Weihnachten
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Wer trägt hier (s)ein Kreuz?[Ein Update]Andreas Mertin Was kann einer Redaktion eines theo-ästhetischen Magazins Besseres passieren, als dass ein Leser nach der Lektüre einer Ausgabe über die norditalienische Stadt Padua hingeht und gleich eine Spontanreise in die Stadt unternimmt? So geschah es nach unserem Padua-Heft im Oktober 2021 und wir erfuhren dadurch, weil Ferdinand Herget nicht nur nach Padua reiste und den von uns gelegten Spuren folgte, sondern uns nach seiner Rückkehr auch mit einer Frage bzw. In-Frage-Stellung konfrontierte, die ich hier aufgreifen und erörtern will. Erinnern wir uns: ich hatte im Rahmen der Padua-Begehung auch die Scrovegni-Kapelle vorgestellt, war auf die Weltgerichtsdarstellung über dem ursprünglichen Ausgang der Kirche eingegangen und hatte geschrieben:
So weit, so schön gedacht, aber wohl nicht mit der Bildwirklichkeit übereinstimmend, wie mir unser Leser Ferdinand Herget freundlich nachwies. Anders als ich, der ich aus der normalen Anschauung vor Ort, also aus bloßem Augenschein argumentiert hatte, war er der Sache mithilfe der Digitalfotografie auf den Grund gegangen. Und da erwies sich meine doch nur „bloß nach dem Augenschein“ aufgestellte Vermutung als unzureichend begründet. Es war sozusagen mein protestantisches Herz (bzw. in diesem Falle: Auge) mit mir durchgegangen. Ich hatte etwas gesehen, etwas sehen wollen, was vor Ort doch wesentlich komplexer einzuordnen (und gar nicht so leicht zu verstehen) war. Schauen wir uns das Detail nun mit Hilfe der Fotografie unseres Lesers genauer an: Wie Ferdinand Herget zu diesem Detail zu Recht schreibt, ist das erste, was ins Auge fällt, dass die Figur hinter dem Kreuz keine Stigmata hat. Es kann also nicht Christus sein! Der mir zunächst spontan einfallende Gedanke, dass man Christus beim Weltgericht ja nicht notwendig mit Stigmata darstellen muss, widerlegt sich dadurch, dass Jesus als Weltenrichter oberhalb der Szene eben doch die Stigmata trägt. Der zweite Einwand war dann, dass die Figur hinter dem Kreuz wohl durch einen dicken Haarschopf, aber eben nicht durch einen Nimbus charakterisiert ist. Auch hier offenbart der genauere Blick, dass das zutreffend ist und Giotto, der sonst so präzise und fast porträthaft malt, Christus wohl kaum so verwaschen gemalt hätte. Also muss ich meine Darstellung aus dem letzten Heft updaten. Diese Figur kann nicht als Christus gedeutet werden, der das Kreuz der Welt trägt und hier wird auch nicht kritisch ein kleiner Christus in Relation zu einem sich groß machenden Scrovegni dargestellt. Das stellt aber umso dringender die Frage: was sehen wir dann hier? Ferdinand Herget meint, ich müsse meine Deutung nicht völlig aufgeben. Der Kontext zeige, „dass der gerettet wird, der sich am Kreuz festhält und nicht selbst groß macht. Die Figur hinter dem Kreuz geht nach links zu den Geretteten. Alle anderen Figuren rechts sind der Verdamnis anheimgefallen, weil sie es gerade nicht tun. Die kleine Figur hinter dem Kreuz lässt sich m. E. auch nicht als der Wucherer Scrovegni deuten, sonst wäre er sicher mit portraithaften Zügen versehen worden, um den ‚Erfolg‘ der Spende zu belegen.“ Dem stimme ich zu. Dass hier der alte Wucherer Scrovegni dargestellt wäre, widerspräche so sehr der damals geltenden Sündenlehre im Blick auf den Wucher, dass es kaum vertretbar gewesen wäre. So wie Dante es (später) schildern wird, ist der alte Scrovegni unrettbar in der Hölle und eben nicht im Fegefeuer gelandet. Der junge Scrovegni kann es aber auch nicht sein, weil er direkt daneben porträthaft abgebildet wird. Bleibt die Deutung, dass der, der sich an das Kreuz hält/klammert, vor der Hölle gerettet wird. Kann man das noch genauer spezifizieren? In der italienisch-sprachigen Diskussion wird erörtert, darauf wies mich Karin Wendt hin, ob die kleine Figur nicht auch Dismas, den geretteten Schächer am Kreuz symbolisieren könnte. In Lukas 23, 39ff. lesen wir:
Es hat auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität, in der kleinen Figur zumindest eine Verkörperung der Aussagen des Dismas zu erkennen. Dem steht freilich die Tatsache entgegen, dass laut Lukas 23 Dismas bereits schon am selben Tag im Paradies ist. Die christliche Ikonographie stellt das seit der Jahrtausendwende so dar, dass im himmlischen Paradies, vor dessen Tor der Cherub wacht, neben Abraham, Lazarus und Maria auch Dismas dargestellt wird, hier zum Beispiel auf einer Elfenbeintafel des Jahres 1050 aus dem Victoria and Albert Museum. Fast ein Vierteljahrhundert nach Giotto finden wir auf Michelangelos berühmter Weltgerichtsdarstellung in der Sixtinischen Kapelle, die ja in einem gewissen Sinne einem Allerheiligenbild ähnlich ist, tatsächlich den Heiligen Dismas dargestellt, allerdings nicht im Zentrum des Geschehens der Auferstehung der Menschen, sondern rechts am Rande im oberen Bereich und vor allem im Kontext der bereits in den Himmel erhobenen Heiligen. Diesem Dismas bei Michelangelo käme also nicht jene Funktion zu, die der Figur auf dem Fresko von Giotto zugedacht ist. Wenn die kleine Figur aber nicht Dismas darstellt, dann bliebe nur noch, wie es Herget nahelegt und es in der italienischen Literatur auch erörtert wird, sie als Prototypen des reuigen Betrachters zu begreifen, der sich von seinem sündigen Leben ab- und dem Kreuz zuwendet. Was spräche für diese Deutung? Seitdem Weltgerichtsdarstellungen großformatig in Kirchen zu finden sind, werden sie oft direkt über dem Eingang/Ausgang der Kirche platziert, damit die Besucher:innen der Gottesdienste beim Verlassen des Gebäudes an das drohende Weltgericht erinnert werden. Ein frühes herausragendes Beispiel für diese appellative Funktion des Jüngsten Gerichts findet sich in der Kirche Santa Maria Assunta auf Torcello bei Venedig. Dort gibt es das oben abgebildete Mosaik, das ins 11. bzw. 12. Jahrhundert datiert wird. Nur dass dort die Madonna die zentrale Stelle einnimmt, auf die der Blick fällt, wenn die Besucher:innen die Kirche verlassen. Nun charakterisiert Giotto eine stark am Subjekt orientierte Einstellung, die bewirkt haben könnte, dass er im Appellativen weniger auf die Vermittlung durch die Madonna als Fürbitterin als vielmehr auf die Eigenleistung des Subjekts setzt. Und dazu nutzt er die größte Nähe, die die Besucher:innen der Kirche zu seinen Fresken erreichen können, und das ist direkt über der Eingangstür. Es ist vermutlich zugleich der einzige Ort, an dem die Figur überhaupt mit dem bloßen Auge lesbar wird. Zugleich wird an dieser Stelle auch die Nichtbefolgung des Appells unmittelbar plastisch: der Sturz in die Hölle. Inwiefern die ostentative Kleinheit der Figur in einem kritischen Kontrast zur Selbsterhebung und Vergrößerung des jungen Scrovegni steht, müssen die Betrachter:innen dann selbst entscheiden. Aus heutiger Sicht ist diese Gegenüberstellung jedenfalls augenfällig. Ich danke jedenfalls Ferdinand Herget für das genaue Hinschauen und die Überprüfung meiner etwas zu sehr am bloßen Augenschein sich orientierenden theologischen Spekulation. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/am742.htm |