Desastres und andere bare Wunder

Bildstörung als Chance

Barbara Wucherer-Staar

Heute, in einer Welt voller Daten, Statistiken, Algorithmen, Prognosen, computergenerierter Bilder und künstlicher Intelligenz, scheint kaum noch etwas verlässlich, vorhersehbar und berechenbar. In der Kunsthalle Düsseldorf gelingt eine bemerkenswert anregende Auseinandersetzung mit dem herausragenden Werk des „Alchemisten“ und „Universalkünstlers“ Sigmar Polke (1941 – 2010). Jüngere Künstler*innen zeigen aktuell, wie einfallsreich sie Fake-News und stetig wachsende Medienflut, Störungen inner- und außerhalb von Bildern als künstlerisches Potential nutzen. Uns allen sei es längst bekannt: „Die Bilder, die uns umgeben, zeigen die Realität nicht nur, sondern gestalten sie selbst mit – Übertragungsfehler, Qualitätsverluste, Hacks und andere Störungen inbegriffen.“ Die Schau ist nach drei Bildtiteln Polkes in drei Räumen gegliedert: History every thing / Sieht man ja, was es ist / Desastres und andere bare Wunder.

Das Übertragen und Stören, das Transformieren und Umcodieren dieser Bilder, inklusive der dabei entstehenden oder enttarnten Bild-Fehler, wurde in Polkes Werk zum Motiv. Zentrale Frage seiner unerschöpflichen Experimente und Produktivität sei gewesen, so Anna Polke: Wie werden Bilder wahrgenommen, welche neuen Zusammenhänge können entstehen, wenn (bekannte) Motive mit anderen Materialien dargestellt werden? „Bildstörung“ beziehe sich auf seinen kritischen Umgang mit (eigenen) Vorlagen ebenso wie auf Bilder generell.

Bereits in den 1960er-Jahren stellte Sigmar Polke konsequent derartige Störungen in seinen prägnanten Raster-Bildern auf den Prüfstand. Sie wurden sein Signet. Seine ironische Kritik an gesellschaftspolitischen Verhältnissen, Geniekult und Konsum von Kunst und Massenmedien war sarkastischer als die der amerikanischen Pop Art von Andy Warhol und Roy Lichtenstein. In seinen Werken einer „Neuen Figuration“ nutze er Kleckse, Flecke, Schlieren, Druckstellen und andere Fehler für Irritationen. Es entstehen Kipp- und „Rätsel“bilder, die den Betrachter zur eigenen Wahrnehmung von Bildelementen und Material herausfordern (Grenzzaun an der Amerikanisch-Mexikanischen Grenze, 1984, Tagesleuchtfarbe, Dispersion auf Nessel; Primavera, 2003, Acryl auf Dekostoff und Polyestergewebe, 300 × 500 cm, Flopp, 1996, Siebdruck).

Mit Meteoritenstaub, Schneckensaft, Uran und hochgiftigem Kobaltnitrat setzte er Bildprozesse in Gang, die sich - je nach Licht, Temperatur und Blickwinkel - veränderten. Alchemie? Magie?

Das seien, so Anna Polke in einem Interview (mit Helga Meister), für Polke lächerliche Begriffe. Er habe gemalt, teils riesig große Bilder von selten gesehener Leuchtkraft.

Mit Düsseldorf verbindet Polke seine Ausbildung an der Düsseldorfer Akademie ebenso wie die Ausstellung „Leben mit Pop – eine Demonstration für den Kapitalistischen Realismus“, die er Mitte der 1960er Jahre im Möbelhaus Berges zusammen mit Manfred Kuttner und Gerhard Richter und Konrad Lueg / Fischer organisierte. In der Kunsthalle Düsseldorf kuratierte er 1973 Beetween, 1976 wurde dort eine Werkschau mit Arbeiten Polkes gezeigt.

Die ausgestellten Werke eröffnen anregende Diskussionen. Polke erprobte konsequent und spielerisch bildnerische Verfahren und Materialien. Seine ironisch-spritzigen Bild-Kommentare auf Konsumgesellschaft, Politik, zeitgenössische Kunst und Kunstgeschichte fordern immer wieder Auge, Intuition und Denken.

Licht und Chemie

Ein etwa 5 m langer Leporello - Desastres und andere bare Wunder“ (1982/84) - zeigt von Polke überarbeitete Reproduktionen von Goyas Desastres de la Guerra (Die Schrecken des Krieges, 1810 – 1814) und eigene Fotografien. Den mehrfach vergrößerten Filmstreifen entwickelte Polke mit alltäglichen Flüssigkeiten: Himbeerbrand, Kaffee, dem Waschmittel Pril und anderen unbekannten Substanzen.

Verfahren der Fotografie und Fotoentwicklung nutzt Polke auch für seine Malerei. Darunter sein Beitrag Athanor auf der Biennale Venedig 1986, für den er mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet wird. In diesen wärmeempfindlichen Schleifenbildern bewirken Silbernitrate fotochemische Prozesse, so dass sich die Werke je nach Raum- und Tagestemperatur farblich zwischen Rosé und Blautönen verändern. In der Kunsthalle Düsseldorf finden sich 60 verfremdete Xerografien dieser Arbeit, wie Kontaktabzüge mehrreihig über- und nebeneinandergehängt. Sie vergegenwärtigen die Zeit, den Ort, den Aufbau, die Architektur.

Ein zentrales Motiv im Werk Polkes ist das Licht. Die Ausstellung spannt einen Bogen von frühen Rasterbildern des Künstlers und überarbeiteten Fotografien bis hin zu Kerstin Brätsch´s Reflexion über Polkes leuchtendem Zyklus von sieben abstrakten und fünf figurativen lichtdurchlässigen, fein geschliffenen, bunten Achatfenstern im Hauptschiff des Zürcher Grossmünsters. Unter Polkes bildnerisch ins 21. Jahrhundert transportierten Figuren aus dem Alten Testament, die auf mittelalterliche Buchmalereien zurückgehen, finden sich Sündenbock, Isaaks Opfer, Elija und David und das Vexierbild Der Menschensohn[1]. Sie laufen auf ein Glasfenster von Augusto Giacometti – die Geburt Jesu – zu.

Diese zeitgenössischen Ikonen wurden nach Polkes Entwürfen in traditionellen und dafür neu entwickelten Verfahren gefertigt. Die Kunsthistorikern Katharina Schmidt schreibt: „Eindeutig sind diese [Fenster] nie und ihr symbolischer Gehalt bleibt unausschöpfbar. Sie öffnen sich den Widersprüchen und dem Zwiespalt, der Illusion, dem Wunder und dem guten Glauben, der Härte und der Heilung, der Schönheit der Erde und der Würde der Kreatur. Zu diesen Bildern kann man zurückkehren, um sie immer wieder neu zu befragen.“[2]

Kerstin Brätsch greift in ihrer Installationen BRRRRÄTSCH (Sigis Mocken_mano destra) & BRRRRÄTSCH (Sigis Mocken_mano sinistra), (2012- 2016) diese Licht-Glasarbeiten auf. Sie verwendet ähnliche Gläser, in der gleichen Werkstatt gefertigt wie Polkes Scheiben. An der Schnittstelle von Kunst und Handwerk, individueller und kollektiver Motive wird die Arbeit als Tryptichon lesbar: zwei bunte Glasscheiben, installiert wie Seitenflügel eines Altars, dessen Haupttafel in der Mitte leer ist wird frei für eigene Wahrnehmung des umgebenden Raumes. Reales und zugleich transparentes Material wird zum Vehikel für Transzendenz.

Rechte und linke Hand Polkes erinnern unter anderem auch an einen Ausschnitt des Deckenfreskos in der sixtinischen Kapelle - die Erschaffung Adams von Michelangelo Buonaroti. Sie stellt Bildwanderung und künstlerische Individualität in Frage, wenn sie Polkes alttestamentarische Gestalten auf bunte, comicartige Figuren und Strichmännchen wie in Harald Nägelis Graffiti oder Pencks Figurenkürzel herunterbricht. Brätschs Gläser verwendete Alexander Kluge als Kameralinsen für seine Filme Der Zirkus kommt in die Stadt und Neun Fragmente für das INSTITUT (2017).

Aktuelle und historische Desaster

Avery Singers mit Sprühfarbe aufgetragenen Malereien (Motive aus dem Alltag, dem Internet oder der Kunstgeschichte) werden zunächst im Detail am Computer geplant und dann mit der Hilfe von Schablonen ausgeführt. Sie erforscht das Potential von malerischen Techniken im digitalen Zeitalter.

Camille Henrot malt in der Werkreihe Dos and Dont’s – Smoke Without Fire, 2021 Pinselspuren von Hand oder lässt sie vom Computer generieren. Vorlagen ihrer Motive sind private Handy-Schnappschüsse, Internetfunde, Cartoons und Ausschnitte aus einem Buch mit Benimmregeln für Frauen aus dem 19. Jahrhundert.

Trevor Paglens Fotografien zeigen malerische Himmelsszenen. Doch kaum erkennbare, winzige „Fehler“ – Drohnen für Luftangriffe [Ohne Titel (Reaper Drone), 2015] aus diesen gehackten Aufnahmen eines Kommunikationssatelliten – verweisen auf die Brisanz politischer und militärischer Überwachungssysteme. Solche von Maschinen für andere Maschinen gemachten Bilder lassen Menschen und Orte nahezu abstrakt werden und verschwinden.

MAX SCHULZEs große abstrakte Kompositionen sind Camouflagen, militärische Tarnmuster. Mit auffälliger Wandfarbe auf Leinwände gemalt wird Der Wunsch zu verschwinden (Camopedia), 2019 persifliert. Denn entgegen ihrer ursprünglichen Funktion werden solche Formen heute als Kleidung getragen, um aufzufallen.

SETH PRICE verweist auf das Missverhältnis von Informationen im Web 2.0. Politisch brisant wird „Bildwanderung“ in dem Video-Still Hostage Video Still, Unused Pieces, Coral, 2006 aus einem online gestellten Exekutionsvideo. Die OnlinePlattform YouTube, heißt es, wurde zu einem Medium für islamistischen Terror.

Häufig verwendete Sigmar Polke für seine Arbeiten Vorlagen aus Ethnologie, Kultur- und Zeitgeschichte aus seiner umfangreichen Sammlung. In Ohne Titel (Besteckkästchen / Dr Pabscht het z´Schpiez s´Schpäckbschteck z´schpät bschteut), ca.1975, greift Polke eine Illustration aus Max Ernsts Roman Une semaine de bonté (Die weisse Woche) von 1934 auf. Ironisch titelt er eine seiner überarbeiteten Schwarz-weiß Fotografien Kölner Dom. Skulptur eines unbekannten Meisters (vermutlich englischer Bomberpilot, 1944), 1979/84). Collings-James dagegen befragt Geschichte und (kulturelle) Identität als ständigen Prozess: Can You Move Towards Yourself Without Flinching, (2020): Kannst du auf dich selbst zugehen, ohne zusammenzuzucken?

Material und Zeit

Erforscht Polke scheinbar wertfrei seit den 1980er Jahren in seiner Serie Farbproben wie sich kostbare, traditionell kirchliche und kaiserlichen Materialien und hochgiftige Stoffe im Lauf der Zeit verändern, untersucht Raphael Hefti solche Prozesse mit ungewöhnlichen Materialen (zum Beispiel Bismut) und industriellen Verfahren (Polycrystals, 2021).


Sigmar Polke und aktuelle künstlerische Positionen, Jubiläumsausstellung der Anna Polke-Stiftung und der Kunsthalle Düsseldorf, Kunsthalle Düsseldorf, 13.11.2021 – 6.2.2022, www.kunsthalle-duesseldorf.de, www.anna-polke-stiftung.com

Beteiligte Künstler*innen: Kerstin Brätsch, Phoebe Collings-James, Raphael Hefti, Camille Henrot, Trevor Paglen, Sigmar Polke, Seth Price, Max Schulze, Avery Singer.

Im Rahmen eines internationalen, hybriden Festivals (25.–27.11.21) an der Kunstakademie Düsseldorf, organisiert von der Anna Polke-Stiftung, knüpfen Akteur*innen unterschiedlicher Disziplinen an die Themen der Ausstellung an.

Anmerkungen

[1]    Weiterführend: Jürgen Ebach, Menschensohn, eine biblische Wortverbindung, ins Gespräch gebracht mit Sigmar Polkes Glasfenster Der Menschensohn, in: https://www.theomag.de/91/je1.htm, 2014

[2]    Katharina Schmidt in: Sigmar Polke. Fenster – Windows, Grossmünster Zürich, Parkett 11/30/2010.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/bws32.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2021