleicht auch – ebenso schrecklich es zu sagen – mit einer Kultur des Christentums zu tun, die den Gehorsamen gegenüber dem (nun christlich gewordenen) Staat, als selbstverständlich voraussetzte. Das Leiden der Kinder wie ihrer Mütter steht hier nicht im Vordergrund, wüsste man nichts von der biblischen Erzählung, käme kein Entsetzen auf.


980 – Codex Egberti

Der Codex Egberti wurde für den Erzbischof von Trier Egbert zwischen 980 und 993 im Skriptorium des Klosters Reichenau erstellt. Es ist der älteste erhaltene neutestamentliche Bildzyklus mit Darstellungen aus dem Leben Christi und damit auch der erste große Christus-Zyklus der Ottonenzeit. Im Egberti Codex gibt es 60 Buchmalereien, davon gehören 52 Miniaturen zu den Perikopen des Kirchenjahres. Die Folie 15v zeigt den Kindermord in Bethlehem. Dieses Blatt wird neben einigen anderen in diesem Codex dem sog. Meister des Registrum Gregorii zugeschrieben.

Das Bild differenziert das Geschehen sorgfältig in vier beteiligte Gruppen und einen Tatort: wir blicken auf die die Tat nicht selbst vollziehenden Auftraggeber, auf die gedungenen Mörder als Vollstrecker, auf die unmittelbaren Mord-Opfer, auf die Angehörigen, den Mord an ihren Kindern nicht verhindern können und sich Vorwürfe machen und schließlich auf den Tatort, die Stadt Bethlehem. Man kann es wie eine moderne soziologische Studie lesen.


1308 – Duccio

Die Tafel von Duccio di Buoninsegna (1255-1318) gehört noch ganz der überlieferten Kunstwelt an, sie ist Teil der großen Maestà, die ursprünglich im Dom von Siena stand und heute zu einem gewissen Teil (der Rest ist verstreut über die Welt) im Dommuseum zu finden ist. Auch die Tafel mit dem Massaker an den unschuldigen Kindern befindet sich dort. Sie ist 42,5 x 43,5 cm groß.

Wir sehen im Hintergrund Herodes, umgeben von seinen theologischen Beratern und militärischen Angestellten. Er ist deutlich als König gekennzeichnet, hält den Zepter in der Hand und befiehlt mit der anderen die Tötung der Kinder. Diese wird von seinen Schergen mittels Schwerter durchgeführt und ist auch schon weitgehend vollendet, denn zahlreiche Kinderleiber häufen sich am rechten unteren Bildrand. Was Duccio besonders akzentuiert ist die Klage der Mütter, die ihre bereits getöteten Kinder an sich drücken.


1304 – Giotto

Auf Giottos Darstellung der Szene in der Scrovegni-Kapelle in Padua sehen wir auf dem Boden viele abgeschlachtete Kinder liegen. Ein Soldat steht über ihren Leichen und entreißt auf Befehl von König Herodes (der selbst auf dem Gemälde erscheint) seiner Mutter einen kleinen Jungen. Die Frauen schreien, weinen und versuchen, ihre Kinder vor den Schergen zu beschützen. Die Männer auf der anderen Seite (um wen es sich handelt, wird nicht ganz deutlich) wenden sich niedergeschlagen und beschämt ab.


1451 – Fra Angelico


Dieses Bild von Fra Angelico (1395-1455) aus dem Jahr 1451 ist ein Teil eines Altarwerkes zur Kindheitsgeschichte Jesu und befindet sich heute im Museum des Klosters San Marco in Florenz.

Man meint auf ihm bereits die schwarzen Kohorten späterer Zeiten erkennen zu können, es wirkt aber auch wie eine Spiegelung der Pogrome an der jüdischen Bevölkerung in früheren Jahrhunderten und wie eine Vorwegnahme der Bilder aus den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts.

Fra Angelico hat Wert daraufgelegt, das Entsetzen der Frauen in ganz unterschiedlichen Haltungen festzuhalten, ihres Leidens eingedenk zu sein.


1517 – Altobello Melone

Von Altobello Melone (1490-1543) wissen wir so gut wie nichts, alles was wir sagen können, ergibt sich aus seinem Hauptwerk, im Dom von Cremona: Im Dezember 1516 bekam er den Auftrag, die Sargwand des Doms von Cremona mit Fresken auszuschmücken, die Szenen aus dem Leben Jesu zeigen sollten. Zwei der ausgeführten sechs Fresken beziehen sich auf Jesu Kindheit, vier auf Christi Passion. Das Fresko zum Kindermord zeigt uns eine ineinander verquirlte Leibermasse. Das Auge, das das Fresko vor Ort aus einer Unterperspektive wahrnimmt, weiß gar nicht, wohin es sich zuerst wenden soll. Man fühlt sich an Walter Benjamins Beschreibung des Engels der Geschichte erinnert: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann.“


1585 - Pieter Brueghel d. J. (1564-1638)


1565 – Pieter Brueghel d.Ä. (1525-1569)

Wie viel Blut und Leid ist den Betrachter:innen zuträglich, was kann man ihnen zumuten? Das ist die entscheidende Frage bei der Betrachtung der beiden obenstehenden Bilder. Für den ersten, noch oberflächlichen Blick sind sie ja beinahe identisch (die unterschiedlichen Farbtöne könnten notfalls durch schlechte Fotografien erklärt werden), zumindest sind sie voneinander abhängig. Tatsächlich hat man lange Zeit beide Werke für solche des Malers Pieter Brueghel d.Ä. gehalten, bis Untersuchungen des Holzes und feiner Malunterschiede zu der Erkenntnis führten, dass das obere der beiden Bilder vom Sohn Pieter Brueghel d.J. stammt, der für Kopien der Bilder seines Vaters berühmt war. Dessen Bild finden wir heute im Kunsthistorischen Museum in Wien. Das andere befindet sich in Windsor Castle und wird tatsächlich Pieter Brueghel d. Ä. zugeschrieben und in das Jahr 1565 datiert.

Die Differenz der Bilder ist damit aber noch nicht zureichend bestimmt. Schaut man nämlich genauer hin, so sind sie grundverschieden. Das frühere Bild, das heute in London zu finden ist, würde heute vielleicht Veganer aufregen, aber keine Vertreter der Menschenrechte. Es zeigt schlicht die Abschlachtung zahlreicher Tiere. Schaut man genauer hin, so wurde es offenkundig grob übermalt, um alle Erinnerungen an einen Massenmord an Kindern zu tilgen bzw. eine Strafexpedition flämischer Soldaten und wallonischer Söldner gegen ein unbotmäßiges niederländisches Dorf, dessen Tiere nun abgeschlachtet werden. Die Kopie aus London dagegen konserviert den ursprünglichen Zustand, die Darstellung des Kindermords in Bethlehem. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wann genau die Übermalungen vorgenommen wurden, einiges spricht für die Zeit zwischen 1604 (da wird das Bild als Massaker beschrieben) und 1621 (da wird das Bild als Dorfplünderung beschrieben). Bei der letzten Restauration 1988 wurde entschieden, den überarbeiteten Zustand zu belassen, weil auch er kunsthistorisch bedeutsam ist.

  


1582 – Jacopo Tintoretto

Jacopo Tintoretto (1518-1594) hat zahlreiche Aufsehen erregende Bilder geschaffen und hat es wohl auch bewusst darauf angelegt. Für die Scuola Grande di San Rocco in Venedig, für die Tintoretto im Verlauf der Zeit mehr als 60 Gemälde geschaffen hat, hat er auch dieses Bild angefertigt. Es hängt dort in der Sala Terrena, ein Saal im Erdgeschoß des Gebäudes. Insgesamt enthält dieser Raum acht Bilder, darunter die Verkündigung, die Anbetung der Könige, die Flucht nach Ägypten und dann als viertes der Kindermord. Aus den Kindheitsgeschichten Jesu folgt später noch die Beschneidung.

Das Bild zeigt uns eine überaus dramatische Szene in einer Stadtlandschaft, ein verzweifeltes Ringen um Leben und Tod. Viele Wege scheinen versperrt, aber wir sehen in Hintergrund auch die Möglichkeit angedeutet, dass eine Frau mit ihrem Kind dem Massaker entkommt. Aber sie ist die Ausnahme. Eine andere Frau hat mit ihrer bloßen Hand einem der Schlächter seine Waffe entrungen, indem sie in die Klinge griff. Warum Tintoretto viele der Mütter unbedingt mit entblößten Brüsten malen musste, erschließt sich dagegen nicht.


1611 – Guido Reni

Guido Reni (1575-1642) ist einer der großen Künstler des 17. Jahrhunderts. Seine 268 x 170 cm große Darstellung des Kindermords in Bethlehem befindet sich heute in der Pinacoteca Nazionale in Bologna. Nun gibt es immer diese Momente, wo in einem selbst der Kunsthistoriker mit dem Theologen streitet. Dieses Bild von Guido Reni ist für mich so ein Fall. Kunsthistorisch ist es hoch spannend, man kann die Ausein­andersetzung mit Caravaggio spüren, kann die von diesem abweichende Farbgebung im unteren Teil des Bildes verfolgen. Die Unterbringung des Sujets in einem extremen Hochformat ist beeindruckend. Auch die Zuordnung der handelnden bzw. in diesem Falle vor allem leidenden Figuren ist hoch interessant, wir sehen nur zwei Mörder und ahnen zugleich durch die Blicke der Frauen eine Vielzahl von ihnen.

Theologisch ist es mir die Bildgestaltung durch die Hervorhebung der Putten, die die Palmwedel des Sieges an die abgeschlachteten Kinder verteilen, schier unerträglich. Natürlich kann man im Rahmen eines religiösen Systems, in dem das Entscheidende sich nach dem irdischen Leben und das heißt dann, im ewigen Leben vollzieht, den dahinter stehenden Gedanken kognitiv nachvollziehen. Er hat schließlich die Menschen über fast 2000 Jahre getröstet. Und dennoch, die Gewissheit mit der hier die Putten agieren, ist ein Hohn auf das fortbestehende Leiden der Menschen. Es ist schlicht nicht meine Theologie.


1631 – Poussin

Die kalte Rationalität des Todes. Diese Situation, die der klassizistische Barockmaler Nicolas Poussin (1594-1665) hier festhält, hat sich im 20. Jahrhundert millionenfach wiederholt. Die heutigen Betrachter:innen des Bildes erkennen in ihm ihre eigene Zeit, ihre eigene Gesellschaft, ihre eigene Welt in diesem Bild. Eine Welt, in der der Befehl über Leben und Sterben entscheidet, in dem Mitgefühl kaum eine Rolle spielt. Es geht ganz allgemein um den Tod der Unschuldigen.

Es gibt Indizien, dass Poussin das Bild ursprünglich etwas anders anlegen wollte. Nach einer erhaltenen Skizze konnten die Betrachter:innen die Hoffnung haben, wenigstens eine Frau (vielleicht Elisabet) sei mit ihrem Kind (Johannes) entkommen.

Auch in der realisierten Version ist das nicht ganz ausgeschlossen, nur ist diese Hoffnung mehr in den Hintergrund getreten.

Dafür stehen nun zu Recht das Leid und die beredte Klage im Vordergrund.

Das kann nicht das letzte Wort sein.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/am740j.htm
© Andreas Mertin, 2021