Antisemitische Schatten über der documenta fifteen?

Zur doppelten Politisierung der Kunst

Andreas Mertin

Die Schatten der Documenta

Niemand kann ernsthaft überrascht sein, wenn im Kontext der documenta, und hier nicht nur der kommenden documenta fifteen, von Anti-Semitismus vor allem aber von Anti-Zionismus gesprochen wird. Dabei geht es gar nicht um die braune Vergangenheit mancher ihrer Begründer oder die angebliche völkische Gesinnung mancher ihrer Heroen, sondern um die Artefakte von Künstler:innen, die aus ihrer Biographie heraus eine andere Sicht auf den Vorderen Orient haben, als es dem gewünschten Image einer antifaschistischen Documenta entsprechen würde.

Ich erinnere mich an das Kunstwerk „Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyer, Depopulated, and Occupied by Israel in 1948“ von Emily Jacir auf der Documenta 14, das eine höchst einseitige Stellungnahme in der Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern in Palästina war. Schon auf der d13 war ein ähnliches Kunstwerk der Künstlerin gezeigt worden, bei dem es um „israelische Plünderungen von Büchern in palästinensischen Wohnungen im Jahr 1948“ ging. Den Begriff Palästinenser gibt es aber erst seit der PLO-Charta 1964. Auf der Documenta-Ausstellung 2017 in Athen dokumentierte Ahlam Shibli die angebliche „Zerstörung der palästinensischen Lebensgrundlage in der Stadt al-Khalil/Hebron durch das israelische Kolonialregime und seine Siedler“ und spiegelte so die heutige palästinensische Sicht auf die Geschichte. Das wird etwa deutlich, wenn sie von der „antiken palästinensischen Stadt al-Khalil / Hebron“ spricht. Daran ist nur richtig, dass es früher eine antike Stadt war und heute eine palästinensische Stadt. Historisch war Hebron u.a. Hauptstadt unter König David, sie war auch mal eine christliche Stadt, bedeutsam ist sie durch Abrahams Grab für Juden, Christen und Muslime.

Aber auch die evangelische Kirche präsentierte 2017 im Rahmen ihrer Begleitausstellung zur documenta Zeichnungen einer indischen Künstlerin, die zeigen sollten, wie ein arabischer Angehöriger der Knesset zum Schweigen gebracht wird. In Wirklichkeit hatte der Abgeordnete den jüdischen Parlamentspräsidenten als Faschisten bezeichnet, eine, wie man leicht nachvollziehen kann, in Israel ungeheuerliche Beleidigung, die sofort sanktioniert wurde, indem dem Redner das Wort entzogen wurde. Da aber der konkrete Anlass der Intervention im Kunstwerk aber überhaupt nicht zum Ausdruck kommt, sondern als Beispiel der jüdischen Unterdrückung des arabischen Volkes vorgestellt wird, wird es zur anti-jüdischen Propagandakunst. Das wurde noch dadurch verstärkt, dass die Entfernung des Parlamentariers visuell als „Auslöschung“ umgesetzt wurde. Aber der evangelischen Kirche und den Verantwortlichen für die Begleitausstellung schien das egal zu sein.

Man könnte noch viele Beispiele nennen, die in die gleiche Richtung gehen. Sie entstehen aus palästinensischen Narrativen, die hier künstlerisch Gestalt finden, und der Öffnung der Documenta für weltweit erörterte Fragestellungen, die nicht zuletzt dem Post-Kolonialismus entspringen und dem Schicksal der Juden oft gleichgültig gegenüberstehen. So etwas gerät dann immer öfter in Konflikt mit Leitlinien, denen sich Deutschland als Träger der documenta in den letzten Jahrzehnten im Eingedenken seiner Verbrechen an den Juden im Dritten Reich verpflichtet hat: die Sicherheit Israels ist wie häufig bekundet Teil der deutschen Staatsräson.

Und es wird spätestens dort zum Konflikt, wo sich Künstler:innen und andere Aktivist:innen der Bewegung BDS[1] anschließen, diese unterstützen und dabei nicht zuletzt Narrative bedienen, die von den historischen Ereignissen abweichen: etwa die Rückdatierung des Begriffs Palästinenser oder palästinensisch vor das Jahr 1964, oder die Charakterisierung israelischer Handlungen als Terror, während die Ursachen der Handlungen unterschlagen bzw. verschwiegen werden.

Man muss aber auch sagen, dass die Documenta zumindest nach meinem Wissen nie jüdische Künstler:innen oder das Land Israel boykottiert hat. Auf vielen Documenta-Ausstellungen standen Arbeiten jüdischer Künstler:innen hoch in der Wertschätzung - zumindest beim Publikum. Erinnert sei nur an Roee Rosens Arbeit „The Dust Channel“ im Palais Bellevue auf der letzten Documenta, vor der immer Schlangen an Besucher:innen standen, so dass man oft eine Stunde auf den Einlass wartete. Und Roee Rosen ist ein extrem politischer Künstler, der sich in seiner Arbeit mit den (ethnischen) Reinigungsphantasien mancher Herrschender ausein­andersetzte.

Seit 1992 spielt die Documenta aber auch ein brisantes Spiel der politischen Aufladung von Kunst, unterwirft sie ethischen Vorgaben und stellt die Frage nach dem Kunstcharakter und der Autonomie der Kunst in den Hintergrund bzw. weist sie vollständig ab. Insofern verantwortet die Documenta die Konflikte, die sich nun abzeichnen, selbst. Indem Kunst zur politischen Frage wurde, werden nun auch die Auseinandersetzungen politisch und nicht mehr künstlerisch geführt. Die Documenta wurde zunehmend zu einem Artikulationsfeld für politische Agitation.

Zur aktuellen Diskussion

Ein Bündnis gegen Antisemitismus Kassel hat Anfang 2022 unter der Überschrift „Documenta fifteen: Antizionismus und Antisemitismus im lumbung“ darauf hingewiesen, dass die kommende Documenta auf verschiedenen Ebenen problematisch sei:

  1. Zum einen stehe ein gewisser Teil der Findungskommission der documenta fifteen dem Staat Israel nicht neutral, sondern kritisch bis ablehnend gegenüber.
  2. Auch zum von der Findungsteam gewählten Kuratorenteam selbst gehörten Vertreter:innen israelkritischer Positionen.
  3. Das Gleiche gelte für das künstlerische Team, das das Kuratorenteam berät.
  4. Und schließlich fänden sich auch unter den vom Kuratorenteam der documenta vorgeschlagenen Künstler:innengruppen solche, die eine durchaus problematische Haltung gegenüber Israel einnähmen oder in der Tradition von Institutionen und Personen ständen, die sogar mit dem Nationalsozialismus sympathisierten.

Diese antizionistische und antisemitische Haltung der Kritisierten sieht das Bündnis gegen Antisemitismus auf verschiedenen Ebenen verwirklicht. Und zwar in

  1. explizit antisemitischen Äußerungen und Bezügen auf Traditionen, die sich einst positiv mit dem Nationalsozialismus verbanden
  2. direkter Mitgliedschaft oder Unterstützung der Organisation Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)
  3. Unterstützung der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit[2], die sich gegen die Bundestagsentscheidung wandte, die die BDS als antisemitisch erklärte und im öffentlichen Raum keine Veranstaltungen zulassen bzw. fördern will, die Mitglieder, Förderer oder Sympathisanten des BDS einladen. Genauso problematisch sei der Aufruf „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren“[3], den zahlreiche Künstler:innen initiiert hatten.

Das sind aber drei verschiedene Ebenen, die auch unterschiedlich bewertet werden müssen. Tatsächlich sollte niemand an der Documenta beteiligt sein, der für die Auslöschung Israels eintritt bzw. das Existenzrecht Israels bestreitet. Inwiefern das für die Bewegung BDS zutrifft, ist umstritten, wird aber vom Common Sense der deutschen Politik so gesehen. Man könnte im Sinne dieses Common Sense sagen, dass ein Kriterium für die Beurteilung der Handelnden auf der Documenta ihre Haltung zum BDS sein könnte. Ich wäre da vorsichtiger, weil es auch jüdische Positionen gibt, die BDS partiell unterstützen, aber sich entschieden von ihren antisemitischen Positionen abgrenzen. Aber der Common Sense in Deutschland ist ein anderer. Grundsätzliche Probleme habe ich damit, wenn das Ausschlusskriterium bzw. die Verurteilung schon dort ansetzt, wo Personen oder Institutionen die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit oder die Erklärung „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren“ unterstützen. Beide Initiativen grenzen sich klar vom Antisemitismus ab, nur wird ihnen das nicht geglaubt bzw. es wird ihnen Unterstützung des Antisemitismus vorgeworfen. Hier sehe ich deutlich eine Grenze überschritten.

Zur doppelten Politisierung der Kunst

Tatsächlich haben beide Seiten – BDS wie Kritiker des BDS – die politische Kontrolle der Künste zum leitenden Prinzip ihres Handelns erkoren. Während die einen die Biographien von Künstler:innen und die Programme der Veranstalter daraufhin absuchen, ob sie in einem positiven Verhältnis zum Staat Israel stehen und im positiven Fall zum Boykott der Künstler:in bzw. der Veranstaltung aufrufen, untersuchen die anderen die Biographien und Verlautbarungen von kulturell Engagierten daraufhin ab, ob sie in einem kritischen Verhältnis zu Israel stehen und sich positiv zu BDS geäußert haben und fordern dann den Ausschluss dieser Initiativen, Institutionen und Künstler:innen.[4] Gemeinsam ist beiden das vorgegebene Interesse an der ethischen Kontrolle der Kunst, nur die Kriterien sind unterschiedlich. Dagegen spielt die Kunst selbst, spielen die konkreten Artefakte keine Rolle. Andererseits finde ich auch das von Elke Buhr (monopol-magazin) eingebrachte Argument zu schwach:

Es gilt für jedes internationale Ausstellungsprojekt: Sobald man Künstlerinnen und Künstler mit Verbindungen zur arabischen Welt oder zum globalen Süden einlädt, wird man auf Menschen treffen, die eine andere Haltung zum BDS haben als es die offiziellen Leitlinien bundesdeutscher Politik vorsehen … Wer damit nicht klarkommt, muss sich von der Idee einer internationalen Ausstellung generell verabschieden.[5]

Ich glaube nicht, dass das die richtige Schlussfolgerung ist. Es gibt weltweit tausende von renommierten Künstler:innen, die mit der BDS-Bewegung überhaupt nichts anfangen können. Daran wird eine internationale Ausstellung nicht scheitern. Wenn man aber tatsächlich sagen müsste, „ein bisschen Antisemitismus ist immer“, dann sollte man sich tatsächlich von internationalen Ausstellungen verabschieden. Nur glaube ich nicht, dass das zutrifft. Elke Buhr fügt dem aber noch einen Satz hinzu: „Entscheidend ist, dass über die unterschiedlichen Meinungen und Haltungen, die bei der kommenden Documenta zu erwarten sind, fair und konstruktiv gesprochen wird.“ Und genau das ist das Problem, auf das das Bündnis gegen Antisemitismus in Kassel, wenn man es denn positiv deutet, hinweist. Man kann nicht so tun, als sei die Eliminierungsrhetorik gegenüber Israel eine Meinung, über die dann während der Documenta konstruktiv gesprochen werden könnte. Sascha Lobo erzählt in seinem Buch „Der Realitätsschock“ von einem makabren Witz amerikanischer Journalisten, mit dem diese einen zunehmenden Trend in der Publizistik kritisieren. Sagt jemand in einer Talkrunde: Man sollte alle Juden töten. Sagt ein anderer: Das finde ich nicht. Sagt der moderierende Journalist: Da haben wir nun zwei extreme Meinungen, wie finden wir da einen Kompromiss. So geht es eben nicht. Wenn es wirklich um Eliminierungsrhetorik gegenüber Israel geht, dann kann, gerade im Blick auf die deutsche Geschichte, aber auch darüber hinaus, nicht so getan werden, als gäbe es hier etwas zu verhandeln oder konstruktiv zu lösen.

Nun ist das anonym agierende Bündnis gegen Antisemitismus Kassel, darauf hat Elke Buhr zurecht verwiesen, keine neutrale wissenschaftliche Institution. Es argumentiert nicht nur ziemlich platt und ist selbst sehr vorurteilsbefangen. Es steht aber auch, wenn ich es recht deute, in der Tradition der antideutschen Bewegung. Zumindest weisen einige der Argumentationsmuster und der herangezogenen Quellen darauf hin.[6] Das spricht nicht unbedingt gegen sie, würde aber einige der überzogenen karikaturenhaften Zuspitzungen und moralisierende Schlussfolgerungen erklären. Sätze wie „ein wichtiges Standbein des postmodernen Kunstbetriebes ist bekanntlich die „Israelkritik“, der Antizionismus, bisweilen auch der offene Antisemitismus und die Verbundenheit mit der palästinensischen Sache“ sind wirklich unerträgliche Übertreibungen. Ich arbeite seit vierzig Jahren im Bereich der Ausstellungskunst, aber mir ist derartiges als angeblich „wichtiges Standbein“ der Kunstszene nie begegnet. Natürlich trifft man auf Positionen wie die einleitend geschilderten, aber sie sind kein Common Sense des Betriebssystems Kunst, schon gar nicht die Voraussetzung an seiner Teilnahme. Was darüber hinaus ein „postmoderner Kunstbetrieb“ sein soll, erschließt sich mir im Vergleich etwa zu einem „modernen Kunstbetrieb“ auch nicht. Das ist allenfalls ein klischeehafter Blick auf die Kunst von außen, mehr vorurteilsbeladenes Gerede als sachhaltig. Auch wenn man vorwurfvoll schreibt, „staatlich alimentierte Kulturmanager“ hätten diese oder jene Erklärung unterschrieben, spielt man bloß mit Ressentiments und bewegt sich, um mit Adorno zu sprechen, auf dem Niveau der Freunde der Hotelbildmalerei.[7] Die Rede von der „staatlich gemanagten Kultur“, darauf hat Adorno seinerzeit zu Recht verwiesen, ist reaktionär durch und durch.

Schibboleth oder: Vorschlag zur Ungüte

Mein Vorschlag zur Ungüte, der m.E. auch mit der Kritik des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel konform gehen könnte, ohne freilich in deren Brachialrhetorik zu verfallen, wäre es, dass die Documenta GmbH ganz bewusst und prononciert israelische Firmen oder auch den israelischen Staat um ein Sponsoring für die Documenta bittet.

Das würde in der Folge notwendig die Spreu vom Weizen trennen, haben doch bisher diejenigen, die vehement für die Ausgrenzung des Judentums bis hin zur Vernichtung des jüdischen Staates eingetreten sind, diesen Punkt zum neuralgischen Punkt erklärt.

Hier folge ich dem geschätzten Kollegen Thomas Wessel von der Christuskirche Bochum. Er versucht im Rahmen seines dortigen Veranstaltungsprogramms

„eine Situation zu schaffen, die es BDS-Anhängern unmöglich macht, bei ihm aufzutreten, ohne die Regeln des BDS zu verraten: Wessel konnte mehrere israelische Unternehmen als Sponsoren gewinnen – auch solche, die mit staatlichen israelischen Einrichtungen kooperieren. Wer in der Christuskirche auftritt, stellt sich nun automatisch gegen den BDS. “Mein Interesse ist es ja nicht, Künstler nicht auftreten zu lassen. Ich will meinem Publikum ein attraktives Programm bieten. Wer jetzt bei uns spielt, weiß, dass wir israelische Unternehmen als Sponsoren haben. Spielt er, stellt er sich gegen die antisemitischen Regeln des BDS. Sagt er ab, enttäuscht er seine Fans, und wie die das finden, wird sich zeigen.”[8]

Dies wäre eine Art Schibboleth für die Kulturstaatsministerin Claudia Roth und auch für den Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle: Wenn das Eintreten für die Existenz von Israel zur deutschen Staatsräson gehört, dann sollten sie diesen Weg einschlagen. Er lässt der Documenta-Leitung alle Freiheiten, aber er verhindert, dass Anhänger der aggressiven Form der BDS-Ideologie an der Documenta teilnehmen können, ohne in einen performativen Selbstwiderspruch zu geraten. Die Documenta würde so aufklärerisch, weil sie zeigt, dass sie sich der doppelten Politisierung der Kunst entgegenstellt.

Anmerkungen

[4]    Das führt dann zur paradoxen Situation, dass umstandslos Juden und Jüdinnen zu Antisemiten erklärt werden können, wie etwa die kritische Theoretikerin Judith Butler.

[6]    Insofern reicht es nicht, wie Ulrich Gutmair in der taz davon zu schreiben, das alles werde „vorgetragen von einer Gruppe aus Kassel, die sich, warum auch immer, dem Kampf gegen den Antisemitismus verschrieben hat.“ Das „warum auch immer“ teile ich nicht, wenn es um den bewussten Versuch geht, eine Moralisierung der Documenta herbeizuführen und zur Politisierung der Ästhetik beizutragen.

[7]    Vgl. Adorno, Theodor W. 1970. Vorschlag zur Ungüte. In: Adorno, T. W.: Ohne Leitbild: Parva aesthetica. Frankfurt a.M. (Edition Suhrkamp, 201), 52–59. „Die Deklamationen über die gemanagte moderne Kunst entsprechen genau dem, was die Psychologie als Projektion kennt: dem Verhaßten eben das zuzuschreiben, was man selber ist oder möchte.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/135/am745.htm
© Andreas Mertin, 2022