„Am Anfang war das Auge“

Probleme theologischen Umgangs mit Kunst IV: Inkulturation

Andreas Mertin

Es besteht die Gefahr, dass diese Textfolge zu den Problemen theologischen Umgangs mit der Bildenden Kunst insbesondere wegen der Kritik am Pseudo-Verismus in Teil III so verstanden wird, als würde sie sich grundsätzlich gegen theologische, postkoloniale und vor allem identitätspolitische Umgangsformen mit Kunst wenden. Das ist aber nicht die Intention.

Es geht vielmehr darum, die ikonoklastischen Implikationen mancher Forderungen bzw. Zugriffe auf die Kunst zu benennen und auf ihre Folgen hinzuweisen.[1] Ikonoklasmus gegenüber Kunst geschieht m.E. dort, wo sie zur Illustration missbraucht wird, wo in sie eingegriffen wird, um sie auf eine erwünschte Botschaft zu reduzieren, wo die ästhetische Gestaltung ethischen Vorgaben unterworfen wird, und dort, wo die notwendig prozessuale und unendliche ästhetische Erfahrung unterbrochen und stillgestellt wird.

Intellektuelle Redlichkeit erfordert aber auch, zu überlegen, ob und wie es überhaupt eine produktive Lösung geben kann, eine, die im Einklang mit der Entwicklung der Bildenden Kunst und Kultur der Gegenwart steht. Und so kommt die Inkulturation ins Spiel, die bereits mehrfach angesprochen wurde. Die Frage wäre, welche Modelle der Inkulturation stehen uns überhaupt zur Verfügung, wie gehen wir mit diesen Modellen um, wo erweist Inkulturation ihre Stärken und wo zeigen sich ihre Schwächen bzw. Grenzen?[2] Kann sie eine Lösung im Blick auf die autonome Kunst bieten? Das kann hier nicht umfassend erörtert werden, aber einige Aspekte will ich andeuten.

Ich vermute jedoch, dass es keine alle Seiten befriedigende Lösung des Problems gibt, denn die beteiligten Diskurse befinden sich schlicht in einem kaum aufhebbaren Widerstreit. Schon vor 30 Jahren hat der Religionswissenschaftler Theo Sundermeier das zentrale Problem der Inkulturation des Christentums im Blick auf Kunst und Kultur so beschrieben:

„Kultur kommt nur insofern in den Blick, als sie instrumentalisiert werden kann zur effektiveren Ausführung der Evangelisationsaufgabe. Doch wer Kunst instrumentalisiert, zerstört sie. Das gleiche gilt für eine einseitige Funktionalisierung der Kultur.“[3]

Ich selbst habe das etwa zur gleichen Zeit breiter gefasst und der Theologie allgemein wie auch der Kirche eine Tendenz zum ‚Ikonoklasmus‘ bescheinigt.[4] In nahezu allen Fällen unterbricht der theologische Zugriff auf die Kunst den ästhetischen Erfahrungsprozess, stellt ihn still und bezieht seinen Erkenntnisgewinn auf das zuvor im ästhetischen Prozess Erkannte. Im besten Fall ist sich die Theologie dessen bewusst, vorausgesetzt werden kann dies in der Regel jedoch nicht.

Exkurs: Die Libri Carolini

Nun sind das keine neuen Erkenntnisse der Moderne, schon Theodulf von Orléans, Hoftheologe Karls des Großen, war sich im 8. Jahrhundert darüber im Klaren, dass der theologisch-funktionalistische Zugriff auf die Kunst in der Gefahr steht, das Ingenium der Künstler zu missachten. In den von ihm formulierten Libri Carolini finden wir ein frühes Beispiel für das zugrundeliegende Problem, wie Ann Freeman im Vorwort zu ihrer Edition der Libri Carolini schreibt:

„Die Position zur Bilderfrage ist im Opus Caroli regis in Opposition zu den Anschauungen der Griechen formuliert. Das Konzil von Nicaea erkannte den Bildern eine geistige Kraft zu, die sich in wundersamen Bekehrungen und Heilungen äußere; im Opus Caroli regis wird eine solche Kraft kategorisch geleugnet: Bilder haben keine hieratische Dimension, sie sind bloße Kunstwerke [opificia], materielle Produkte weltlicher Kunst. Ihr Wert liegt allein in dem kostbaren Material, aus dem sie gefertigt sind, danach können sie als 'kostbar', 'kostbarer' und 'besonders kostbar', aber nicht als 'heilig', 'heiliger' und 'besonders heilig' eingestuft werden, denn eine Heiligkeit kommt ihnen als solchen nicht zu. Bilder können Heilige mit heroischen Tugenden abbilden, haben aber nicht teil an deren Heiligkeit, sie bleiben gewöhnliche Erzeugnisse aus Lehm, Wachs, Stein oder Holz, unterliegen dem Verfall und sind nur an ihren Inschriften zu unterscheiden.“[5]

Man merkt, die Libri Carolini sind noch 500 Jahre vom erwachenden Selbstbewusstsein der Künste und der Künstler in der Renaissance entfernt, sie betonen vor allem den kunsthandwerklichen Charakter der Objekte. Und dennoch beurteilen sie Kunstwerke im Wesentlichen nach künstlerischen, kunstimmanenten Kriterien. Sie plädieren für die weltliche Beurteilung der Kunst.

„Eine berühmte Passage in Kapitel IV 21 des Opus Caroli regis handelt von der Schwierigkeit, die entsteht, wenn ein Gemälde keine Inschrift trägt. Wer das Bild einer nicht identifizierten Mutter mit Kind verehrt, läuft Gefahr, Elisabeth und Johannes, Bathseba und Salomon oder gar Venus und Aeneas anzubeten.“[6]

Das von den Libri Carolini konstruierte Beispiel geht so: Ein Mann bekommt zwei Bilder gezeigt, auf denen jeweils eine Frau mit Kind abgebildet sind. Eines der Bilder soll die „Gottesmutter Maria“ darstellen, man weiß nur nicht welches. Aber allein durch ikonographische Lektüre lässt sich kein religiöses Urteil fällen, man bräuchte die Titel der Bilder, die sind aber nicht vorhanden. Der Mann will die Bilder daher beide wegwerfen, wird aber darauf hingewiesen, dass er dann womöglich ein verehrungs- und anbetungswürdiges Werk wergwirft. Betet er jedoch unterschiedslos beide Bilder an, dann wird er eventuell zum Götzenanbeter.

Die fränkischen Libri Carolini sind nun nicht der Ansicht der orthodoxen Theologen, dass man zum Verstehen der Bilder immer die Bildunterschrift brauche (sozusagen das passende Framing durch einen sinnstiftenden Text), sondern halten die Bildunterschrift sogar für eine beinahe schon kontingente Zutat, weil das entscheidende Kriterium eigentlich die sich in der ästhetischen Erfahrung erschließende Kunsthaftigkeit des Werkes sei. Darin sind sie, wie insbesondere Umberto Eco hervorgehoben hat, überaus modern.[7]

In der orthodoxen Theologie wird dagegen der von einem theologischen Fachmann als Bestätigung gesetzte Bildtitel zum Garanten der Wirkmächtigkeit des Bildes. Nur das Framing garantiert die Ikone, so wie es Guntram Koch zu Recht hervorhebt:

„Damit aus einem bemalten Stück Holzbrett eine verehrungswürdige Ikone wird, nämlich ein getreues Abbild des Urbildes, ist außer der Malerei etwas entscheidend wichtig: die Beschriftung. Nur sie gibt Sicherheit, sie ist sozusagen das Echtheitssiegel. Durch die Beschriftung wird auch aus einem handwerklich einfachen Bild, bei dem man gerade noch den Typus erkennen kann, die Ausführung jedoch bestenfalls in den Bereich der Volkskunst zu rechnen ist, eine Ikone. ‚Wie die Kirchen den Namen des Heiligen empfangen, so tragen ihn durch die Aufschrift auch deren Bilder, und sie werden dadurch geheiligt‘, so z. B. Nikephoros, Patriarch von Konstantinopel, oder, um nochmals Johannes von Damaskus zu zitieren: ‚Die Bilder tragen den Namen des Abgebildeten und sind durch diesen Namen, sei es der Name Gottes oder des Heiligen, geheiligt‘.“[8]

Das erklärt vielleicht, warum Theolog:innen bis in die Gegenwart das Framing durch Texte zum entscheidenden Kriterium machen und so konsequent an Textvorgaben festhalten.[9] Nur durch den erläuternden Text wird nach ihrem Verständnis ein Bild zum religiösen bzw. heiligen und damit zu verehrenden Bild. Wenn aber genau dieser Kon-Text für die Menschen ungewiss ist, wird es problematisch. Das ist interessant für die Prozesse der (Re-)Inkulturation, wenn etwa vorfindliches künstlerisches Material nun mit einem Framing versehen wird oder das importierte Framing neue Gestaltungen verlangt.

"Pachamama" – konflikthafte Inkulturation

Die von Papst Franziskus "Pachamama" genannten Figuren, die 2019 in Rom präsentiert wurden, sind ein höchst faszinierendes, weil dialektisches Beispiel für eine derartige Kon-Text-Abhängigkeit der Beurteilung von Artefakten. Im Rahmen der damals im Vatikan stattfindenden Amazonas-Synode waren diese Skulpturen indigener Völker in der Kirche Santa Maria in Transpontina aufgestellt worden. Sie wurden dort den Betrachter:innen als religiöse Figuren aus der Amazonasregion vorgestellt, ohne dass sie vor Ort explizit in den christlichen Ritus eingeordnet wurden, sie waren zunächst einmal nur zu Gast in der Kirche.

Auf der ersten, vor-ikonographischen Sinnebene[10] sind diese Pachamama-Figuren zumindest für die Augen europäischer Betrachter:innen eine Darstellung einer knienden nackten indigenen Frau mit langem schwarzem Haar und Bemalungen auf den Wangen, die einen Embryo auf dem bzw. im Bauch trägt.[11]

Wer nun in Europa auf die Amazonas-Skulpturen stößt, kann sie als (Re-)Inkulturation aus dem Amazonas in einen europäischen Kon-Text begreifen und überlegen, wie er damit umgeht. Ganz unbekannt sind Europäer:innen Darstellungen von Frauen mit einem Embryo auf bzw. im Bauch freilich nicht, die „europäischen Eingeborenen“ treffen auf ein ihnen aus der christlichen Kunstgeschichte Europas durchaus bekannt vorkommendes, wenn auch dort eher seltenes Motiv.

Diese Skulpturen einer Frau mit einem Embryo sind nämlich einem bestimmten europäischen Typ der sogenannten Heimsuchung der Maria ähnlich, den wir bereits in der letzten Ausgabe des Magazins vorgestellt hatten. Bei diesem etwa seit 1400 auftretenden foetus type werden Elisabet und Maria bei ihrer Begegnung explizit mit ihrem Ungeborenen im Bauch dargestellt. Der tiefere Sinn dieser Darstellung ist es, auch visuell das Verhältnis von Johannes und Jesus zu klären, was bei der Pachamama aber natürlich entfällt.

Daher macht erst ein vor Ort in Rom vorgenommenes Framing (etwa: heidnische Gottheit) oder eine ikonographische Sinnzuschreibung (also: Maria mit Jesus) das Artefakt im Kon-Text einer christlichen Kirche bzw. einer christlichen Synode zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Die christlichen Betrachter:innen müssen – wenn sie nicht kunstimmanent argumentieren wollen – sozusagen im Kopf einen Bildtitel hinzuerfinden, um sich religiös zum Bild verhalten zu können. Das entspricht der Situation, welche auch die Libri Carolini geschildert hatten. Wählt man den Bildtitel ‚Madonna mit Embryo‘, müsste man die Skulptur verehren, wählt man ‚Göttin mit Embryo‘ würde man vor dem Bild einer Fremdreligion stehen. Aus der Skulptur selber kann man den Bildtitel aber nicht erschließen. Das macht sie für unsere Frage so spannend und herausfordernd.

Denn tatsächlich steht die indigene Darstellung historisch in einem dialektischen Verhältnis zu den europäischen Darstellungen. Aber es handelt sich nicht, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, einfach um eine südamerikanische Darstellung der Jungfrau Maria mit ihrem ungeborenen Kind. Vielmehr geht es um eine wesentlich komplexere Aneignung, die dennoch nicht zuletzt unter dem Einfluss von Missionaren entstanden ist.

Zugrunde liegt zunächst die allgemeine und der Kolonisierung Amerika vorgängige Konzeption der „Pacha“, eine Art kosmisches Prinzip, das das gesamte Sein umfasst. Dieses umfasst aber nicht einen homogenen Block, sondern kann aufgeteilt werden in zwei Dimensionen: die Oberwelt und die Unterwelt. Dieses kosmische Prinzip ist nicht-ikonisch.

Zu unterscheiden ist zwischen Pacha als einem eher geschlechtslosen Prinzip für das universale kosmische Gefüge, wie es von den Indigenen verstanden wurde, und der weiblichen Götter-Personifizierung, wie sie im Verlauf der spanischen Kolonisierung durch die Verknüpfung des Prinzips mit der christlichen Marienverehrung in zahlreiche Formen des Pachamama-Kultes mündete.[12]

Als die Spanier und mit ihnen die Mönche nach Lateinamerika kamen, mussten sie eine Umgangsform mit den vorhandenen kosmischen Größen wählen. Dies geschah durch Verwerfung und Anpassung. Und so wurde die christliche Figur der Maria von den Missionaren dazu benutzt, einen Teil des Pacha-Kultes zu beerben. Man konnte an Vorhandenes anknüpfen und ihm einen christlichen Sinn geben. Der Bevölkerung vor Ort kam das insofern entgegen, weil sie trotz der christlichen Umdeutung an ihrer vertrauten religiösen Welt festhalten konnte. Die Pachamama ist also von einer deutlichen Ambivalenz charakterisiert, sowohl Teil der alten wie der neuen Religion zu sein. Das wird dann zum Problem, wenn die Figuren zurück nach Europa gelangen und dort durch ihre vermeintliche Fremdartigkeit vor allem als fremde Göttergestalten wahrgenommen werden und der Prozess der Inkulturation übersehen wird. Papst Franziskus hat im Kontext der von ihm veranstalteten Amazonas-Synode Erfahrungen mit den Reaktionen junger weißer Männer gemacht, wenn Werke, die im Rahmen der Akkommodation bzw. Inkulturation ihre Gestalt durch die Hand indigener Künstler gefunden haben, einmal den Weg zurück nach Europa finden. Es waren verstörende ikonoklastische Reaktionen.

Weil sie den Prozess nicht einmal ansatzweise verstanden haben und Papst Franziskus grundsätzlich einen Hang zu einer unangemessenen Anpassung an die Welt und deren Religionen unterstellten, erschienen diesen weißen jungen Männern die Skulpturen nur als Götterbilder. Sie drangen deshalb in die Kirche ein, in der die Skulpturen ausgestellt waren, entfernten diese und warfen sie in einem symbolischen Akt in den Tiber. Dass es ausgerechnet junge männliche traditionalistische katholische Lebensschützer waren, die Figuren von Schwangeren vernichteten, hat eine besonders bizarre Note. Es zeigt aber, dass Prozesse der Inkulturation und der Re-Inkulturation immer konfliktbeladen und leicht misszuverstehen sind. Wenn die Figuren im alten orthodoxen Sinn einen Titel (ein Framing) gehabt hätten, dass die Urbild-Abbild-Beziehung zur ‚Gottesmutter Maria‘ hergestellt hätte, so hätten es sich die Traditionalisten wohl sehr überlegt, ob sie die Skulpturen vernichtet hätten. So aber mussten sie – wie beim Beispiel in den Libri Carolini – die Titelzuschreibung selbst vollziehen und sie entschieden sich, die Skulpturen weder als Madonnendarstellung noch als Kunstwerk zu titulieren, sondern als „heidnisches“ Götzenbild. Das funktioniert aber nur, weil sie das Phänomen der Inkulturation gar nicht verstehen und die Tatsache der Re-Inkulturation nicht verstehen wollen.

Inkulturation

Das Problem der Inkulturation ist dem Christentum natürlich seit seinen Anfängen eingeschrieben, musste sich doch eine dem jüdischen Denken entspringende Religion in einer hellenistischen und römischen Umwelt einsichtig machen. Inkulturation als solche wurde dann aber erst mit dem Bewusstwerden der Problematik der Geschichte der Kolonisation und der dabei höchst einseitig stattfindenden Kommunikation systematisch in der Theologie reflektiert.

Das Lexikon für Theologie und Kirche schreibt:

„Nach christlichem Selbstverständnis gilt das Evangelium allen Menschen, welcher Kultur sie auch immer angehören. Da dieses aber an eine konkrete Geschichte und damit zugleich an kulturelle Bestimmungen gebunden ist (jüdisch-griechisch-hellenistisch-europäische), führt die Universalisierung des christlichen Anspruchs zu theoretischen und praktischen Problemen christlicher Identität, welche das Christentum seit Beginn beschäftigen und sachlich unter den Stichworten Adaptation, Akkommodation, Indigenisierung, Kontextualisierung und Inkulturation diskutiert werden.
     Diese Probleme, von denen auch andere Religionen, die über ihren Ursprungsort hinausgehen, berührt werden, stellen sich heute deswegen mit besonderer Dringlichkeit, weil die Mehrheit der Christen in der südlichen Hemisphäre lebt und ihre Identität aus den Geschichten nichteuropäischer Kulturen und im Kontext nichtchristlicher Religionen zu gewinnen hat.“
[13]

Letzteres beschreibt genau das Problem, vor dem wir heute stehen. Es geht aktuell weniger darum, über Inkulturation in anderen Ländern nachzudenken, als vielmehr zu fragen, wie sich Inkulturation hier vollzieht, wenn die Gesellschaft sich in einem permanenten Wandel zu einer multikulturellen Gesellschaft befindet.

Die verschiedenen Modelle der Inkulturation und ihre Geschichte[14] zeigen uns aber auch, dass Entwürfe, die nach dem Schema der Dritten zu vermittelnden Wahrheit konzipiert sind ohne deren kulturelle Lebenswelten zu berücksichtigen, nicht funktionieren. Die Lösung kann also nicht darin bestehen, nun nach dem alten, vormodernen katholischen Modell eine ‚Wahrheit‘ festzustellen, die dann in die konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort übersetzt oder eingepasst wird. Stattdessen wird man darauf achten müssen, wie sich die kulturellen Prozesse eigenständig vor Ort entwickeln. Im Blick auf das Betriebssystem Kunst hatte ich ja schon darauf hingewiesen, dass dieses sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts davon verabschiedet, religiöse Sujets überhaupt zu einem künstlerischen Thema zu machen. Zwar gibt es ab und an noch solche Sujets, aber sie stehen in keinem Verhältnis zur Religion der Gegenwart. Beide Sphären haben sich auseinanderdifferenziert.

Im Blick auf die Gebrauchskunst und das religiöse Kunsthandwerk kann die Lösung aber nun ebenfalls nicht in einer identitätspolitisch vorgegebenen Richtung liegen. Ein identitätspolitisches Rom kann nicht dekretieren, wie Inkulturation zu funktionieren hat. Stattdessen wird man darauf setzen müssen, dass jede Gemeinde für sich nach ihren spezifischen Lebensverhältnissen die Inkulturation des Evangeliums vornimmt und dabei variante Akzentuierungen je nach Zusammensetzung der Gemeinde vornimmt. Was in Münster passt, muss in Plettenberg nicht passen und umgekehrt.

Ein interessantes Modell für die Varianz derartiger kultureller Anpassungen im Mikrokosmos einer Kultur und einer Religion war auf der Documenta 14 zu studieren. Dort zeigte der Filmemacher Romuald Karmakar unter dem Titel Byzantion Videos von zwei orthodoxen Chören, die nacheinander den gleichen Marien-Hymnus singen:  Agni Parthene.  Der Hymnus wurde nach seiner Entstehung so berühmt, dass zahlreiche orthodoxe Klöster ihn übernahmen und jeweils der ortsüblichen Tradition des Kirchengesangs angepasst – ihn quasi lokal inkulturierten. Die Wikipedia verzeichnet allein 19 unterschiedliche Klangbeispiele und benennt 24 verschiedene Versionen. Dem Künstler kam es nun genau auf diese Dialekte an, auf die Besonderheiten der verschiedenen Sprachvariationen, die von der jeweiligen regionalen Kultur geprägt sind. Sprache kann etwas sein, das uns verbindet und zugleich unsere lokale Identität ausdrückt – es gibt kaum ein besseres Beispiel dafür.

Dieses Modell der sich aus der Gemeinde selbst heraus entwickelnden Inkulturation im Blick auf religiöses Kunsthandwerk könnte sich noch als interessant erweisen. Dazu bedürfte es weniger der beliebten Fahrten in ein Krippenmuseum (die dann auf konforme Lösungen hinauslaufen), sondern ein religiöses, theologisches, kulturelles Besinnen darauf, was eigentlich bildlich ausgedrückt werden soll.

Anmerkungen

[1]    Mertin, Andreas (2018): Verdammte Erinnerung I. Über das Abhängen von Kunst in Zeiten verquerer Moral. In: tà katoptrizómena, Jg. 20, H. 112. https://www.theomag.de/112/am622.htm. Sowie Mertin, Andreas (2018): Verdammte Erinnerung II. Was ist Sexismus in der Kunst? In: tà katoptrizómena, Jg. 20, H. 112. https://www.theomag.de/112/am625.htm.

[2]    Vgl. z.B. Krämer, Klaus; Vellguth, Klaus (Hg.) (2017): Inkulturation. Gottes Gegenwart in den Kulturen. Unter Mitarbeit von Daniel Assefa, Edmund Kee-Fook Chia und Juan Manuel Contreras Colin et al. Freiburg, Basel, Wien: Herder (Theologie der einen Welt, Band 12).

[3]    Sundermeier, Theo (1992): Inkulturation und Synkretismus. In: Evangelische Theologie, Jg. 52, H. 3. S. 193

[4]    Mertin, Andreas (1988): Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung. In: Mertin, Andreas; Schwebel, Horst (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, S. 146–168. Online unter: http://www.theomag.de/09/am1.htm

[5]    Freeman, Ann (Hg.) (1998): Teodulfus: Opus Caroli regis contra synodum (Libri Carolini). Hannover.
Online: https://www.dmgh.de/mgh_conc_2__suppl_1/index.htm#page/(III)/mode/1up

[6]    Ebd.

[7]    So auch Eco, Umberto (1995): Kunst und Schönheit im Mittelalter. München, S. 159: "Die Ästhetik der Libri Carolini ist eine Ästhetik des unmittelbar Sichtbaren, und sie ist zugleich eine Ästhetik der Autonomie des Werkes der bildenden Kunst."

[8]    Vgl. Guntram Koch, Was ist eine Ikone? in: Althaus, Koch, Zacharuk (Hg.) (1991): Ikonen, Frankfurt, S. 20.

[9]    Hoeps, Reinhard (1987), Bild und Ikonoklasmus: Zur theologisch-kunsttheoretischen Bedeutung des Bilderverbotes, in Sternberg, Thomas & Dohmen, Christoph (Hg.): … kein Bildnis machen: Kunst und Theologie im Gespräch. Würzburg: Echter, 185–203. „Der Theologe sucht nach religiös relevantem Gehalt in jedem Bild, und zwar auf jene Weise, in der er durch die Deutung heilsgeschichtlicher Darstellungen geschult ist: Die Bilder werden einer ihnen vorgängigen außerbildlichen Realität untergeordnet, der sie im Schema symbolischer Repräsentation zu gehorchen haben.“

[10]   Vgl. Panofsky, Erwin (1979): Ikonographie und Ikonologie. In: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme. Köln, S. 207–225, hier S. 223.

[11]   Wobei auch auf diese Ebene schon Sinnzuschreibungen vorgenommen werden. Am Schwierigsten ist das beim Embryo, das ja keiner lebensweltlichen Erfahrungstatsache entspricht und immer in einem Transfer als solches gedeutet werden muss. 

[13]   Art. Inkulturation, Kasper, Walter (Hg.) 1995. Lexikon für Theologie und Kirche = LThK. 3., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg i. Br.: Herder. Band 5, Sp. 504ff.

[14]   Gonçalves, Paulo Sergio Lopes (2017): Zum Umgang mit den Modellen von Inkulturation. In: Krämer / Vellguth (Hg.): Inkulturation, a.a.O., S. 221-245.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/135/am744d.htm
© Andreas Mertin, 2022