Kämpfende Formen

Ästhetische Grenzüberschreitungen

Andreas Mertin

„Wenn das Licht von tausend Sonnen 
am Himmel plötzlich bräch' hervor
das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen,
und ich bin der Tod geworden,
Zertrümmerer der Welten.“

Robert Oppenheimer[1]

"Where everything is bad,
it must be good to know the worst"



Francis Herbert Bradley
[2]

***


Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914, Öl auf Leinwand, 91 x 131,5 cm, München


Die Souveränität des Ästhetischen …

Wir sind es gewohnt, die Kunst zunächst einmal nicht als souverän zu betrachten, vielmehr weisen wir ihr in der Regel bestimmte Funktionen zu.[3] Die Kunst soll uns erbauen, unterhalten, aufrütteln, nachdenklich machen, ethische Impulse setzen. Im optimalen Fall soll die Kunst für eine bessere Welt sorgen, soll nicht nur Schein, sondern auch Vorschein (E. Bloch) sein.

Spätestens dann aber, wenn der ästhetische Diskurs gegen das scheinbar ethisch Selbstverständliche vorgeht, sind wir zutiefst verstört. Das galt schon von der schwarzen Romantik, den Blumen des Bösen, dem Marquise de Sade oder neuerdings der angeblich verzerrten Darstellung von Marginalisierten auf Gemälden. Hier sind wir geneigt, bestimmte ethische Standards, bestimmte moralische Selbstverständlichkeiten auch von der Kunst einzufordern. Der Aufruhr des Schönen gegen die bürgerliche Güte (Theodor W. Adorno)[4] soll spätestens dann enden, wenn das bürgerlich Gute durch die Souveränität der Kunst[5] infrage gestellt wird.

Einen derartigen Grenzfall im Gebiet des Ethisch-Ästhetischen beschreibt Jean-Fran­çois Lyotard in „Der Widerstreit“: "Der Offizier schreit Avanti! und stürzt aus dem Schützengraben, die Soldaten schreien ergriffen Bravo!, ohne sich zu rühren.“[6] Wenn man diese Sätze Menschen erzählt, die bereits einmal Teilnehmer oder Opfer eines Krieges waren, sind sie oft zutiefst empört. Die ästhetische De-Kontextualisierung lebensweltlicher Äußerungen in dem Moment, in dem es ums Leben und Überleben geht, verstört sie zutiefst. Und darin haben die Betroffenen lebensweltlich ja Recht. Das elende Sterben von Menschen im Krieg unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten, muss einem einfach gegen den Strich gehen.

Und doch hat des Christentum nach einer etwa 390 Jahre dauernden Phase, in der es sich dagegen wehrte, den elenden Tod Christi am Kreuz zu ästhetisieren, genau dies getan – und macht es auch heute noch. Jede künstlerische Darstellung des Todes Christi am Kreuz kann nicht nur unter heilsgeschichtlichen oder historischen Gesichtspunkten betrachtet werden, sondern eben auch unter ästhetischen und künstlerischen. Dagegen hat­te das Judentum ebenso wie das frühe Christentum ursprünglich auf das Bilderverbot gesetzt: Das „Bilderverbot hat neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Dass man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich.“[7]

Das führt uns etwas von dem vor Augen, was Paul de Man in seinem Buch „Blindness and Insight“[8] herausgearbeitet hatte:

Im Zentrum seines Interesses standen die immanenten Widersprüche literarischer Texte, die darauf beruhen, dass sie zugleich rhetorischer und logischer Natur sind. Ein Text sagt etwas aus, will Wissen vermitteln, Aufklärung leisten etc. – das ist sein logischer Aspekt. Um dies zu erreichen, muss er sich aber Mittel bedienen, denen eine gewisse Überzeugungskraft innewohnt, also vor allem rhetorischer Figuren. Es ist de Mans vielfach wiederholte These, dass dieser Doppelcharakter zwangsläufig auf eine Selbstzerstörung des Textes hinausläuft, weil sein rhetorischer Gehalt den logischen hintertreibt … Da die Sprache logische Gegenstände immer nur aus rhetorischen Funktionen zusammensetzen kann, verdeckt sie immer auch den Gegenstand, den sie zeigen möchte.[9]

Das ist das Faszinierende und zugleich das Problem der Souveränität des Ästhetischen. Denn auch dort, wo größte ethische Sensibilität angebracht wäre, bleibt die ästhetische Gestaltbildung nicht folgenlos. Wer Ethisches gestalten, Un-ethisches anprangern will, muss sich dennoch geradezu zwangsläufig ästhetischer Strategien bedienen, die den gewünschten Inhalten zuwiderlaufen – wenn man denn Paul de Man folgt. Nur das Kunstwerk selbst, das ja die ästhetische Gestaltung in sich reflektiert, kann dem entkommen, solange es als ästhetisches gelesen wird.

Ein Schibboleth für die ethische bzw. moralische Grenzziehung ist Filippo Tommaso Marinettis „futuristisches Manifest“, das dieser 1909 in der französischen Zeitung Le Figaro publizierte:

1.    „Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.

2.    Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesens­elemente unserer Dichtung sein.

3.    Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweg­lich­keit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.

4.    Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

5.    Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.

6.    Der Dichter muss sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.

7.    Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muss aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen.

8.    Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.

9.    Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

10. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.

11. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, welche die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolution in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge …[10]

Derartige künstlerische Äußerungen wollen ausgehalten sein. Geradezu das Gegenteil zu diesen Äußerungen für die Geschwindigkeit, die Gewalt und den Krieg bildet die Entwicklung des Künstlers Franz Marc, der sich nach 1910 zunächst auf Tierdarstellungen zurückzog, die für ihn zur Metapher für kreatürliche Reinheit und Unschuld wurden, was er theoretisch unter „Animalisierung der Kunst“[11] fasste. Später wandte er sich dann immer stärker abstrakten Formen zu:

„Ich empfand schon sehr früh den Menschen als ‚hässlich‘; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel Gefühlswidriges und Hässliches, sodass meine Darstellungen […] instinktiv immer schematischer, abstrakter wurden.“

Die Kämpfenden Formen, die wir heute in der Pinakothek der Moderne in München finden, gehören in diese abstrakte Phase. Man wird aber nicht sagen können, dass diese Kämpfenden Formen nicht weniger dynamisch und gewaltig erfahren würden als die Darstellungen des Futurismus.

… und die Wertlosigkeit der russischen Ikonen

Der brutale Angriffskrieg Russlands[12] gegen die Ukraine hat auch Folgen für das Christentum, die Ökumene, vor allem aber für die Orthodoxie. „Die“ Orthodoxie gibt es nicht mehr. Selbst harmlose Gespräche zwischen dem russisch-orthodoxen Patriarchen und dem römisch-katholischen Papst werden zu Waffen im Informationskrieg. Und man kann mit guten Gründen bezweifeln, ob die russisch-orthodoxe Kirche noch zur Gemeinschaft der christlichen Kirchen zu zählen ist, oder ob hier nicht längst der status confessionis erreicht ist. Als der russisch-orthodoxe Patriarch einem russischen Militär eine Ikone überreichte, um einen vor allem von Christen bewohnten anderen Staat erfolgreich vernichten zu können, war m.E. dieser Punkt erreicht.

Der Moskauer Patriarch hatte am Sonntag in der Christ-Erlöser-Kathedrale dem Chef der in der Ukraine kämpfenden Nationalgarde, Wiktor Solotow, eine Ikone der Mutter Gottes mit den Worten überreicht: "Möge dieses Bild junge Soldaten inspirieren, die den Eid ablegen und den Weg der Verteidigung des Vaterlandes einschlagen." Sie ist für die Moskauer Kirche der Nationalgarde bestimmt. Solotow antwortete Kyrill, bei der Spezialoperation in der Ukraine gehe nicht "alles so schnell, wie wir es gerne hätten". Doch die Ikone werde die "russischen Streitkräfte schützen und unseren Sieg beschleunigen". [katholisch.de]

Für den russischen-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. geht es eben nicht um ethische Werte, sondern um nationalreligiöse Wahrheiten. Und zwar um solche, die er nicht den Heiligen Schriften entnimmt, sondern einem durch und durch nationalistischen Gedankengut. So wie es 1933 bis 1945 in Deutschland „Deutsche Christen“ gab, so ist Kyrill ein „Russischer Christ“, ein Reichsbischof von Putins Gnaden.

Auf der anderen Seite, auch das muss man sehen, tritt Kyrill I. als einer der vielleicht letzten religiösen Führer dieser Welt für eine radikal „wertlose Wahrheit“ ein. Die von ihm vertretene Wahrheit kennt in seiner Perspektive keine Werte, die man gegeneinander abzuwägen hätte, sie kennt keinen „simplen Pluralismus“ und schon gar keinen „interiorisierten Pluralismus“ – um diese Begriffe von Günther Anders aufzugreifen.[13] Der simple Pluralismus, auf den sich im Gefolge von Johannes Paul II. die religiösen Führer dieser Welt geeinigt hatten, besagt, dass man trotz der Existenz verschiedener konkurrierender Religionen und Kirchen, die sich vielleicht sogar widersprechen, einander nicht bekämpft, sondern nebeneinander besteht. Letztlich bedeutet es, etwas als falsch Unterstelltes zu dulden. Der „interiorisierte Pluralismus“ wäre einer, in dem man die fremden Götter oder alternativen Gottesaneignungen nicht nur toleriert, sondern positiv als Möglichkeit des Glaubens anerkennt. Davon ist Kyrill I. weit entfernt.

Er ist ein Vertreter der vera icon. Die Ikone verweist auf eine Wahrheit, die sich nicht nur durchsetzen wird, sondern auch durchzusetzen ist. Der Patriarch, der auch schon manch­mal damit auffällt, dass er eine durchaus auch ikonisch zu nennende Rolex trägt und diese retuschieren lässt, wenn er dabei erwischt wird, verkündet als „Wahrheit“ des Angriffskrieges gegen die Ukraine, es gehe darum, die russisch-stämmige Bevölkerung vor Gay-Pride-Paraden zu schützen. Das hat prekäre historische Vorbilder. Der französische Philosoph, Humanist und Essayist Michel de Montaigne berichtet in seiner italienischen Reise (Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581), wie damals die „objektive Wahrheit“ in Rom gegenüber Homosexuellen angewandt wurde:

„Römische Kirchenrechtler sagten mir, da die andere Vereinigung, jene von Mann und Frau, nur durch die Ehe legitimiert werde, seien diese Schlaumeier auf die Idee verfallen, ihre hiervon abweichende Art würde, wenn durch die Rituale und heiligen Handlungen der Kirche sanktioniert, gleichermaßen legitim. Acht, neun Portugiesen dieser kuriosen Sekte hat man jedoch verbrannt.“[14]

Soweit zur religiösen „Wahrheit“. Und mancher Patriarch würde vielleicht so etwas gerne auch heute noch zur Anwendung bringen und hält dafür alle Mittel für gerechtfertigt. Die angebliche Wahrheit, die hier wortwörtlich in Anschlag gebracht wird, ist gnadenlos, sie kennt keine Ambivalenzen und keine Ambiguitäten, auch das ganze Wesen der Ästhetik, wie es sich seit Giotto in der Kunst entwickelt hat, ist ihr als westliches Konzept wesensfremd. Dabei ist das keine Ignoranz im engeren Sinne, vielmehr wird sehr gut verstanden, was in der neuzeitlichen Kunstgeschichte passiert, aber man lehnt es aus tiefstem Herzen ab:

„Letztlich sind die Kirchenfresken von Masaccio und Lippi Verleugnungen des Begriffes der Transzendenz, bildgewordene Häresien. Häresien, die sich kein noch so kühner Philosoph der Epoche, auch keiner der folgenden Jahrhunderte, hätte herausnehmen dürfen. Das gilt ganz besonders von dem berühmten Fresko in der Santa Maria della Novella. Denn da Masaccio hier den Schöpfergott in einem gebauten Rundbogen unterbringt, weist er ihm ja einen Platz innerhalb der von ihm geschaffenen Welt zu, macht er ihn also gewissermaßen zu einem Ding unter Dingen, nein, schlimmer als das: zu einem Dinge, das nun innerhalb eines von Menschenhand hergestellten Objektes (eben des Rundbogens) seinen Platz einnimmt. Wenn solche Darstellung kein haarsträubendes Sakrileg ist, dann weiß ich nicht, was ein Sakrileg ist.“[15]

Zur europäischen Moderne westlicher Prägung gehört aber seit beinahe 500 Jahren der „Zwang zur Häresie“[16], die Pflege der Differenz und der Vielfalt, das Offenhalten der Ambivalenzen.

Beobachtungen in einem Krieg, der sehr wohl stattfand

Nicht zuletzt deshalb möchte ich auf Ästhetik und Kunst setzen, auf Ambivalenzen und Ambiguitäten, auf assoziative Verknüpfungen und visuelle Evidenzen. Explizit nicht folgen will ich einem Theoriesatz, der mit dem Namen Jean Baudrillard verknüpft ist, welcher davon ausgeht, dass man angesichts der Medialität heutiger Kriege davon sprechen könne, dass diese gar nicht mehr stattfänden.[17]

Man muss immer die Gleichgültigkeit der Menschen in Rechnung stellen. Die Überzahl von Bildern vernichtet alle Imagination. Man kann sich nicht einfühlen, nicht interpretieren. Man hat keine Zeit dazu. Im Reich der Bilder gibt es zudem keine Kriterien für das Wahre und das Falsche. Man erlebt alles wie ein Drehbuch. Wir sind in einer großen Produktion.[18]

In der Sache hat Baudrillard natürlich Recht. Man kann auf Youtube am Kanal der britischen SUN sehen, was Baudrillard bei seiner Formulierung vorschwebte. Dort werden auch beim Krieg gegen die Ukraine die militärischen Propagandafilme beider Seiten kommentarlos wie Ausschnitte aus einem Computerspiel präsentiert, um dann am Ende zu schreiben: Don’t forget to like and subscribe. Und das alles unter der Überschrift AMAZING IMAGES! Und es war Wladimir Putin, der praktisch den Krieg in der Ukraine so führen wollte, wie Jean Baudrillard es theoretisch beschrieben hatte: Einen Krieg nach Drehbuch, ausgestattet mit Bildern, die das Geschehen nicht wiedergeben, sondern dem russischen Drehbuch folgen. Er wollte einen „Blitzkrieg“ gegen eine schnell flüchtende ukrainische Führung, die rasche Einnahme der Hauptstadt und natürlich das Schweigen des Westens. Putin lebt in und mit Fantasie-Bildern. Das tun eigentlich alle Diktatoren dieser Welt. Sie haben Baudrillards Simulationstheorie aufgesogen. Nur dass inzwischen auch diese Entwicklung überholt ist. Beim Golfkrieg, an dem Baudrillard seine Theorie exemplifizierte, gab es nur kontrollierte Bilder. Das war auch beim Balkankrieg noch weitgehend so. Nun aber gibt es Technologien, die ebenfalls Bilder produzieren, aber von allen bereitgestellt werden und distribuiert werden können – sofern sie nur Zugang zum Internet haben. Und zumindest am Anfang hat die angegriffene ukrainische Seite ein Interesse daran, die Realität des Krieges auch per Webcam zu dokumentieren. Darum soll es im Folgenden aber nicht gehen (s. dazu meinen separaten Artikel „Was lehrt uns das leere Kiew?“).


Vielmehr will ich einige an bestimmten ästhetischen Konstellationen orientierte Wahrnehmungen festhalten, die mir u.a. beim Verfolgen der (gar nicht wirklich wahrnehmbaren) Flugbewegungen rund um den Angriffskrieg auf die Ukraine gekommen sind. Wie zeigt sich der Krieg auf einer Website, die nichts anderes macht, als Flugbewegungen festzuhalten? Wie schreibt sich die militärische Gewalt in den zivilen Lufthimmel ein? Dazu im Folgenden einige Notizen.

Leerräume / horror Vacui / blindness and insight

Das ist ein Bild der Internetseite flightradar24.com, das den europäischen Flugverkehr zeigt, nachdem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. Ein ähnlicher Screenshot schaffte es bis in die Tagesthemen, scheint er doch auf drastische und überzeugende Weise die Folgen des Krieges vor Augen zu führen. Der internationale Flugverkehr musste um den Luftraum der Ukraine und von Belarus herumgeführt werden. Das führte zu Verdichtungen im Bereich der Türkei und einigen anderen Staaten wie dem Irak. Und so überzeugend dieser Screenshot auf den ersten Blick ist, so gibt er natürlich nicht einmal annähernd Wirklichkeit wieder. De facto ist der Luftraum über der Ukraine in dieser Zeit prall gefüllt mit Flugzeugen, Drohnen und Hubschraubern. Wir sehen sie auf den Karten nur nicht, weil es sich um militärische Flugmaschinen handelt, deren CALL-ID ausgeschaltet wurde.

Während wir auf eine gähnende Leere schauen, tobt de facto ein erbitterter Luftkampf über der Ukraine. Mitnichten hatte Russland, wie es in den ersten Erfolgsmeldungen verkündet hatte, die ukrainische Luftwaffe ausgeschaltet. Das war nicht einmal im Ansatz wahr. Eine Woche nach den Erfolgsmeldungen „sicherte“ die Ukraine einige ihrer Militärmaschinen (vor allem Hubschrauber), indem sie sie im Verbund nach Rumänien absetzte. Sie tauchten erst in dem Moment auf dem Bildschirm auf, als sie die Grenze überschritten hatten. Was wir auf einem Bild sehen, ist nicht das, was geschieht.

Kämpfende Formen

Auf flightradar24.com sind die unterschiedlichen Flughöhen an der Farbe erkennbar, in denen ihre Flugrouten gezeichnet werden. Ist die normale Flughöhe etwa 30.000 Fuß (9 km), so wird sie mit einem kräftigen Blau dargestellt, ist sie dagegen 51.000 Fuß (15,5 km) hoch, dann erscheint sie in einem deutlichen Rot. Sinkt sie dagegen ab, um zur Landung anzusetzen, nähert sie sich zunächst dem Grün und dann dem Gelb. Das würde sich, wenn man alle Flugrouten anzeigen könnte, zu einem bunten Bild zusammenfügen. In der Regel aber wählt man sich einige Flüge aus, die sich dann in unterschiedlichen Farben in die Landkarte einzeichnen. Auf dem obigen Bild sehen wir also mit der roten Linie die Route einer Drohne wie die Northrop Grumman RQ-4B abgebildet, die die Nato-Grenze vom Schwarzen Meer hoch fast bis Kaliningrad abfliegt.

Zwischenzeitlich kreiste dieselbe Drohne mit der CALL-ID FORTE11 vor der Krim und überwacht den Luftraum der südlichen Ukraine (s. Bild rechts). Dabei erzeugt die unbemannte Drohne auf dem Bildschirm bzw. auf flightradar24 nach und nach ein dichtes rotes Band vor dem blauen Hintergrund des Meeres. In den Tagen danach erweitern sich die roten Linien wieder bis hoch nach Belarus. Schaut man genauer hin, könnte man an die Kunstwerke aus der blauen Serie von Joan Miró vom Ende der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts denken. Natürlich sind Verknüpfungen von Flugbewegungen mit Kunstwerken rein assoziativ und willkürlich.

Wenn eine Militärmaschine startet und auf flightradar24 ihre Kreise zieht, entstehen nicht immer nur gerade Linien, sondern insbesondere bei militärischen Flügen auch Strichmännchen oder figurative Gesten, die sich dem Bilderfundus der Kunstgeschichte zuordnen lassen. Graffitis der Luftbewegungen sozusagen, die nur rein zufällig mit Kunstwerken koinzidieren, wie solchen von A.R. Penck, von denen einige sich ja auch mit dem Ost-West-Konflikt beschäftigen.

Ein anderes Beispiel: Am 13. März 2022 taucht vor der rumänischen Küste für kurze Zeit ein Flugobjekt mit der CALL-ID RBP01 auf, das sich nur 100 Meter über dem Wasser befindet. Es ist ein Camcopter S-100. Das ist deshalb ein für diesen Text interessantes Modell, weil es nicht nur zum Küstenschutz (und für militärische Zwecke) und nach 2014 von der OSZE auch in der Ukraine-Krise verwendet wur­de, sondern weil es auch mehrfach als „Kunstwerk“ ausgezeichnet wurde.

So erhielt der Designer 2005 den „Adolf Loos Staatspreis Design“. Und schon 2004 wurde der unbemannte Hubschrauber in die Sammlung des Museum of Modern Art (MOMA) in New York aufgenommen. Die tschechische Künstlerin Magdalena Jetelová verwendete den Camcopter S-100 in einer Kunstinstallation im Rahmen der Ausstellung „Vienna for Art’s Sake!“ im Wiener Winterpalais.

Die Logik der Flugbewegungen erschließt sich Außenstehenden natürlich nicht, es sind vielfach in sich verschlungene Linien, nicht wie bei einem eine Schleife fliegenden Tankflugzeug, eher wie eine verirrte Fliege. Vielleicht kontrollierte der Camcopter ganz konkret ein russisches U-Boot oder noch wahrscheinlicher, See-Minen vor der rumänischen Küste.

Unbestreitbar ist aber die assoziative Nähe zu Skulpturen von Norbert Kricke, wie wir sie an zahlreichen Orten in Deutschland finden.

Sein Hauptwerk sind die so genannten Raumplastiken aus metallischen Linien, die den Raum dynamisch durchfahren. Kricke wollte durch die Darstellung von Raum und Bewegung dem Menschen ein Gefühl von Freiheit vermitteln. Ab den ersten abstrakten Plastiken in den frühen 1950er Jahren bis zu seinem Tod ist er der Linie als Gestaltungsmittel treu geblieben. Er gehört zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Nachkriegsmoderne.[19]

Was sich so in den Himmel einzeichnet, ist auch in der Abstraktion der Darstellung durch flightradar24 durch und durch ästhetisch – auch wenn es den Tod von Tausenden von Menschen bedeuten kann. Es findet eine Entkopplung von Gestalt und Bedeutung statt.

Anders ist das bei den Flugbewegungen, die sich an realen Geländevorgaben oder etwa auch an konkreten Staatsgrenzen orientieren. Wenn also die polnische Border Guard mit einem Flugzeug die Grenze zur Ukraine in Höhe der ukrainischen Städte Wolodymyr-Wolynskyj, Olesk und Lju­boml kontrolliert, dann schmiegt sich die auf flightradar24 sichtbare Flugbewegung natürlich ziemlich genau dem Grenzverlauf an.

Und dennoch kann man sagen, dass die so entstehenden Fluglinien aussehen wie manche bewusst gestalteten und nicht einer unkontrollierbaren Gestik entsprungenen Kunst­werke von Bernard Quesniaux oder verwandten Künstler:innen.

Namen bedeuten Schall und Rauch

Wenn man auf flightradar24 über ein paar Tage die CALL-IDs der Flugzeuge der westlichen Militärs verfolgt, dann kommt man ins Nachdenken über die Wahl der Namen. Wenn man eine Spionage-Drohne der US-Streitkräfte wie die Northrop Grumman RQ-4B mit dem Namen Homer59 versieht, mag man das irgendwie noch verstehen. Popkultureller amerikanischer Humor eben. Oder kulturelle Bildung als Anspielung auf die Tatsache, dass man immer noch nicht weiß, ob es Homer überhaupt gegeben hat. Oder ein bisschen Lokalpatriotismus zu einem Stützpunkt in Alaska. In der Regel bekommt die Drohne aber die CALL-ID FORTE12 oder FORTE11.

Gorgon12 dagegen ist die aktuelle CALL-ID einer Boeing B-52H Stratofortress, die zumindest potentiell mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet werden kann und in diesen Tagen, in denen ich das schreibe, also Anfang März 2022, vor allem über Rumänien kreist.

Von den drei Gorgonen ist uns vor allem Medusa gegenwärtig, jene Gorgonin mit den Schlangen auf dem Haupt, die mit Hilfe katroptischer Strategien von Perseus enthauptet wurde und ihm in der Folge dazu diente, seine Feinde auszuschalten, indem er sie mit Hilfe des Hauptes erstarren ließ. In der Loggia dei Lanzi neben dem Palazzo Vecchio in Florenz kann man die wunderbare Darstellung des Vorgangs aus der Hand des mehrfachen Mörders Benvenuto Cellini studieren.

Die Atombombe ist die Medusenfratze des 20. Jahrhunderts. „Wenn das Licht von tausend Sonnen am Himmel plötzlich bräch' hervor das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen, und ich bin der Tod geworden, Zertrümmerer der Welten“ zitiert der Entwickler der Atombombe Robert Oppenheimer beim Anblick ihrer ersten Explosion. Sting nennt das in seinem Lied “Russians”: Oppenheimer's deadly toy. Es ist Putin, der zumindest implizit mit dem Einsatz seiner Atomwaffen gedroht hat. Aber es gehört zur Logik aller Atommächte, ihre Waffen präsent zu halten. Die entsprechenden Waffensysteme dann nach den Gorgonen zu benennen, hat schon beinahe Sinn, wenn auch einen verstörenden.

Dazu passt, dass das Aufklärungsflugzeug der italienischen Air Force (eine Gulfstream G550 AEW), das zeitgleich eingesetzt wurde, die CALL-ID Perseo71 trägt, also nach Perseus benannt ist. Da Perseus der Legende nach, bevor er auf die Gorgonen stieß, von den Nymphen eine Tarnkappe, Flügelschuhe und einen Mantelsack bekommen hat, passt die Bezeichnung für ein Aufklärungsflugzeug ganz gut.

Heute (18.03.2022) taucht im rumänischen Luftraum vor der Ukraine und Moldawien zwei Maschinen mit den CALL-IDs VIPER51 und VIPER52 auf. Es handelt sich um General Dynamics F-16 Fighting Falcon Mehrzweckkampfflugzeuge der US-Air-Force. Die CALL-ID bezieht sich auf den inoffiziellen Namen des Flugzeugs.

Dies rührt daher, dass die Piloten auf der Hill AFB, dem ersten F-16-Stützpunkt, zu großen Teilen der Ansicht waren, dass die F-16 beim Abheben wie eine Kobra aussehe. Dieser Name war aber bereits für die YF-17 vorgesehen, so dass sie auf eine andere Schlange, die Viper, auswichen. Ein weiterer Grund für den Namen Viper sollen die gleich benannten Raumschiffe in der Fernsehserie Kampfstern Galactica gewesen sein. Die Luftwaffenführung entschied sich letztlich jedoch für den Namen Fighting Falcon, da ein Vogel besser passe. Als Spitzname konnte sich der Name Viper jedoch halten.

A propos CALL-ID. Am 11. März taucht über Kiew ein Flugzeug auf dem Radar auf, angeblich die berühmte Antonov An-225 Mriya, die anscheinend Runden über der Haupt­stadt der Ukraine zieht. Sie fliegt in nur 4500 Fuß (1371 Meter) Höhe und trägt seit dem Start die CALL-ID FCKPUTIN. Das ursprünglich größte Frachtflugzeug der Welt war allerdings von den Russen gleich zu Beginn des Krieges auf dem Flughafen Kiew-Hostomel zerstört worden. Nach 15 Minuten verschwindet die symbolische Inszenierung vom Radar. Der Kreis, den die Maschine scheinbar zieht, erinnert an Kunstwerke von Kenneth Noland. Man könnte aber auch in gewagter theologischer Überspitzung sagen, dass das von den Russen vernichtete Transportflugzeug Mriya (ukrainisch für Traum) nach wenigen Tagen (zumindest virtuell) eine Auferstehung erlebt und das ukrainische Volk zu Putin sagt: Noli me tangere – Fass mich nicht an!

Die Nutzer von flightradar24 und anderen Flugseiten sind jedenfalls überrascht und schreiben:

Einige Zeit später bekennt sich der französische IT-Spezialist Mathieu Peyréga dazu, die Flugdaten auf flightradar24 manipuliert zu haben. Er schreibt: „Ich gebe es zu, ich konnte nicht wiederstehen“. Seine Manipulation funktionierte so lange, bis sein Account bei flightradar24 gesperrt wurde und er keine Daten mehr einspeisen konnte.


Beobachtungen zu einem Krieg, der wohl stattfand II

Die Ästhetisierung des Militärischen und seine religiöse Aufladung schreitet in den Tagen des Krieges voran, das scheint zur Eigenlogik heutiger Auseinandersetzungen zu gehören. Auf den Bildschirmen der ukrainischen Fernsehsender mehren sich die mit martialischer Musik unterlegten Videos, die Militärgerät zeigen – nicht im Einsatz, sondern wie bei einer Waffenschau. Es ist die Ansprache an eine mit Ego-Shootern sozialisierte Bevölkerung. Aber dabei bleibt es nicht.

Highway to hell

Am 17. März veröffentlich der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch auf Facebook und später auf dem ukrainischen Propagandasender ukrinform ein Drohnenvideo, auf dem die Zerstörung eines russischen Kommandopostens in der Ukraine zu sehen sein soll. Unterlegt ist dieses Drohnenvideo mit einer Musik der australischen Rockband AC/DC: Highway to hell. Arestowytsch schreibt dazu, die ukrainische Artillerie habe einen „Highway to hell“ für die Russische Armee organisiert. [In Wirklichkeit haben sie das Leben vorwiegend junger russischer Soldaten beendet.] Das veröffentlichte Video ist 3:28 Minuten lang, kostet also die Länge der Musik von AC/DC bewusst aus. Nun beschreibt „Highway to hell“ nicht die Vernichtung irgendwelcher Menschen oder ihren Aufenthalt in einem der Kreise der Hölle, sondern die besungene ‚Hölle‘ ist eine Metapher der Ödnis der langen Busfahrten durch Australien während einer Tournee. Aber Versatzstücke und vor allem Liedtitel werden gerne genommen, um liedfremde Botschaften zu transportieren (so funktioniert das in der Werbung ja auch, wenn sie aktuelle Hits unterlegen). So wie der chinesische Propagandasender CGTN die Webcam in Kiew mit Streichmusik unterlegt, um die Harmlosigkeit des Krieges zu demonstrieren, so nutzt der Präsidentenberater Rockmusik von AC/DC, um die Entschiedenheit der Ukrainer zu betonen. [Ähnliches hatten die Amerikaner in Vietnam gemacht.] Die Wahl der Musikstile ist dabei kontingent. Kultur wird hier gnadenlos instrumentalisiert.

Die ukrainischen Sender zeigen auch anhand von Drohnenbildern den „Triumph des Todes“ durch russischen Beschuss – die Menschheit ist seit Pieter Bruegel nicht weiter gekommen.

Aber die ukrainischen Propagandasendungen belassen es nicht bei den abstrakten Bildern. Sie schwelgen auch in Bildern, die angeblich die „perfekte Effektivität“ ihrer Arbeit zeigen, nämlich tote russische Soldaten, ihre mit Namen versehenen Helme und ihren Abtransport.

Parallel dazu kehrt eine religiös durchtränkte Sprache zurück, die eigentlich dem ausgehenden Mittelalter zugehört und mit der Moderne überwunden sein sollte.

Das ist eine durch und durch erschreckende Formulierung, die aber anknüpft an das eben erörterte Vernichtungsvideo seines Beraters. Diese Rede gestaltet sich analog zur Schilderung, die Dante im Inferno den Menschen im ersten Ring des siebten Kreises der Hölle vorgenommen hat. 

In der ersten Runde des siebten Kreises werden die Mörder, Kriegstreiber, Plünderer und Tyrannen in den Phlegethon, einen Fluss aus kochendem Blut und Feuer, getaucht … „wie sie sich während ihres Lebens in Blut gesuhlt haben, so werden sie für immer in das kochende Blut getaucht, jeder nach dem Grad seiner Schuld“.[20]

Nun ist bei Dante der erste Ring des siebten Kreises der Hölle nicht von einfachen Soldaten gefüllt, sondern von den Kriegsherren, von Attila, dem Hunnenkönig, Pyrrhus, dem blutrünstigen Sohn des Achilles und anderen. Insofern erweitert Selenskyj den Kreis noch einmal drastisch.

Man könnte die Äußerung daher eher als ungebrochenen Glauben an den Tun-Ergehens-Zusammenhang in christlicher Zuspitzung deuten, freilich durchsetzt mit sadistischen Fantasien. Während aber im Alten Testament der Tun-Ergehens-Zusammenhang innerweltlich gedacht wird, setzt Selenskyjs Zuspitzung die Vorstellung des Ewigen Lebens und des Jüngsten Gerichts voraus, so wie Giotto es in der Scrovegni-Kapelle in Padua gemalt hat.

Finisterre

Was sich in den letzten Tagen abzeichnete, wird nun Wirklichkeit. Der ukrainische Präsident hat den oppositionellen Parteien verboten, auch jenen, die im Parlament sitzen, während des Krieges weiter zu arbeiten und sich zu äußern. Zugleich hat er am 20.03.2022 ein Dekret unterzeichnet, wonach alle ukrainischen Fernsehsender – von denen es zahlreiche gibt – zu einem einzigen Propagandasender zusammengelegt werden sollen. Damit nähert sich Selenskyi seinem Gegenüber Putin an. Auch dieser unterdrückt jegliche oppositionelle Stimme und verbietet alternative Medien. Eine traurige Entwicklung, aber sie zeichnete sich ab. Schon vor dem Ukraine-Krieg hatte Selenskyj damit begonnen, unter dem Vorwand der Oligarchenbekämpfung Fernsehsender zu verbieten. Nun hat die Ukraine tatsächlich ein Problem mit ihrem Mediensystem, sind doch auch die ‚fortschrittlichen‘ Sender in der Hand von Oligarchen oder Politikern und ihren Verwandten.

Im Gegenzug lassen sich autokratische Tendenzen der Regierung beobachten, wie Analytiker schon vor dem Krieg befürchteten: „Dementsprechend steht die Ukraine heute an einem möglichen Scheideweg, der in Zukunft entweder zu einem autoritären Präsidenten- oder einem demokratischen Rechtsstaat führen kann.“[21]

In den letzten Jahren hat sich die Ukraine auf dem Demokratieindex verschlechtert. War es 2019 noch Platz 78 mit einem Index von 5,90, so ist es 2021 Platz 86 mit einem Index von 5,57. Dabei wird die Ukraine als Hybridstaat geführt, also keine vollständige, auch keine unvollständige Demokratie, aber auch (noch) kein autoritäres Regime. Aber auch während ihrer Verteidigung der Freiheit zeigt sie keine Züge einer demokratischen Kultur.

Seit heute Abend (20. März 2022) hat die Ukraine ein gleichgeschaltetes Fernsehen. Egal auf welchen Kanal man klickt, der Anblick ist jedes Mal der gleiche, nur das Senderlogo wechselt. Es ist schockierend, ein Pressesystem mutiert zum Staatsfunk, ein System kontrolliert die Medien. Vier autonome Fernsehsender, dieselbe Uhrzeit, ein Programm:


Trotzdem hat ein Volk, hat ein Staat ein Anrecht auf Souveränität und Freiheit, es hat ein Recht auf unsere Solidarität und Unterstützung, wenn es angegriffen wird.

Aber man sollte sich auch in diesen zugespitzten Zeiten nicht davon abhalten lassen, sich abzeichnende Fehlentwicklungen zu kritisieren. Und die Unterdrückung der Opposition und die Gleichschaltung der Presse sind derartige Fehlentwicklungen. Es geht dem ukrainischen Staat um die Kontrolle der Bilder und der Meinungen im gegenwärtigen Krieg, darum, Ambiguitäten zu vermeiden, Eindeutigkeit herzustellen. Aber das ist der Freiheit, die zu verteidigen man vorgibt, abträglich.

Es führt, um mit dem nebenstehenden Bild des in Kiew geborenen Kasimir Malewitsch aus dem Jahr 1914 zu sprechen, zu einer „partiellen Sonnenfinsternis“.

Man kann die Freiheit nicht durch Beschränkungen der Freiheit verteidigen.



Epilog I: Wagner. Oder das Spiel der Faschisten mit den Symbolen.

Am 27. März findet sich auf News Live, einer laufend aktualisierten Livemap unter anderem zum Ukrainekrieg, eine Meldung samt nebenstehendem Foto: Russian forces in Izyum town, possible Wagner PMC. Zu sehen ist ein Militärfahrzeug, an dessen Kühlergrill ein Violoncello montiert ist. Im Vordergrund bilden sich die Schatten der inszenierenden und fotografierenden Soldaten ab. Die Meldung vermutet, dass es sich um Söldner der rechtsextremen russischen Gruppe Wagner handelt, die sowohl in Syrien als aktuell auch in der Ukraine im Auftrag der russischen Regierung aktiv sind. Gegründet wurde die Söldnertruppe von dem russischen Neonazi Dimitri Utkin, dessen „Kampfnamen“ Wagner lautet, angeblich eine Hommage an den Komponisten Richard Wagner.

Seine private militärische Truppe zeichnet für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, Folterungen und Morde verantwortlich. Bekannt wurde, dass er im Auftrag der russischen Regierung syrische Söldner für den Ukrainekrieg anheuert. Auch wurde kolportiert, seine Truppe sei mit der Liquidierung des ukrainischen Präsidenten beauftragt worden, was aber dank eines russischen Whistleblowers verhindert werden konnte.

Was aber ist die Symbolik des aufgeschnallten Cellos? Würde man an das absolut Böse glauben, an die vollkommene Verworfenheit mancher Menschen, die noch an den schrecklichsten Geschehnissen menschlicher Geschichte Gefallen finden und sich bewusst in deren Tradition einordnen, dann würde man in vollkommener Perversion des Intendierten an Zeilen denken wie

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Das ist es, was wir meines Erachtens tatsächlich hier vor uns haben, der blanke Terror, der noch das Wissen der Terrorisierten zu seinem Komplizen macht und ihnen mit historischen Anspielungen eine Todesfuge androht: der Tod ist ein Meister …

Epilog II: Oscar. Oder Krieg als Kulturindustrie

Sean Penn hat gefordert, dass bei der Oscar-Veranstaltung der ukrainische Präsident auftreten müsse. Das finde ich logisch und folgerichtig, sind die Auftritte dieses Präsidenten doch schon seit längerer Zeit eher Hollywood und der Kulturindustrie als der Politik zuzuordnen. Wie Donald Trump meint Selenskyj, Politik werde heute durch Show-Auftritte gemacht und nicht durch harte politische Arbeit. Es ist schon überaus zynisch, dass Sean Penn zeitgleich verkündet, er arbeite zurzeit an einem Film über den Krieg. Baudrillard lässt grüßen. Die FAZ schreibt:

Der Touristenführer Gregg Donovan hofft dagegen, dass die Oscars ein Zeichen gegen den Krieg setzen werden. Seit Tagen steht der als ‚Botschafter von Hollywood‘ bekannte Amerikaner im roten Frack und schwarzem Zylinder auf dem Hollywood Boulevard und hält Schilder mit der Aufschrift ‚Hollywood steht zur Ukraine‘ oder ‚Academy let him speak‘ mit einem Bild vom Selenskyj hoch. Einen Souvenir-Oscar hat er mit den ukrainischen Farben Blau und Gelb verziert. ‚Alle Leute reagieren positiv darauf‘, versichert Donovan. Der 62-Jährige hofft, dass die Stars in der Oscar-Nacht zumindest blau-gelbe Anstecker tragen.

Das ist kulturindustrielle Kriegs-Propaganda, die nur noch auf symbolische Gesten setzt, weil sie in der Sache selbst seit langem nichts mehr zu sagen hat. Weil Hollywood als aalglatte Bildproduktions-Maschinerie eben kein Gegenmittel gegenüber einer Unkultur darstellt, die fremde Völker erobern und vernichten will, ja weil Hollywood selbst über Jahrzehnte Propaganda-Schinken dieses Stils der Fremd-Intervention beklatscht hat, muss man nun auf Ostentation setzen, sprich den symbolisch Blau-Gelb etikettierten Souvenir-Oscar. Der selbsternannte Hollywoodbotschafter Gregg Donovan, der 2020 noch meinte, nur mit Donald Trump bleibe Amerika groß, zieht in seine nächste Propagandaschlacht – nur mit einem anderen Präsidenten.

Anmerkungen

[1]    Robert Oppenheimer zitiert hier aus dem „Bhagavad Gita“ um seinem Eindruck von der ersten Explosion einer Atombombe zu Ausdruck zu bringen. Vgl. Jungk, Robert (1986): Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. 121. - 125. Tsd. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

[2]    Bradley, F.H. (1893), Appearance and Reality, preface

[3]    Vgl. Busch, Werner (Hg.) (1997): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen: Piper.

[4]    Adorno, Theodor W. (2004): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft). (MM 58)
Vgl. dazu Mertin, Andreas (1994): Die ästhetische Kritik der Ethik in Theodor W. Adornos "Minima Moralia". Online verfügbar unter http://www.amertin.de/aufsatz/1994/magister0.htm.

[5]    Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[6]    Lyotard, Jean-François (1987): Der Widerstreit. München: Fink (Supplemente, 6), S. 61.

[7]    Adorno, Theodor W. (2014): Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1707). S. 106.

[8]    Man, Paul de (2013): Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. 2nd ed. Hoboken: Taylor and Francis.

[9]    https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_de_Man#Theorie

[12]   Man kann fragen, ob man nicht der Personalisierung des Konflikts durch den Westen folgen sollte: Also von Putins Angriffskrieg und nicht von Russlands Angriffskrieg zu sprechen. Aus biographischen Gründen kann ich das nicht. Ein Teil meiner politischen Bewusstwerdung kreist darum, dass es nicht möglich ist, nur von Hitler als dem Bösen zu sprechen und „die Deutschen“ außen vor zu lassen. Als wenn einige Wenige rund um den Diktator das Volk ins Unglück gestürzt hätte. Dieses Geschichtsurteil hätten die vielen Mitläufer:innen gerne gehabt. Aber so war es nicht. Und so ist es auch nicht in Russland. Man kann das Problem nicht dadurch lösen, dass man das Volk exkulpiert, während ein anderes Volk unter brutalen Angriffen leidet. Es ist unaufrichtig.

[13]   Anders, Günther (1993): Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur. 2. Aufl. München: Beck

[14]   Montaigne, Michel de (2014): Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. 1., neue Ausg. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 349).

[15]   Anders, Günther (2020): Schriften zu Kunst und Film. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz. München. S. 360.

[16]   Berger, Peter Ludwig (1992): Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Durchges. und verb. Ausg. der 1980 bei Fischer ersch. dt. Ausg. Freiburg im Breisgau: Herder (Herder-Spektrum, 4098).

[17]   Vgl. Strehle, Samuel (2012): Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss (SpringerLink Bücher).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/136/am752.htm
© Andreas Mertin, 2022