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Was lehrt uns das leere Kiew?

Ein Tagebuch - Der (Alp-)Traum des Professors III

Andreas Mertin

Ingmar Bergman zum Ersten

Vor genau zwei Jahren habe ich anhand von diversen Webcams darüber nachgedacht, was uns eigentlich die Bilder leerer Städte lehren (Der Traum des Professors 1, Der Traum des Professors 2). Ich habe dabei eingesetzt mit Bildern von einem Alptraum aus Ingmar Bergmans 1957 erschienenem Film „Wilde Erdbeeren“. Der Protagonist Isak Borg, ein 78-jähriger Medizinprofessor kurz vor seinem 50-jährigen Promotionsjubiläum, irrt in diesem Alptraum durch menschenleere Straßen einer ihm unbekannten Stadt, stößt auf eine zeigerlose Uhr und begegnet dann einem gesichtslosen Wesen, das sich vor seinen Augen ins Nichts auflöst. Plötzlich rollt eine Totenkutsche mit einem Sarg durch die leeren Straßen auf ihn zu, gerät ins Straucheln, der Sarg fällt herunter, der Deckel öffnet sich und er sieht sich selbst im Sarg liegen. Er ergreift die eigene Hand – und dann wacht er auf. Diese leere Stadt aus Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“ erschien mir ein geeigneter Einstieg in die Reflexionen zur Lehre der leeren Städte in Zeiten einer Pandemie. Es war eine Reaktion auf die Corona-Krise und die radikalen Maßnahmen, die die Regierungen weltweit ergriffen hatten, um die Pandemie einzudämmen – mit begrenztem Erfolg.

Ingmar Bergman zum Zweiten

Zwei Jahre später sind wir noch immer von der Covid-Pandemie bedrängt, aber nun erscheint sie uns nicht mehr als das Schlimmste, zumindest nicht im Blick auf die weitere Zukunft. Denn inzwischen ist ein ganz anderer apokalyptischer Totentanz in Form des Dritten Weltkrieg drohend am Horizont (wieder) aufgetaucht. Statt auf die Nachtmahre aus den Wilden Erdbeeren blicken wir nun also auf den Totentanz im siebenten Siegel.

Der Titel dieses von Ingmar Bergman ebenfalls im Jahr 1957, aber kurz vor den Wilden Erdbeeren gedrehten Films bezieht sich natürlich auf das achte Kapitel der Offenbarung des Johannes, welches das Jüngste Gericht beschwört:

„Und als das Lamm das siebente Siegel brach, entstand im Himmel eine Stille, die erst nach einer halben Stunde endete. Und die sieben Engel, die die sieben Posaunen hatten, machten sich bereit in ihre Posaunen zu stoßen.“

Die Handlung des Films fasst die Wikipedia knapp so zusammen:

Ein von den Kreuzzügen heimkehrender, mit seinem Glauben ringender Ritter trifft auf den Tod, der ihm das Ende seiner Lebensspanne eröffnet. Der Ritter erwirkt einen Aufschub: Solange der Tod ihn nicht im Schachspiel geschlagen hat, darf er weiterleben.

Im Film geht es also nicht zuletzt darum, ob man mit dem Tod noch ein Spiel spielen kann, ob man ihm vielleicht sogar Menschenleben abringen kann, oder ob nicht jeder Zug, den man sich ausdenkt, ein vergeblicher Zug ist, weil alles schon festgelegt und beschlossen ist. Zwar hat auch der Tod seine Schwächen, aber a la longue gewinnt er immer. Aber vielleicht kann man – so ist zumindest die Hoffnung des Protagonisten – das Unvermeidliche wenigstens herauszögern. Kann man mit dem Tod verhandeln, während er doch gleichzeitig rundherum wütend zuschlägt? Kann man mit dem Tod Diplomatie treiben, muss man es sogar? Das sind Fragen, die wir uns auch aktuell stellen: nur dass der Tod heute den Namen Putin trägt.

Ingmar Bergman zum Dritten

Die größte Aktualität im Blick auf das aktuelle Geschehen haben freilich weder der Film Wilde Erdbeeren noch der Film Das siebente Siegel, sondern einige Sequenzen aus Ingmar Bergmans 1963 erschienenem Film Das Schweigen. Das Lexikon des internationalen Films schrieb seinerzeit

„Ingmar Bergman inszeniert ein Inferno der Angst, Verwirrung und Hilflosigkeit, wobei gerade das Fehlen lautstarker Katastrophen dem Film eine Aura eisiger Kälte und suggestiver Bedrohung verleiht. Die Schockwirkung einzelner Bilder und Szenenabläufe beruht weniger auf spekulativen Details, vielmehr wird die stilistische Geschlossenheit und Strenge des Films selbst zum Ausdruck allgemeiner Existenznot und universeller Entfremdung. Das in einem gottverlassenen, artifiziellen Niemandsland angesiedelte Werk Bergmans ist eine Parabel, die in ihrer Symbolfülle Raum für unterschiedliche Deutungen gibt.“

Beklemmende Aktualität besitzen vor allem Szenen wie jene, in denen der kleine Johan durch den langen Korridor des Zuges läuft und dann aus einem Fenster blickt, während sein Zug in eine Stadt einläuft und auf dem parallelen Gleis ein Transportzug mit Panzern und Militärgerät vorbeifährt. Johan presst wie zur Abwehr die Hand ans Fenster. Eine ebenso symbolische wie hilflose Geste.

Oder wenn später Johans Mutter aus dem Fenster des Hotels blickt, in dem sie gestrandet sind, und ein Pferdewagen, vollgeladen mit Stühlen und Einrichtungsgegenständen die künftige Ort- und Heimatlosigkeit der Stadtbewohner:innen ankündigt und ihre Flucht vor den Besatzern vorwegnimmt.

Und schließlich, wenn dann wirklich der erste Panzer vom eingangs gesehenen Panzertransport etwas holprig, aber unaufhaltsam durch die nächtlich leere Stadt rollt um von ihr Besitz zu ergreifen. Und währenddessen geht das Leben in der Stadt weiter, die Menschen essen, trinken, lieben, laufen durch die Stadt oder lassen sich auf groteske Weise unterhalten. Das Leben wird im Krieg nicht ausgesetzt.

Was lehren leere Städte – wenn man der Gefahr nicht entrinnen kann?

Wie immer, wenn irgendwo auf der Welt etwas Entsetzliches, Besonderes, Abartiges, Gefährliches oder auch Faszinierendes passiert, versuche ich, mir mit Hilfe von Google-View oder von Webcams einen Eindruck vom Geschehen und von den Örtlichkeiten zu machen. Und so habe ich auch in den Tagen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen den souveränen Staat der Ukraine die Webcam auf dem Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew angeschaut. Die Webcam ist sogar mit einer Tonspur versehen, und während ich das aufzuschreiben beginne (07. März 2022 um 18:51 Uhr) ertönen die Sirenen in Kiew, die vor einem drohenden Luftangriff warnen, kurz darauf hört man entfernt einige Explosionen. Es ist eine unerträgliche Spannung, man fürchtet die Unausweichlichkeit des Schreckens, aber es ist ein „Schiffbruch mit Zuschauer“. Man ist ja 1600 Kilometer entfernt und starrt nur auf ein Bild der Leere:

Nun könnte man die Leere auf die Tageszeit schieben, auch in anderen Städten wird oft schon am frühen Abend der Bürgersteig hochgeklappt. Aber auch der Blick auf die Webcam am nächsten Morgen zeigt nichts anderes. Ich blicke auf den menschenleeren Platz im Zentrum einer Stadt mit knapp drei Millionen Einwohnern, auf die gläserne Kuppel des Einkaufszentrums darunter. Hinter dem Platz die Tchaikovsky-Musikakademie, links daneben das Denkmal der ukrainischen Unabhängigkeit. Über dem Ganzen ragt der Präsidentenpalast, der nachts größer erscheint als tagsüber. Es ist regnerisch und nebelverhangen, der Platz ist menschenleer, nur wenige Autos fahren über die Straßen. Google-View meldet mir dennoch ein hohes Verkehrsaufkommen. Da Google Handy-Daten auswertet, müssten entweder sehr viele Menschen in der Metrostation unter dem Maidan sein oder Google verfügt aktuell über gar keine Daten und extrapoliert Werte aus vergangenen Zeiten. Das macht den Kontrast zwischen behaupteter Fülle und beobachteter Leere umso grotesker. Normalerweise, so sagt Google demnach, wäre jetzt, um 9 Uhr morgens, eine Hauptverkehrszeit. Ist es aber nicht.

Es wirkt zumindest auf den ersten Blick wie eine gelähmte Stadt. Am späten Vormittag schneit es dann in Kiew.

Kurz darauf, es ist halb elf Uhr am Vormittag (bzw. halb zwölf in Kiew), hört man wieder wie am Abend davor den Luftalarm im Zentrum der Stadt. Um zwölf Uhr Ortszeit ertönt dann über die öffentlichen Lautsprecher die ukrainische Nationalhymne, die heute besonders treffend ist:

Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben, noch wird uns lächeln, junge Ukrainer, das Schicksal. Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne, und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein. Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit, und bezeugen, dass wir, Brüder, von kosakischem Stamme sind.

Aber die Leere der Stadt, auf die man in Kiew blickt, ist eben nicht die gleiche Leere wie auf den Webcam-Bildern, die ich vor zwei Jahren in Mailand, Venedig oder Rom verfolgt habe. Auch damals starben zeitgleich Tausende von Menschen, aber wer sich von den öffentlichen Plätzen zurückzog und sich in seinem Haus verbarrikadierte, konnte sein Leben einigermaßen schützen (wenn er nicht gerade in einem Alten- oder Pflegeheim wohnte und seinem Schicksal schlicht ausgeliefert war). Wer sich in seine Wohnung zurückzog, durfte aber hoffen, nach der akuten Phase der Pandemie auf die unversehrten öffentlichen Plätze zurückzukehren, um sie sich wieder anzueignen. Und so geschah es dann nach und nach, Schritt für Schritt ja auch: der zunächst leere Platz vor der spanischen Treppe in Rom füllte sich wieder.

All das gilt in Kriegszeiten nicht. Die Bewohner von Kiew, die sich in ihre Wohnungen oder in die Metro-Stationen oder Luftschutzbunker unter der Oberfläche zurückgezogen haben, wie es ihnen die Stadtverwaltung dringend empfohlen hat, können sich eben nicht so schützen, wie wir es angesichts der Pandemie in den letzten zwei Jahren tun konnten. My home is my castle ist ein schlechter Leitsatz in heutigen Kriegszeiten. Die Leere auf den Straßen einer Stadt wie Kiew lehrt uns die Schutzlosigkeit der Menschen – glücklicherweise aber nicht ihre Wehrlosigkeit. Im Laufe der letzten Tage hat die Stadtverwaltung begonnen, Straßensperren zum Beispiel auf der zentralen Khreschatyk-Straße einzurichten, die den im Vergleich zu normalen Zeiten eher spärlichen Verkehr zu einer Art Slalom und damit zur Verlangsamung zwingt.

All die Menschen in Kiew wissen aber, dass, wenn sie denn irgendwann nach dem Angriffskrieg auf diese Straßen zurückkehren werden, ihre Stadt ebenso wie die Welt nicht mehr die gleiche sein wird. Eine europäische Hauptstadt des 21. Jahrhunderts wird von Zerstörungen gekennzeichnet sein, vom Häuserkampf und vom Artilleriebeschuss. Noch ist es in Kiew nicht so weit, aber heute, am Abend des 8. März 2022 (der ein relativ ruhiger Tag in Kiew war, wie die Bewohner im Internet berichten) erscheint es unausweichlich.

„Zeitenwende“ nennen die Politiker:innen das aktuell in Deutschland, aber das schreibt dem verursachenden Diktator zu viel Bedeutung zu. Das hat er nicht verdient. Vielleicht ist es nicht einmal eine Epochenschwelle. Man neigt unter dem Eindruck aktueller Ereignisse dazu, sie jeweils für die maßgeblichen zu halten. Aber im Vergleich zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, später den Verbrechen auf dem Balkan, den Schreckenstaten in Syrien, haben wir es hier (noch) mit einer nur in europäischen Augen herausgehobenen Tragödie zu tun.

Am späten Abend des 8. März 2022 ertönen wieder die Alarmsirenen in Kiew. Aber für Kiew wird es eine ruhige Nacht sein, unterbrochen nur von einigen Alarmsirenen. Wenn man das Geschehen auf der Webcam des Maidan verfolgt, hätte man / hätte ich mit mehr ukrainischem Militär auf den Straßen gerechnet. Aber eigentlich sieht man nur ab und an zum Militär gehörende PKWs durch die Straßen rasen. Alles andere geschieht offenkundig in der Peripherie der Stadt.

Zwischenzeitlich schalteten die Betreiber der Webcam um auf den Livestream der französischen Nachrichenagentur AFP, der Bilder von einem Kontrollpunkt zwischen Irpin und Kiew zeigte. Und hier sah man dann die Flüchtlingsströme, die Menschen, die mit wenigen Habseligkeiten dem Terror der heranrückenden russischen Armee zu entfliehen suchten. Diese Kontrollstelle liegt 15 Kilometer vom Maidan entfernt.

Am 09. März 2022 findet um 13 Uhr auf dem Maidan neben der Tchaikovsky-Musikakademie eine musikalische Protestveranstaltung durch Mitglieder des Kyiv Classic Orchestra statt, es ist ein Gänsehautmoment. Sie setzen in Zeiten der äußersten Bedrohung und im Angesicht der Barbarei auf die Kultur und die Kunst. Ein Schrei der Hoffnung der Bürger:innen von Kiew. Natürlich spielen sie die ukrainische Nationalhymne, aber das ist nur ein kleiner Teil ihres gut 20 Minuten dauernden Programms. Sie spielen die Europahymne [hier eine Aufzeichnung des Moments] – aber das ist schwer zu ertragen in diesen Tagen, die sich doch so kontrafaktisch zu diesem Lied verhalten. Warum das Lied auch in diesen Tagen sinnvoll ist, erläutert Ricardo Muti vom Chicagi Symphony Orchetstra in einem Statemant kurze Zeit nachdem die Ukraine angegriffen wurde. https://www.youtube.com/watch?v=b526O61co3k

Die Simultaneität der Bilder, die der Kiew Livestream auf einem Zusammenschnitt der diversen Webcams zeigt, ist irgendwie paradox: Der Blick auf die Stadtkulisse, der Blick auf den Grenzübergang nach Polen, der Blick auf das Michaelskloster und der Blick auf das Orchester – das alles geschieht gleich-zeitig.

Keine halbe Stunde später ertönt wieder eine ganz andere „Musik“, die Sirenen warnen vor neuen drohenden Angriffen der russischen Agressoren. Die Webcam, die für Stunden ausgefallen war, läuft am Abend wieder, es hat in der Zwischenzeit wieder geschneit, aber sonst ist die Situation unverändert.

Die Webcam, die ich seit Tagen verfolge, ist offensichtlich am Kozatskiy Hotel angebracht. Auf der Suche nach Ansichten vor dem Krieg stoße ich auf Bilder, die offenkundig vom selben Blickpunkt vor acht Jahren gemacht wurden: der (zweite) Aufstand auf dem Maidan.

Heute aber, hier und jetzt, geschieht – nichts. 2020 habe ich Webcams während der Ausgangssperren in ganz Europa verfolgt und immer waren irgendwo Menschen und wenigstens die Ordnungsmacht in Sicht. Heute Nacht in Kiew geschieht nichts. Keine Menschen, keine Autos – einfach nichts. Mehrfach starte ich die Webcam neu, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass auf dem Bildschirm gar nichts passiert.

Um Mitternacht Ortszeit gibt es wieder einen Luftalarm, aber ansonsten herrscht nur Leere – optisch und akustisch. In einem Kinofilm wäre das ein Moment des zugespitzten Suspense – man schwebt in der Spannung und diese wächst ins Unermessliche. Nur dass hier an diesem Abend wirklich nichts passiert – Totenstille. Man könnte auch von der Ruhe vor dem Sturm sprechen. In den Tagen davor war wenigstens ab und an ein Auto, ja sogar ein Autokonvoi durchs Bild gefahren, diese Nacht geschieht aber – nichts.

Am 10. März 2022 sagt dann der Bürgermeister von Kiew, er gehe inzwischen davon aus, dass die Hälfte der Bewohner der Stadt bereits geflohen seien. Zurück bleiben die „wehrfähigen“ Bewohner.


Zeit, sich einmal mit der Verortung meines Blicks auf Kiew zu beschäftigen. Die Webcam der Nachrichtenagentur AFP, auf die ich bis dahin vorwiegend geblickt habe, richtet sich nach Südosten, hat also die Sophienkathedrale (in der 2018 die autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine begründet wurde), wie auch das weltberühmte St. Michaelskloster und die umkämpften Vorstädte im Nordwesten der Stadt hinter sich im Rücken.

Bis vor wenigen Tagen gab es noch andere Webcams von Presseagenturen, die im Vier-Sterne-Hotel Ukrajina auf der gegenüberliegenden Seite des Maidan residierten. Diese Webcams sind aber nun ausgeschaltet. Sie hatten eigentlich den interessanteren Ausblick, wie man auf den Screenshots von den Streams vor ihrem Abschalten sieht.

Ein Phänomen, das auch an der spanischen Treppe in Rom vor zwei Jahren zu beobachten war, ist das Vordringen der Vögel in die von Menschen entleerten Städte. Waren es in Rom Möwen, so sind es in Kiew Raben und Tauben.

Heute nachmittag beobachte ich zum ersten Mal konkrete Vorbereitungen für die Verteidigung von Kiew. Vor der Treppe zur Metro und unterhalb des Denkmals der Unabhängigkeit werden Sandsäcke abgefüllt und gestapelt. Sie dienen dem Schutz der Verteidiger vor Granatsplittern und Einschüssen. Auch an anderen kritischen Punkten, etwa im Bezirk Obolon werden nun Straßensperren gebaut. Mittags hatte der Präsident der Ukraine irgendwo auf den Straßen von Kiew eine längere Ansprache gehalten, für die die Übertragung der Webcam unterbrochen wurde. Und dann am späten Nachmittag wird die zentrale Webcam, auf die ich bis zum 11. März 2022 geblickt hatte, (scheinbar) ausgestellt. Zunächst nicht so richtig, sie erscheint mit veränderter Perspektive kurz wieder, um dann ganz zu verschwinden. Aber auch andere Webcams werden an diesem Tag ausgeschaltet oder – was vermutlich zutreffender ist – sie sind einfach nicht mehr öffentlich freigeschaltet.

Man kann natürlich Redaktionen und Webcam-Betreiber verstehen, wenn sie angesichts der herannahenden Armee ihre Mitarbeiter:innen schützen wollen und sie aus der Schusslinie nehmen. Dennoch hätte ich mir erhofft, dass durch die Webcams das Kriegsverbrechen der Besetzung einer friedlichen Hauptstadt dokumentiert wird. Zwar kann man immer noch auf die zahlreichen Fernsehsender der Ukraine zugreifen, aber die bieten wieder bestimmte Perspektiven (u.a. natürlich auch Propagandafilme der ukrainischen Armee). Ich wollte aber etwas aus der Leere der Städte vor dem Sturm lernen. Das geht im Moment nicht.

Es entsteht bei mir ein Gefühl von Blindness and Insight. Einerseits sehe ich im Augenblick wenig, kann aber über andere Kanäle mehr als genügend Einsichten bekommen: zahlreiche TV-Stationen nicht zuletzt aus der Ukraine selbst, die laufend berichten, aber auch diverse Social Media Kanäle.

Andererseits zeigen die Zusammenstellungen diverser Redaktionen, dass die bisher genutzte Webcam auf dem Maidan weiterhin aktiv sein muss, ich kann sie nur nicht direkt aufrufen. Aber der Blick auf die Zusammenstellungen ist immer noch besser als keiner.

Um Punkt 12 Uhr Ortszeit am 12. März 2022 ertönt wieder die ukrainische Nationalhymne: Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben. Aber von den Webcams, die St. Michaelis und den dahinter sichtbaren Horizont beobachten, kommen andere Signale. Und auch die online verfügbaren ukrainischen Fernsehkanäle vermelden ein Näherrücken der Einschläge bei Kiew.

Auf anderen Kanälen werden die Webcams wieder freigeschaltet, so dass man nach und nach wieder einen Überblick über das Geschehen nicht nur am Maidan bekommt. Die Verteidiger von Kiew haben nun weitere Straßen im Zentrum mit Wällen von Sandsäcken ausgestattet und kontrollieren den Zugang zur Innenstadt. Jeder Wagen wird angehalten und überprüft.

Exkurs: Presse

Die Kriegsreporter wagen in diesen Zeiten viel. Aber ihre Situation vor Ort ist je nach Auftraggeber ganz unterschiedlich. Gerade schaue ich auf einer Webcam den Live-Bericht einer Reporterin an ihre Heimatredaktion. Sie ist auf dem Dach ihres Hotels, im Hintergrund sieht man die Kathedrale St. Michael. Das macht es leicht, den genauen Standort zu bestimmen, man residiert im Intercontinal Kiew. Das Fünf-Sterne-Hotel ist eine andere Hotelklasse als das der Journalisten am Maidan. Das Interessante an ihrem Bericht ist, dass das Mikrofon nach der Reportage nicht ausgeschaltet wird und die Reporterin sich nun mit ihren Kollegen in einem ganz anderen Tonfall über ihren gelungenen Haarschnitt und über das Hotel unterhält. Das sei ja nun wirklich ein „lovely hotel, so elegant“. Auch Krieg ist für Kriegsreporter eben nur Alltag.

Im ukrainischen Fernsehsender ЕСПРЕСО (Espreso TV), den es seit den Protesten auf dem Maidan 2013/4 gibt und der damaligen Opposition nahesteht (und auch heute noch im Besitz von Politikern ist), werden Bilanzen der Zerstörung gegnerischer Kräfte vorgestellt, die niemand überprüfen kann. Träfen sie zu, hätten die Russen in 18 Tagen Krieg mit der Ukraine fast schon so viel Verluste erlitten wie während des achtjährigen Afghanistan-Krieges der Sowjetunion.

Forts.

Man ist beim Beobachten der Webcams in Kiew ja schon froh, wenn wieder einmal ein Tag vergangen ist, in dem es nicht zu Luftangriffen im Zentrum der Millionenstadt gekommen ist.

Die Kamera am Maidan zeigt zumindest heute, am 13. März gegen 22 Uhr Ortszeit weiterhin eine noch ruhige Stadt, zumindest an der Oberfläche. Aber wie man an den heutigen Luftschlägen gegen Lemberg erkennt, kann sich das jederzeit ändern. Es bedarf keiner Truppen vor Ort, um auf Kiew zu schießen. Auch die Raketen auf Lemberg wurde von Flugzeugen aus dem russischen Luftraum abgegeben.

Die Karten, die die Zeitungen und die Fernsehanstalten verbreiten, befördern die Illusion, es gebe einen immer kleiner werdenden Raum um Kiew, der nach und nach mit russischen Truppen gefüllt werde und dann werde es bedrohlich für Kiew. Das stimmt sicher weitgehend. Aber für Luftschläge bedarf es dieser Dialektik von leerem Raum und eingenommenem Raum nicht.

Schöne, fast kitschige Bilder gibt es auch, heute am späten 14. März eine abendliche Stimmung mit Blick auf das Kloster St. Michael. Der reinen Kontemplation, so heißt es in einer Skizze der Ästhetik Schopenhauers, sei es einerlei, ob sie aus dem Kerker oder dem Palast den Sonnenuntergang erblickt. Sie versenkt sich ganz in die Seligkeit des willenlosen Anschauens, sei es des reinen Schönen oder in die erst nach einem Kampfe mit dem ‚Willen‘ gewonnene des Erhabenen.

Die Webcam-Übersichten aus Kiew richten ihren Blick jetzt am 15. März 2022 vermehrt auf die Vororte und den Horizont. Denn schon am frühen Morgen sind erste Raketen in Wohnhäuser am Rande von Kiew eingeschlagen. Und das sind Bezirke, die von den Webcams im Zentrum nicht erfasst werden. Der Bürgermeister von Kiew hat für heute ab 20 Uhr eine strenge Ausgangssperre verhängt, nur zum Aufsuchen des Luftschutzbunkers darf man auf die Straße gehen. Ob das eingehalten wird, kann ich nicht sehen, weil die Webcams mal wieder nicht online sind. Pünktlich um 20 Uhr Ortszeit wurden sie abgeschaltet – warum auch immer. Daher schalte ich um auf den ukrainischen Fernsehsender ЕСПРЕСО. Ich verstehe zwar kein Wort Ukrainisch, aber sein Stil ist eindringlich und faszinierend zugleich. Sie bieten einen festen Stamm an Zuschauer:innen, die aus Wohnungen und Kellern berichten und reflektieren – eine Art demokratisches Fernsehen der Menschen unter der Oberfläche der leeren Städte. Und sie haben satirische Einlagen und kulturelle Beiträge, wie ein simultanes Konzert vieler Geiger:innen oder eine kontroverse Diskussion älterer Männer mit erhobenen Zeigefinger vor dem Hintergrund zerstörter ukrainischer Städte:

Das ist sehr beeindruckend und zeigt die Potentiale, die immer noch im alten Medium des Fernsehens liegen. Aber auch hier muss man sagen, dass es sich nicht um unabhängiges Fernsehen handelt, sondern von einer Gruppe von Politikern und ihrem Umfeld finanziert wird (der Frau des früheren Innenministers Avakov und dem früheren Premierminister Yatsenyuk).


Heute, am 16. März 2022 ist Kiew soweit auf den Webcams erkennbar zwar immer noch von Leere bestimmt, aber die Stille hat aufgehört. Regelmäßig hört man im Hintergrund Gefechtslärm, auch wenn man im Zentrum keine Einschläge sieht. Um 12 Uhr Ortszeit hört man die Glocken der großen Kirchen und Kathedralen, aber zum ersten Mal erklingt die Nationalhymne der Ukraine nicht. Für einen Bruchteil einer Sekunde setzt ein Lautsprecher mit Musik an, um dann abzubrechen. Das Einzige, was man neben dem entfernten Gefechtslärm hört, sind die Glocken und die Glockenspiele der Kirchen. Das Bombardement hat Kiew endgültig erreicht.

Die Blickrichtung der Webcams, wie sie auf einer Stadtkarte eingezeichnet sind, ist dahingehend zu ergänzen, dass auf dem Intercontinental Hotel nicht nur eine Webcam Richtung St. Michaeliskirche steht, sondern auch eine Richtung Innenstadt (aber vielleicht ist damit auch die Webcam von Reuters gemeint).

Am Nachmittag schaltet eine Webcam auf die Rede des ukrainischen Präsidenten vor dem amerikanischen Kongress. Er schlägt den hohen Ton an, den er schon seit Tagen vor diversen internationalen Institutionen gewählt hatte. Aber hier wird die Dialektik von Inhalt und Form noch einmal dramatisch in ihrer Problematik deutlich. Um die Amerikaner zu motivieren, greift der ukrainische Präsident auf alle historischen Pathosformeln zurück, von denen er glaubt, dass sie die Amerikaner überzeugen könnten. Die FAZ notiert dazu: „Selenskyj, der über PR-Berater aus Washington verfügt, weiß, wie wichtig Kommunikation in dieser Lage ist.“ Und diese Absicht spürt man seiner Rede an. Er spielt auf Pearl Harbour und 9/11 an, vor allem aber greift er auf Martin Luther Kings Formel „I have a dream“ zurück. Und hier gerät das Ganze in eine Schieflage, denn er instrumentalisiert nicht nur den Freiheitskampf der schwarzen Bürgerbewegung, sondern dekonstruiert ihn, indem er ihn in den Wunsch nach Waffenlieferungen umformuliert: „I have a need“. Keines der Beispiele, das er nennt, besitzt Analogien zum Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine und seinem damit verbundenen Wunsch einer amerikanischen Intervention. Die gewählten Exempel zeigen nur, dass die Amerikaner sich selbst gewehrt haben, als ihnen dies jeweils widerfuhr, nicht, dass sie andere um Hilfe gebeten hätten. Natürlich ist Pathos immer eine Waffe im Krieg, aber ich glaube nicht, dass man so simpel seine Ziele erreicht.

Auch einen Tag später bei seiner Video-Rede vor dem deutschen Bundestag, nutzt Selenskyi dieselbe schablonisierte Polit-Rhetorik, wenn er die deutschen Politiker auffordert: "Reißen Sie diese Mauer nieder, unterstützen Sie uns." Historische Ereignisse werden zu willkürlichen Propaganda-Text-Bausteinen. Man fragt sich besorgt, was der ukrainische Präsident wohl in Japan oder Israel sagen würde. [Tatsächlich hat er dann wenige Tage später vor der Knesseth die Ereignisse in der Ukraine mit dem Holocaust verglichen, ist dabei auf entschiedenen Protest israelischer Historiker und Politiker gestoßen.]

22 Tage dauert der Krieg nun an und auch über Kiew sieht man am Morgen den Sahara-Staub über der Stadt. Heute ist der zweite Tag in Folge, dass mittags die Nationalhymne nicht mehr abgespielt wird.

Die Betreiber der Webcam, die bisher vom Intercontinental-Hotel auf die Einfahrt zum Maidan gestreamt hatte, haben offenbar gewechselt, auch die Perspektive. Sie zeigen seit elf Uhr nicht mehr die sich auf die Okkupation vorbereitenden Kiewer, die Sandsäcke aufschichten und PKWs kontrollieren, sondern wählen einen Bildausschnitt und zoomen auf die Stadtsilhouette. Betrieben wird das Ganze nun laut den eingeblendeten Logos vom chinesischen Auslandssender CGTN. Youtube fügt dem Livestream automatisch folgende Information hinzu: CGTN wird ganz oder teilweise von der Regierung Chinas finanziert. Unterlegt ist der Livestream, seit ich ihn das erste Mal aufgerufen habe, mit getragener Orchestermusik. Dabei ist die Musik so ausdruckslos, dass es dem Musikdienst von Google nicht gelingen will, sie zu identifizieren. Im begleitenden Live-Chat tobt dann die entsprechende hetzerische Kriegspropaganda.


Und passend zum geänderten Bildfokus, der die Abwehrbemühungen der Kiewer bewusst ausblendet, schreiben die Leute im Live-Chat dann, man sehe ja, dass es in der Ukraine gar keinen Krieg gebe.

Das gelingt einfach durch die Reduktion der Wahrnehmung durch Fokussierung. Was man nicht sehen soll, wird ausgeblendet.

Um 13 Uhr friert CGTN – zumindest auf Youtube – das Bild dann ein, behauptet aber weiter, es sei ein Live-Stream. Aber letztlich ist das auch egal, denn mit dieser Fokussierung vermeidet die Webcam jede Erkenntnis – außer dem Wolken- und Sonnenstand. Und da der Blick fast direkt nach Südsüdost geht, stehen auch keine direkten Gefechtsbeobachtungen an. Irgendwann schaltet CGTN dann scheinbar wieder auf eine andere Ansicht um. Da aber ein anderer Anbieter nicht umschaltet und die Bilder der fokussierten Webcam weiter live zeigt, gerät man in Zweifel, welches Bild eigentlich das richtige ist. Beide Bilder sind um 16:20 Ortszeit:

Aber dann wird erkennbar, dass CGTN nur noch eine Aufzeichnung sendet und entgegen dem eingeblendeten Schriftzug nichts daran LIVE ist. Nun soll nicht der Eindruck entstehen, als wäre es nur CGTN, die so handeln, auch die Washington Post und die britische SUN greifen auf diese Webcam zu und präsentieren sie ihren Leser:innen, allerdings mit der Bildunterschrift „View of Kyiv skyline as airstrikes continue in besieged Ukrainian capital“ bzw. „Kyiv skyline as Russian troops invade Ukraine“. Was aber deutlich ist, dass die Veränderung des Fokus‘ dieser Webcam Folgen für die Wahrnehmung und Beurteilung hat. Was diese Webcam nun zeigt, ist eine menschenleere Stadtsilhouette. Vorher sahen wir Menschen bei der Vorbereitung der Verteidigung einer angegriffenen Stadt. Das gerät nun aus dem Blickfeld.

Fast aus dem Blick geraten ist mir zwischenzeitlich der Blick auf den Maidan, schlichtweg deshalb, weil von den beiden Webcams, die auf diesen Ort gerichtet waren, die bessere (von AFP) abgeschaltet wurde und die schlechter positionierte nur ab und an im Vollbild zu sehen ist. Außerdem hat der Verteiler der Bilder mitten in das Bild der Webcam sein Logo gebrannt, worauf er sehr stolz ist, aber nicht zurecht. Auch hier schlägt das Interesse an der Wiedererkennbarkeit (die Gestaltung) die intendierte Botschaft der Bedrohung der ukrainischen Hauptstadt Kiew durch fremde Invasoren (der Inhalt).

Wer die andere, sozusagen subkutane Seite wahrnehmen will, die sich aus dem Blick auf die Webcams nicht (mehr) ergibt, dem empfehle ich die Artikel von Anastasia Magasowa aus der taz, insbesondere den vom 18.03.2022 unter dem Titel: „Die Wut wächst“. Das Faszinierende an ihrer Beschreibung finde ich, dass sie mit der Wahrnehmung der Oberfläche, wie sie sich aus den Webcams ergibt, zusammenpasst.

Die Eroberung Kiews scheint daher eher einem Suizid zu ähneln. Männer, Frauen, Jugendliche und Rentner*innen – sie alle versuchen, die Truppen der Territorialverteidigung in Kiew so gut es geht zu unterstützen. Der 16-jährige Aleksei steht vor einem Sandhaufen. In der Hand hält er eine Schaufel, zu seinen Füßen liegen Säcke, wie man sie von Baustellen kennt. Er kommt jeden Tag zu dieser Barrikade und tut alles, worum man ihn bittet. Heute lautet der Auftrag: Säcke mit Sand befüllen, um den Checkpoint zu verstärken.

Anastasia Magasowas Beschreibung zeigt, wie fatal die Beschneidung des Blicks der Webcam auf die Stadtsilhouette ist, denn ausgerechnet die geschilderten Verteidigungsbemühungen der Bewohner:innen von Kiew kommen bei den Webcams nun nicht mehr in den Blick, der Krieg wird zu einem Abstraktum in dem Sinn, in dem ihn Baudrillard beschrieben hat.

Die Webcam-Übersichten werden jetzt zunehmend auf andere Städte erweitert, z.B. auf die Silhouette von Lemberg, an deren Horizont sich die Rauchwolken der fortgesetzten Luftangriffe zeigen. Das hat – Voyeurismus hin oder her – auch damit zu tun, dass man meint, dass auf den anderen Webcams mehr vom Krieg zu sehen ist, als auf denen, die bloß die Stadtsilhouette vom Kiew oder willkürlich ausgesuchte Stadtteile zeigen. Das ist natürlich sensualistisch orientiert, beim Schiffbruch möchte der Zuschauer schließlich etwas sehen. Als ob nicht gerade die gespenstische Leere das Schreckliche wäre.

Am 21. März erklingt mittags auf dem Maidan wieder die Nationalhymne: Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben, noch wird uns lächeln, junge Ukrainer, das Schicksal. Der Bürgermeister von Kiew hat wieder eine 36stündige Ausgangssperre für die Stadt angekündigt.

Seit ziemlich genau 14 Tagen notiere ich jetzt die Beobachtungen, die man den Webcams in Kiew entnehmen kann. Und ich merke, wie die Cams immer gesichtsloser, ja nichtssagender werden. Die Webcams, die am aussagekräftigsten waren, wurden von den großen internationalen Nachrichtenagenturen betrieben, die ihre Streams nun aber nicht mehr öffentlich freischalten oder ihre Reporter aus den bedrohten Zonen zurückgezogen haben. Was bleibt, sind entweder die Webcams der Verkehrsbehörden, die Webcams der Grenzübergänge oder Webcams von Büros, die auf die Straße oder das Viertel vor dem Büroturm streamen.

Und so endet der Blick auf die Webcams mit den Bildern von der leeren Stadt Kiew tatsächlich dadurch, dass alle Cams ausgeschaltet sind. Die verbliebenen Cams in der Ukraine sind solche von den Grenzübergängen oder von Verkehrskameras.

Sie sind aber nicht aussagekräftig, sozusagen sprachlos. Alle verbleibenden Bilder sind jetzt kontrollierte Bilder, solche die das Militär, die Regierung oder die großen Medienanstalten senden und das heißt: vor ihrer Veröffentlichung filtern.

Die Lehre der leeren Stadt Kiew

In den Medien wird davon gesprochen, dass dieser (aktuell noch fortdauernde) Krieg der medial am besten dokumentierte Krieg sei. Verwiesen wird dabei auf die unzähligen Handy-Videos auf Instagram, Facebook, Twitter oder TikTok. Der Nachteil all dieser Kurzfilmchen ist, dass sie nicht nur kontingente Einsichten vermitteln, sondern auch kaum überprüfbar sind. Und auch bei den Webcams gibt es selten eine Information darüber, wer sie eigentlich betreibt. Nur daran, wer sie ab und an für Live-Übertragungen nutzt, erkennt man ihre Betreiber, in der Regel sind es Nachrichtenagenturen wie Reuter oder AFP. Sobald diese ihre Reporter aus der Region abziehen, verschwinden auch die Webcams.

Was die Webcams aber ziemlich gut vermitteln, ist weniger das Kriegsgeschehen, als vielmehr die Banalität bzw. die Bürokratie des Krieges: die nach und nach zunehmenden Straßenkontrollen, das Errichten der Barrikaden aus Sandsäcken, die Strukturierung des Tages durch Ritualien (wie dem Abspielen der Nationalhymne), die Ansprachen der Regierung bzw. Stadtverwaltung.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/136/am753.htm
© Andreas Mertin, 2022