![]() Krieg und Totentanz
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Der Apfel, die Schlange, der Sündenfall und die StühleApplikative Notizen zu Adeles „Oh my god“Andreas Mertin Am 12. Januar 2022 veröffentlicht die britische Sängerin Adele (Adele Laurie Blue Adkins, *1988) ein Musikvideo zu ihrem Stück Oh my god. Die Regie des Videos führte Sam Brown. Er war auch schon der Regisseur des Videos zu ihrem berühmtesten Hit Rolling in the Deep, das bis heute auf Youtube fast 2 Milliarden Aufrufe hatte. Aber er hat auch schon für Jay Z, Foo Fighters, The Verve und James Blunt gearbeitet. Ausgebildet wurde die Künstlerin an der legendären BRIT School for Performing Arts, zu deren Absolventen u.a. Amy Winehouse, Jessi J und Kate Nash gehören. Bisher hat sie vier Studioalben herausgebracht, deren Titel jeweils ihr Lebensalter angeben, also 2008 „19“, 2011 „21“, 2015 „25“ und sechs Jahre später im Herbst 2021 das Album „30“. Die letzten drei Alben landeten jeweils für Wochen auf Platz 1 der Charts in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritanniens und den USA. Das Lied Oh my god dreht sich um ihr Begreifen ihrer neuen Freiheit als Frau nach ihrer Scheidung.
Im Kontext einer kulturindustriellen Vermarktung gehört derartige Erzählungen wohl dazu, wie überhaupt bei der Vorstellung der Künstlerin auffällt, wie stark der kommerzielle Erfolg und wie wenig die künstlerische Innovation in den Vordergrund gestellt werden. Das wäre gar nicht nötig. Das Musikvideo zu Oh my god ist in Schwarz-Weiß gedreht und kommt mit einer einfachen Bühne mit zahlreichen unterschiedlichen Holzstühlen, einigen symbolischen Ausstattungstücken und einer Gruppe von Backup-Tänzern aus. Persönlich überzeugt mich das Video nicht besonders, es ist erkennbar bloß assoziativ, enthält zu wenige kühne, dafür sehr viele etablierte Metaphern und spielt die eingesetzten Versatzstücke zu routiniert ab. Einzelne der Versatzstücke und ihrer Inszenierungen greife ich im Folgenden auf. Der ApfelDas erste Versatzstück, das sich als beziehungsreiches Symbol durch das ganze Video zu Oh my god zieht, ist ein Apfel. Er wird in der Art eines Stilllebens auf einem Stuhl präsentiert, hat aber anders als bei der Mehrzahl derartiger Stillleben in der Kunstgeschichte keinerlei Hinweise auf das Vanitas- bzw. Vergänglichkeitsthema.[1] Man könnte eher schon an manche Inszenierungen von René Magritte denken.[2] Vor allem die ungewöhnliche Kombination des Apfels mit dem Stuhl deutet in diese Richtung.
Man wird also nicht in der Annahme fehlgehen, dass das Video sich weniger an der Stillleben-Malerei seit dem Barock orientiert, als vielmehr an der christlichen Ikonographie und hier an der biblische Ursprungsszene der Verführung des ersten Menschenpaares. Freilich hätte auch die biblische Paradiesfrucht die ja kein Apfel war, sondern erst in der späteren Auslegung wegen der Lautähnlichkeit von malum = das Böse und malus = der Apfel dazu gemacht wurde ganz sicher anders ausgesehen.
Der Apfel zur Betonung seiner Natürlichkeit noch mit einem grünen Blatt versehen liegt auf einem einfachen Beistellstuhl drapiert auf ein Tuch. Ein wirklich vergleichbares Vorbild ist mir nicht erinnerlich nicht aus der Kunstgeschichte und nicht aus der Werbung. Allerdings bin ich auf ein Motiv gestoßen, das dem nahekommt. Die Möbelfirma IKEA, auf die wir später noch einmal stoßen, inszeniert auf ihrem Online-Auftritt die zu kaufenden Objekte immer auch in allen möglichen Nutzungskontexten, damit sich potentielle Käufer:innen einen Eindruck verschaffen können. Bei Stühlen also in der Küche, im Esszimmer, Wohnzimmer oder auch im Bad. Interessanterweise enthält die aktuelle Präsentation zum Ikea-Stuhl „Stefan“ auch ein Bild dieses Stuhls mit einem roten Apfel, der in dieser Kombination als Kunstobjekt an die Wand gehängt werden soll.[6] Die Schlange
Ist ein Apfel auf einem Stuhl noch ein deutungsoffenes Symbol, so verdichtet sich die Auslegungsperspektive, wenn nun zum Apfel auch noch eine Schlange hinzukommt. Wir werden also auf die biblische Urgeschichte verwiesen.
So übersetzt die Bibel in gerechter Sprache den ersten Vers des dritten Kapitels der Genesis und begründet das so:
Die Schlange wird also im biblischen Text nicht ausschließlich negativ dargestellt, sondern auch (zumindest implizit) ausgezeichnet:
Die Schlange muss also im Sinne der biblischen Überlieferung verstanden werden. Aber was heißt das? Der Videoclip gibt uns hier keine Auslegung vor, er lässt uns die Deutungsfreiheit. Trivial wäre die Deutung im Sinne des Satans, die sich oft in der späteren christlichen Auslegungsgeschichte findet. Ich glaube nicht, dass das hier vorliegt. In der Logik des Liedes Oh my god von Adele muss ihr daran liegen, im Verführungsakt der Schlange auch einen die Emanzipation ermöglichenden Schritt zu sehen. Nicht umsonst bildet die Schlange den Moment der Peripetie (wenn das Stück ein Fünf-Akter ist). Die schützende Umarmung kann eben auch als einengende Umklammerung erfahren werden, als Verhinderung der Möglichkeit zu freier Entfaltung, als Behinderung der Emanzipation. Im Gegenzug könnte dann die Überwindung dieses Zustandes als Befreiungsakt angesehen werden, als Versuch, die eigene Geschichte unter selbstgewählten Umständen zu machen. Das lateinische Verb emancipare bedeutet 'aus dem Mancipium geben'. Das Mancipium galt bei den Römern als feierlicher Eigentumserwerb durch 'Handauflegen'. Man kann Emanzipation also auch übersetzen: (sich) aus der Hand befreien. Dieser Interpretation ist vor allem die Philosophie der Aufklärung und des Idealismus' gefolgt. Was in der theologischen Tradition als Sündenfall erscheint, ist in der philosophischen der Moment der wahren Menschwerdung: Der Griff zur Frucht gilt als Beginn der Emanzipation der Menschheit aus seiner Unmündigkeit. Ermöglicht wurde er durch den Dialog mit der Schlange. Das könnte man dem Videoclip durchaus entnehmen. Der Sündenfall
Die Frucht am Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen war, so wird uns also berichtet,
Hinter diesen drei Beschreibungen verbirgt sich ein Programm utopischer Lebensgestaltung: gut zu essen - das meint die Kulinarik, lieblich anzuschauen - das bezeichnet die Ästhetik und begehrenswert, um klug zu machen - das steht für die Intellektualität. Vorgestellt wird so ein Idealbild des Menschen, der seine Sinne für Essen, Schauen und Denken beisammenhat. Das ist nicht die übliche Trennung in niedere (sinnliche) und höhere (geistige) Qualitäten, sondern der Entwurf des ganzheitlichen Menschen.
Heutzutage wird das von Fotografen ebenso routiniert wie stereotyp abgehandelt und die Rolle der Frau wieder passiviert: ... und die StühleDie Clip-Analyse betreibenden Fans von Adele haben darauf hingewiesen, dass insbesondere den (diversen) Stühlen im Musikvideo eine besondere Rolle zukomme. Das ist nun tatsächlich nicht zu übersehen. Die Fans haben sich besonders darauf fokussiert, dass kurz vor Ende des Musikvideos (03:07 - 03:22) einer der Stühle in Flammen aufgeht. Bei Bertolt Brecht gibt es in den Geschichten des Herrn Keuner unter dem Titel „Kennzeichen guten Lebens“ eine passende Geschichte dazu:
Das verweist zunächst darauf, dass Stühle auch immer einen Distinktions-Charakter haben. Sie grenzen ab und markieren Lebensstile. Nicht jeder Stuhl passt zu jedem.
Tatsächlich stammen viele der im Videoclip zu Oh my god gezeigten Stühle aus der Werkstatt von Thonet oder sind von deren Design inspiriert und wurden für preiswertere Ausgaben geklont. Thonet hatte nach einer öffentlichen Kampagne schon im 19. Jahrhundert auf die Urheberrechte an der Technologie der Bugholzmöbel verzichtet. Interessant ist noch der Windsorstuhl, der nach 2 Minuten ins Bild kommt. Letzterer hat mir noch einmal deutlich gemacht, wie sehr die gezeigten Stühle jeweils originäre Entwürfe sind. Es ist gar nicht so einfach, jeweils das ursprüngliche Modell herauszufinden. Wie bei Menschen gibt es viele einander ähnliche Erscheinungsformen, aber beinahe jedes ist letztlich unverwechselbar.
Die gezeigten Stühle sind keine puren Machtsymbole so wie wir es aus der christlichen Tradition etwa bei der Maximianskathedra aus Ravenna kennen. Diese Cathedra kommt nur einem zu. Im Video geht es mehr um die individuelle Wahl und weniger um die Distinktion (die im Clip eher über die Kleidung bzw. die Mode vollzogen wird).[13] Die Stühle stellen sozusagen die Frage: welcher passt zu mir, wo will ich mich niederlassen? Soll ich mir einen auswählen oder kann ich mich im meinem weiteren leben auf eine „Reise nach Jerusalem“ begeben? Addenda: an der LeineEin mich etwas irritierender Abschnitt findet sich im zweiten Teil des Musikvideos (ab 2:35). Als Bridge singen vor allem der Chor, aber auch Adele: "Lord, don't let me," I said, "Lord, don't let me" / I said, "Lord, don't let me, let me down" (Oh, Lord) / "Lord, don't let me," I said, "Lord, don't let me" / I said, "Lord, don't let me, let me down" (Don't let me let myself down) / "Lord, don't let me," I said, "Lord, don't let me" / I said, "Lord, don't let me, let me down" (Oh, my God) / "Lord, don't let me," I said, "Lord, don't let me" / I said, "Lord, don't let me, let me down" (Oh, oh-oh-oh, oh-oh-oh). Und dann taucht im Vordergrund eine Blütenblätter abzählende Frau auf (er liebt mich, er liebt mich nicht), während im Hintergrund eine Frau auf einem Pferd sitzt, dessen Zügel an einem Seil hängen, das von Adele geführt wird. Während nahezu alle anderen visuellen Metaphern im Clip wiederholt werden, ist das bei dem Pferd und seiner Reiterin nicht der Fall. Als visuelle Metapher passt das auch nicht zu den anderen bisher im Video verwendeten Bildern, es badet im visuellen Kitsch. „Lass mich nicht (schon wieder / noch einmal) abstürzen“ - so würde ich die Szene frei interpretieren. Kurz darauf singt Adele, dass sie sich auf eine neue Beziehung einlassen will, aber nicht weiß, ob es funktioniert. Und ob der Auserwählte der Richtige ist: “What is the likelihood of jumping / Out of my life and into your arms?” Wäre das Musikvideo ein fünfaktiges Theaterstück (was die Inszenierung nahelegt) und stünde die Pferde-Szene in der Peripetie des Videos, wäre das nachvollziehbar, so aber wirkt es unlogisch (in der Mitte des Videos finden wir ja die Szene mit der Schlange). Wäre das Video vom Regisseur freilich als Dreiakter entworfen worden, könnte die Peripetie auch am Beginn des dritten Aktes stehen. Vermutlich ist der Einsatz des Pferdes aber willkürlich und vielleicht auch durch biographische Details begründet. Wie ja manche Szenen im Video jenseits der symbolischen Codierungen an biographischen Motiven orientiert sind. Die Fans machen darüber hinaus noch auf zahlreiche Verdoppelungen, ja sogar Verdreifachungen der Künstlerin im Clip aufmerksam. Epilog: Hadern zwischen Himmel und Hölle
Was waren das noch für Zeiten, als die Grenze zwischen Himmel und Hölle (Paradiso und Inferno) noch eine wirklich existentielle war, die von Dante in Begleitung von Vergil erwandert werden musste, und sich nicht in der Beantwortung der Frage erschöpfte, ob man nun nach der Scheidung wieder flirten soll oder nicht. Man muss schon sehr im Luxus schwelgen, um solche Banalitäten zu existentiellen Konflikten aufbauschen zu können. Nicht einmal der Kleidung von Louis Vuitton und Vivienne Westwood ist man verlustig gegangen, ganz im Gegenteil: um die existentiellen Konflikte, denen man sich angeblich post-matrimonial zwischen Himmel und Hölle ausgesetzt sieht, angemessen ausdrücken zu können, zieht man sich den letzten Schrei an. Das hätten sich die Bewohner des Purgatoriums aus Dantes Göttlicher Komödie auch gewünscht. Aber die hatten nicht so viel Glück. Es sind die, die nur Beobachter des allgemeinen menschlichen Leids sind, die ziemlich unbetroffen mit „geborgtem Leid“ spielen. Herzschmerz neigt immer dazu, sich im Ton zu vergreifen. Aber man muss es nicht übertreiben. Zur guten Liebeslyrik gehört es auch, die passenden Metaphern zu wählen. Das ist im vorliegenden Fall nicht gelungen. Weder ist die Bühne ein moderner Garten Eden mit simuliertem Sexualakt, noch unterliegt der missverständlich benannte biblische Sündenfall einem Iterativismus: so als ab man in jeder Sekunde seines Lebens erneut in den Apfel beißen könnte oder müsste. Die biblische Erzählung erklärt mythologisch die Situation auf der Welt, sie beschreibt nicht deren historische Genese. Der Sündenfall hat mit Liebeskummer überhaupt nichts zu tun.
Damit bricht die visuell-narrative Konstruktion des Videoclips in sich zusammen. Die vorherige Ehe der Adele war „natürlich“ immer schon post-lapsarisch und ihr eigener abschließender Biss in den Apfel bringt ihr keine weiteren Freiheiten. Über die Freiheiten, die Eva für die Menschheit brachte, verfügte Adele seit Beginn ihrer irdischen Existenz, sie muss selbst zwischen Gutem und Bösen, zwischen Wahrem und Falschem wählen.
Anmerkungen[1] Vgl. Schneider, Norbert (2009): Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge; die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Köln: Taschen. [2] Wobei Magritte aber keine roten Hochglanzäpfel verwendet, sondern eher grüne Äpfel. [4] Vgl. Mertin, Andreas; Futterlieb, Hartmut (2001): Werbung als Thema des Religionsunterrichts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. [5] Ernst Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt 1980, S. 232. Vgl. dazu auch: Andreas Mertin: "Asche im Herzen - feuchtes Gehirn? Eine kleine Apologie der biblischen Eva"; In: Die andere Eva. Wandlungen eines biblischen Frauenbildes. Hg. von Schwebel/Schmidt. Menden 1985. Online unter https://www.amertin.de/aufsatz/1985/eva.htm [6] Vgl. https://www.ikea.com/de/de/images/products/stefan-stuhl-braunschwarz__0209638_pe222050_s5.jpg [7] Bail, Ulrike; Crüsemann, Frank; Crüsemann, Marlene, et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache: Gütersloher Verlagshaus. [8] Henrike Frey-Anthes, Art. Schlange im Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet, [9] Bibel in gerechter Sprache. [10] Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 2/1984 (insbes.: Die Mythe vom Sündenfall (Gen 3), literarisch interpretiert, S. 437-451), hier S. 440 [11] Brecht, Bertolt (2013): Geschichten vom Herrn Keuner. 28. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch, 16). [12] Auf den Möbel-Design-Zusammenstellungen, die sich etwa auf Pinterest finden, wird dieser Stuhl oft der Firma Thonet zugeordnet. Er ist aber eindeutig ein Entwurf von Lundgren. [13] Die Fans machen den Distinktions-Charakter eher an der Kleidung fest, die Adele trägt. „Adele, who is dressed by an array of designers including Louis Vuitton and Vivienne Westwood for the video, wore a pellegrin clerical cape above a ballgown to sing in front of a lit up halo for one look.“ [15] Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Teile und Plan zum Schlussband, 1784-91. Erster Teil. Viertes Buch, 1791 |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/136/am748.htm |