Ruhe und Frieden

Hugo Distlers Totentanz als liturgische Musik und Zeugnis der Befindlichkeit

Mathias Kissel

Ein «Vorwort» zur Dissertation: «Ich wollt, daß ich daheime wär». 
Der Totentanz op. 12, 2 als liturgische Musik und Zeugnis der Befindlichkeit Hugo Distlers.
Zum 80. Todesjahr des Komponisten

I. Leben

Hugo Distler wird 1908 in Nürnberg geboren. Als er vier Jahre alt ist, wandert seine Mutter mit dem Mann, den sie später heiraten wird – und der nicht Hugo Distlers Vater ist – in die USA aus. Hugo Distler verbleibt bei seinen Großeltern, die in Nürnberg eine Metzgerei betreiben. Als er 11 Jahre alt ist, kehrt seine inzwischen verwitwete Mutter mit ihrem in den USA geborenen Sohn Anthony nach Nürnberg zurück. Hugo Distler lebt nun bei seiner Mutter. Für seinen Halbbruder hegt er eine große Sympathie; aber von seiner Mutter wird er diesem gegenüber beständig zurückgesetzt, so dass er mit 15 Jahren wieder zu seinen Großeltern zurückehrt, obwohl diese durch die Inflation in Deutschland völlig verarmt sind. Als seine Großmutter zwei Jahre später stirbt, bleibt Hugo Distler allein bei seinem Großvater.

Dieses frühe Verlassenwerden durch seine Mutter und seine beständige Zurücksetzung mögen im Zusammenhang stehen zu dem, was seine Biographinnen – seine maßgeblichen Biographinnen sind Autorinnen – einhellig berichten: Hugo Distler fällt in der Öffentlichkeit schon seit jungen Jahren durch äußerste Zurückhaltung, durch äußerste Sensibilität und durch eine enorme Verletzlichkeit auf. 

Er selbst äußert sich in Briefen an Menschen, zu denen er Vertrauen hat, immer wieder über seine abgrundtiefe Einsamkeit und seine Angst, die sein ganzes Leben zu durchziehen scheint, und die sich in späteren Jahren besonders in seiner Angst vor der Einberufung ins Militär manifestiert, in deren Zusammenhang es mehrmals zur Äußerung von Suizidabsichten kommt.

Hugo Distler interessiert sich schon in jungen Jahren für geistliche Musik, er nimmt früh Klavierunterricht. Aus finanziellen Gründen muss er sich von der Musikschule wieder abmelden. Zweimal bewirbt er sich dann am Nürnberger Meistersinger-Konservatorium, wird aber beide Male trotz seiner offenkundigen Begabung abgewiesen – wie es scheint, aufgrund seiner unehelichen Herkunft.

Mit 19 Jahren, nach seinem Abitur, bewirbt er sich an dem international renommierten Konservatorium in Leipzig und wird auf Anhieb aufgenommen. Er studiert dort Komposition bei Hermann Grabner, einem der damals maßgeblichen Musiktheoretiker und Kompositionslehrer, und Orgel bei Günther Ramin, dem späteren Thomaskantor. Auch dieses Studium muss er nach drei Jahren aus finanziellen Gründen abbrechen.

Günther Ramin vermittelt ihn an die gerade freigewordene berühmte Stelle des Organisten an St. Jakobi in Lübeck. Nach einem verwirrenden Bewerbungsverfahren, in dem sich die Kirchenvorsteherschaft von St. Jakobi durch eine gewisse Intransparenz auszeichnet, tritt Hugo Distler diese Stelle 1931 an. Dort kommt es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem liturgisch und musikalisch interessierten Hauptpastor Axel Werner Kühl – der sich später das Leben nimmt – und dem Leiter des Lübecker Singkreises, Bruno Grusnick. In Lübeck komponiert Hugo Distler den größten Teil seiner geistlichen Vokalmusik. In Lübeck lernt er auch seine Frau, Waltraut Distler, kennen. Hier widerfährt im auch das traumatische Erlebnis, dass sich eine seiner Orgelschülerinnen das Leben nimmt, indem sie sich von der Orgelempore der Jakobikirche stürzt.

1933 komponiert Hugo Distler seine Weihnachtsgeschichte op. 10 für Chor a cappella, die die Widmung trägt: «Dem Volk, das im Finstern wandelt.» 1935 komponiert er sein Cembalokonzert op. 14, das von den Nationalsozialisten als «kulturbolschewistisch» bezeichnet wird.

Im Jahr 1934 komponiert er die Motette Totentanz op. 12, 2, eine Motette für 11 Sprecher, 1 Sprecherin, 1 Kinderstimme und vierstimmig-gemischten Chor a-cappella nach Texten von Angelus Silesius und Johannes Klöcking, die Hugo Distler ausdrücklich als liturgische Musik, als Musik für den Gottesdienst, verstanden wissen will.

Im Jahr 1936 verhindert die Gestapo eine Aufführung der Weihnachtsgeschichte op. 10 in Lübeck. Unter anderem als Folge davon nimmt Distler 1937 eine Dozentenstelle für Musiktheorie und Chorleitung an der Musikhochschule Stuttgart an. Doch auch in Stuttgart greift die NS-Studentenschaft in seine kirchenmusikalische Arbeit ein: Die Singgemeinde Esslingen wird nach der Aufführung von Bachs Johannespassion unter der Leitung Hugo Distlers von der Gestapo aufgelöst. 

Von nun an komponiert Hugo Distler nur noch weltliche Chormusik, so 1939 das Mörike-Chorliederbuch op. 19 nach Gedichten Eduard Mörikes, das Hugo Distler sofort internationale Bekanntheit einträgt. 

In Stuttgart kommt es aufgrund einer Nebenbeziehung zu einer anderen Frau zu einer zeitweiligen Trennung von seiner Frau Waltraut und zu konkreten Suizidabsichten. 1940 wird Distler als Professor für Chorleitung und Komposition an die Staatliche Hochschule für Musik nach Berlin berufen. Die Familie bezieht eine Wohnung im Vorort Berlin-Strausberg, neben der Hugo Distler noch eine kleine Dienstwohnung in der Bauhofstraße 7 in unmittelbarer Nähe zum Berliner Dom hat. 

1941 – 42 arbeitet Hugo Distler an einem großen Oratorium «Die Weltalter». In dieses fügt er ein Novalis-Fragment ein, das später auch auf einem Flugblatt der «Weißen Rose» abgedruckt werden wird.[1] Im September 1942 bricht er seine Arbeit an dem Oratorium ab. Im April 1942 hatte Distler die Leitung des Berliner Staats- und Domchors übernommen und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der HJ erregt, die seine kirchliche Arbeit mit den Jungen nun nach Kräften behindert.

Und nun soll eine seiner beiden maßgeblichen Biographinnen zu Worte kommen. Und zwar nicht irgendeine Biographin, sondern die Autorin Barbara Distler-Harth, die zugleich Hugo Distlers Tochter ist. «Barbara» – so hatte auch die Frau geheißen, zu der er in seiner Stuttgarter Zeit eine Beziehung hatte.

Barbara Distler-Harth schildert uns die letzten Monate des Jahres 1942 als eine dramatische Eskalation, die etwas Bewegendes in ihrer menschlichen Dramatik, aber auch etwas Erschütterndes in ihrer eigentlichen Vermeidbarkeit hat. Über weite Strecken wahrt Barbara Distler-Harth dem «Objekt» ihrer Biographie – also ihrem eigenen Vater gegenüber – eine Haltung kritischer Distanz, gegen Ende der Biographie verspürt man eine immer größere empathische Nähe – bei allerdings gleichzeitig immer noch überlegener literarischer Komposition des Textes. 

Der Abschnitt, dem wir uns zuwenden wollen, leitet ein, was im klassischen Drama die katastrophale Lösung des Konflikts ausmacht (Barbara Distler ist zum Zeitpunkt der von ihr geschilderten Ereignisse 7 Jahre alt):

«Wenn mein Vater aus Berlin mit dem Zug zurückkam, wirkte er auf mich immer wie ein rastloser und gehetzter Wanderer – immer mehr erschöpft und schließlich voller Verzweiflung: Es war die Erschöpfung eines Mannes, der einen weiten Weg zurückgelegt hat – und zugleich Angst und Verzweiflung eines durch nichts und durch niemanden mehr zu beruhigenden Kindes.»[2]

Und nun kommt es zu einer geradezu beklemmenden Symmetrie. Diese Szene, in der sie ihren Vater als das «verzweifelte Kind» beschreibt – erzählt Barbara Distler-Harth kurz darauf noch einmal – nur der Schluss der Episode enthält eine atemberaubende Variation:

«Einmal, in den letzten Oktobertagen 1942, sah Barbara[3] ihren Vater mittags weinend nach Hause zurückkehren – grau und staubig von der Bahn kommend mit seiner schweren Aktentasche, legte er sich hin auf das Sofa vor dem Esstisch und schüttelte sich wie im Fieber und zitterte und schluchzte unaufhörlich und untröstlich wie ein kleines Kind – stundenlang, durch niemand mehr zu beruhigen. Die Mutter eilte verstört hin und her, Barbara umarmte ihn und hielt ihn fest und fragte ihn, was er habe, er sah sie durch Tränen lächelnd an und konnte nicht mehr sprechen. Sie brachte ihm eine warme Decke und den Kalender aus gelbem Buntpapier, den sie für ihn gemacht hatte und den sie ihm eigentlich am ersten Advent schenken wollte. Er nahm den Kalender und konnte nicht mit Weinen aufhören, und als der erste Advent kam, lebte er schon nicht mehr.»

Das geht literarisch unter die Haut: Das «Nicht-Mehr» des Lebens ihres Vaters steht in schmerzlichem Paradox zu dem «Noch-Nicht» des Advents: «...als der erste Advent kam, lebte er schon nicht mehr.» Der Advent, der eine Zeit der freudigen Erwartung ist, der Hoffnung, ein freudiges «Noch-Nicht», steht in paradoxem Kontrast zu dem Tod ihres Vaters, zu dem traurigen «Nicht-Mehr», wo es nichts mehr zu Hoffen und zu Erwarten gibt.

Die nun kommenden Wochen entwickeln sich wie ein rasendes Fanal. Alles, was sich abgezeichnet hatte, entwickelt sich ohne Innehalten; über dem Ganzen liegt ein Schatten größter Verzweiflung, gerade weil mögliche Auswege sich immer wieder zeigen, die doch nie in Anspruch genommen werden, und weil alles auch ganz anders hätte kommen können:

«Am 14. Oktober 1942 erhielt Hugo Distler in Berlin den Befehl, sich am 22. Oktober im Wehrbereichskommando Eberswalde zur Nachmusterung einzufinden. In den Wochen davor hatte er vergeblich versucht, einen Aufschub dieser seit längerem drohenden Aufforderung zu erreichen. Der Befehl brachte Hugo Distler vollkommen aus dem Gleichgewicht; er war nicht mehr imstande, weiterzuarbeiten und fuhr in einem Zustand abgrundtiefer Angst und Verzweiflung zu seiner Familie nach Strausberg. Erst am nächsten Tag fuhr er wieder zurück nach Berlin. Von dort schrieb er seiner Frau am 15. Oktober einen verzweifelten Brief: „Meine liebe Waltraut, ich muß Dir wenigstens ein paar Worte schreiben, wo ich nicht zu Euch kommen kann, jetzt habe ich wieder vor Sorge über die neue Hiobsnachricht unsern Hochzeitstag vergessen. Entschuldige. Verzeih mir überhaupt und hab Nachsicht mit mir die nächsten Tage: du ahnst ja nicht, auf welch furchtbare Weise meine bisher so gute Verfassung gelitten hat durch die neue Wendung. Der Gedanke, von euch, von Dir und unsern Kindern getrennt werden zu können, ist für mich völlig [unerträglich], schon der Gedanke macht mich verrückt. Wie glücklich wußte ich mich gestern Abend, heute Nacht bei Euch, zuhause. Hätte die Nacht doch nie ein Ende genommen.» Und nun schreibt Hugo Distler einen Satz, der sich wie ein Lebensmotto ausnimmt: «Weißt Du, in mir hockt dauernd jene nicht zu beschreibende Einsamkeit, ein Gefühl, von allem und jedem getrennt zu sein.“»

Hilferufe und Hoffnungen folgen einander von nun an in dichtem Wechsel. Am 16. Oktober 1942 erhält Hugo Distler Informationen, die ihm Hoffnung über eine erneute Zurückstellung vom Militärdienst machen. Doch diese Hoffnung auf eine hilfreiche «„Querverbindung“ zwischen Kirche und Militär erwies sich schon wenige Tage später als Illusion ...» 

«Am 22. Oktober mußte er zur Nachmusterung erscheinen, was bedeutete, daß er am 3. November 1942 zum Kriegsdienst eingezogen werden würde.» Und von diesem Augenblick nimmt Distler sich gleichsam nicht mehr selbst objektiv wahr; umso «dichter» wird er von außen wahrgenommen: Die Zitate, die wir hier hören wollen, fügen sich, obwohl es sich um Bruchstücke handelt, wie Tagebucheinträge zu einem beklemmenden Ganzen: 

«Waltraut Distler berichtete, sie habe die letzten Tage vor Hugo Distlers Tod große Angst um ihn gehabt, doch habe sie wegen der Kinder, die alle drei Keuchhusten hatten, nicht nach Berlin fahren und ihm das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins nehmen können, das ihn von da an offenbar immer ausschließlicher beherrschte.»

«Hugo Distler bat Anna und Ruth Dittrich[4] in diesen letzten Oktobertagen, aus Leipzig nach Strausberg zu kommen, was sie auch umgehend taten. Am frühen Morgen des 1. November trat er an das Bett seiner noch schlafenden Frau, weckte sie vorsichtig und verabschiedete sich von ihr in einer Weise, wie er es immer tat, bevor er nach Berlin fuhr. Noch nicht ganz aufgewacht, habe sie – wie ihr später bewusst geworden sei – flüchtig den Eindruck gehabt, dass er mit tränenerstickter Stimme gesprochen habe.»

«Hugo Distler fuhr mit Anna und Ruth Dittrich nach Berlin zum Dom, wo er den Sonntagsgottesdienst musikalisch zu begleiten hatte. Vor dem Betreten der Kirche verabschiedete er sich von ihnen auf der Treppe des Doms und bat sie, nach der sonntäglichen Feier nicht auf ihn zu warten, da er noch etwas zu erledigen habe. Nach dem Gottesdienst verließ Hugo Distler den Dom allein und ging, die Spreebrücke überquerend, in seine nahegelegene Wohnung in der Bauhofstraße 7.»

«Waltraut Distler erzählt, Anna und Ruth Dittrich seien mittags nach Strausberg zurückgekommen und hätten ihr ausgerichtet, dass Hugo erst später kommen würde. Sie warteten also mehrere Stunden auf ihn, aber: „er kam und kam nicht“. Am späten Nachmittag schließlich seien sie – Waltraut und Ruth –, immer sehr beunruhigt über Hugos langes Ausbleiben, nach Berlin gefahren. Dort habe Waltraut Distler Ursula Ebbecke, eine Schülerin Hugo Distlers, telefonisch erreicht, die einen Schlüssel zur Wohnung in der Bauhofstraße hatte. Schließlich habe Waltraut Distler, begleitet von Ruth Dittrich und Ursula Ebbecke, die Wohnungstür aufgeschlossen, habe Gasgeruch wahrgenommen, sei in die Küche gelaufen und habe Hugo Distler im Straßenanzug in sich zusammengesunken unter dem Fenster gefunden, ein kleines Foto seiner Familie zusammengepresst in der Hand. Offenbar hatte er in letzter Sekunde noch versucht, das Fenster zu öffnen, jedoch keine Kraft mehr dazu gehabt. Waltraut sei erst hinausgestürzt ins Treppenhaus, habe sich auf eine Stufe gesetzt und „das einzige Mal in ihrem Leben“ laut geschrien. Dann sei sie zurück in die Küche gestürzt und habe das Fenster aufgerissen. Offenbar hatte es Hugo Distler noch geschafft, den Gasherd, den er aufgedreht hatte, wieder abzustellen, bevor er sich ans Fenster schleppte. Auf dem Tisch lag ein Abschiedsbrief, in unregelmäßiger, verwischter Schrift geschrieben, in dem Hugo Distler seine Frau um Verzeihung bat für seinen Schritt und derer gedachte, die ihm bis zuletzt nahegestanden waren: Familie Dittrich, die Lübecker Großmutter, Alfred und Hilde Kreuz – „und wieder meine Waltraut, meine Kinder“. ... „Laß die Kinder gut von mir denken: es kommt die Zeit, und sie ist nicht fern, wo auch die meinen letzten Schritt verstehen, die es heute nicht tun. Meine lieben, lieben Kinder. Ach, wenn Du wüßtest, was an Schmerzen in mir umgeht.“»

«Ein Arzt war noch am Abend des 1. November 1942 an den Unglücksort gekommen, ebenso die Polizei. Sie nahm den Abschiedsbrief Hugo Distlers an seine Frau in Gewahrsam bis zur endgültigen Klärung der Umstände seines Todes.»

«Am nächsten Tag, dem 2. November 1942, traf in der Bauhofstrasse 7 die Mitteilung des OKW[5] ein, dass Hugo Distler noch einmal vom Wehrdienst zurückgestellt worden war.»

«Hugo Distler wurde am 5. November 1942 auf dem Stahnsdorfer Friedhof beigesetzt.»

«Am 15. November 1942 schrieb Pfarrer Dietrich Bonhoeffer an Waltraut Distler: „Sehr verehrte gnädige Frau! Sie kennen mich nicht, und ich habe auch Ihren Mann leider nicht gekannt, aber ich habe seine Musik geliebt, und ich habe von seinem Sterben gehört, und so möchte ich Ihnen gerade als einer der vielen Unbekannten schreiben, die am Leben und Sterben Ihres Mannes und nun an Ihrem Schmerz tiefen Anteil nehmen. Vorgestern hörte ich die Musikalischen Exequien, die Ihr Mann selbst hatte aufführen wollen und die nun seinen Tod beklagten und alle die um ihn Betrübten trösteten. Als der Chor von der Ruhe der Toten von ihrer Arbeit sang und vom Frieden der Gerechten, da war es wie eine Bitte der Lebenden für den Toten und wie ein Segen des Toten für die Lebenden, der alle Selbstanklagen zum Schweigen bringt und den Sinn auf das Letzte ausrichtet. Wer um das Lebenswerk und den Tod Ihres Mannes weiß, der wird bei seinen Gedanken über Gegenwart und Zukunft nicht mehr daran vorbeikommen. Der Gedanke an den Frieden und die Ruhe, die Ihr Mann sich durch so viel Dunkelheit hindurch erobert hat und wohl nur noch so erobern konnte, möge unsere Herzen festigen und uns dazu auffordern, den Menschen um uns herum schon auf dieser Erde zu dem Frieden und der Ruhe zu helfen, die im Kreuz und in der Heiligen Schrift allein zu finden sind. In ehrerbietiger Teilnahme grüßt Sie Ihr sehr ergebener Dietrich Bonhoeffer“»

Das alles ist bedrückend zu lesen, und das Vergebliche in Distlers Tat kommt besonders jäh zum Ausdruck, indem am Tag nach seinem Tod die Rettung kommt, die ihn nicht mehr retten kann.

Dennoch gibt es auch in diesem Dunkel einen Lichtblick. Der Brief Dietrich Bonhoeffers ist ein solcher. Gerade indem er nicht Stärke oder Glaubenskraft beschwört, sondern Mitgefühl und Verständnis zeigt – «wohl nur noch so erobern konnte» – stellt sich der Theologe an die Seite des Musikers und teilt gleichsam dessen Leiden: «... ich habe seine Musik geliebt».

II. Tod

Zugleich sind wir damit mitten im Thema des Todes; und was sich geradezu aufdrängt, ist, vor diesem Horizont die Motette Totentanz op. 12, 2 von Hugo Distler näher in den Blick zu nehmen. Dabei wird deutlich, wie verletzlich nicht nur Hugo Distler selbst ist, sondern in gewisser Weise auch seine Musik: Die Melodielinien in seiner Musik führen überwiegend abwärts; einen festen Tonalitätsbezug gibt es kaum, auch keinen festen Takt; alles ist irgendwie schwebend – geradezu unsicher. Und zwei Textschichten gibt es, die in einem Dialog miteinander stehen: Da sind auf der einen Seite die kurzen Epigramme des Mystikers Angelus Silesius (Johannes Scheffler, 1624 – 1677) aus der Epigrammsammlung «Der Cherubinische Wandersmann» (1675). Das ist eine Sprache und Symbolik voller Gegensätze und Paradoxe, etwa: «Laß alles, was du hast, auf daß du alles nehmst. / Verschmäh die Welt, daß du sie tausendfach bekömmst. / Im Himmel ist der Tag, im Abgrund ist die Nacht. / Hier ist die Dämmerung: Wohl dem, der‘s recht betracht.» (Erster Spruch). Oder: «Das überlichte Licht schaut man in diesem Leben / nicht anders, als wenn man schier ins Dunkle sich begeben.» Ihnen gegenüber stehen Dialogtexte des Distler-Zeitgenossen Johannes Klöcking (1883 – 1951), der die Spruchverse des berühmten Totentanzgemäldes aus der Lübecker Marienkirche in eine moderne Sprache übersetzt.

Text und Bild des Lübecker Totentanzes – und dann eben die Musik Hugo Distlers – zeigen sich als eine nie abreißende Kette. Der Tod eröffnet eine Wechselrede mit denjenigen, die er zum Tanz auffordert, und er beschließt diese Rede auch; er hat, im wahrsten Sinne des Wortes, das erste und das letzte Wort. Der Totentanz bei Hugo Distler bewegt sich also gleichsam in einer Kreisbewegung fort, wie ein Rad, das mithilfe einer Drehung um seine eigene Achse – wie ein Planet – eine Fortbewegung im Raum und in der Zeit vollzieht: Zuerst hören wir die Aufforderung des Todes, dann erklingt ein Gedicht aus dem Cherubinischen Wandersmann, dann erfolgt der Widerspruch der Figur, die gerade aufgefordert wurde, dann die erneute Gegenrede des Todes, die wiederum mündet in die Aufforderung einer neuen Figur – und darauf wieder ein Epigramm aus dem Cherubinischen Wandersmann.

III. Ruhe und Frieden

All die Gegensätze und Polaritäten werden genau in der Mitte der Totentanzmotette für einmal in einer Art Synthese «aufgehoben»: Genau im Zentrum der Motette kommt diese – Spannung für einen Augenblick zur Ruhe. Und dies geschieht dort, wo der Text lautet: «Wo du willst ew‘ge Ruh und ew‘gen Frieden finden.»  

«Wo du willst ew‘ge Ruh und ew‘gen Frieden finden.» Diese Worte hat Hugo Distler in einer Form vertont, die er sonst nirgendwo im Totentanz verwendet: In Gestalt eines Chorals.

Und mit der Form des Chorals hat es seine ganz eigenartige Bewandtnis: In den Passionen Johann Sebastian Bachs etwa erfüllt der Choral stets die Funktion der «Aneignung des Historischen durch das Individuum». In Bachs Matthäuspassion etwa singt die Jesus-Rolle an einer Stelle: «Einer unter euch wird mich verraten», worauf der polyphone Chor der Jünger fragt: «Herr bin ich’s?» und der Choral antwortet: «Ich bin‘s!»[6] Im Choral wird also das Drama der Passion unterbrochen, und die hörende Gemeinde ist es, die sich mit dem vorgetragenen Geschehen identifiziert: «Ich bin‘s!» Bei Bach klinkt sich die Gemeinde also in der Verratsszene in das Geschehen ein und sagt: «Wir selbst sind es, die Jesus verraten!»

Wenn Hugo Distler also «Wo du willst ew‘ge Ruh und ew‘gen Frieden finden» in Gestalt eines Chorals vorträgt, dann sagt er damit: «Hier geht es nicht um das Prinzip der Ruhe an sich – hier geht es um meine eigene Sehnsucht nach Ruhe». Und dies geschieht eben nicht irgendwo innerhalb der Totentanz-Motette, sondern genau in ihrem Zentrum, im 7. von 14 Sprüchen.[7] Und der Choral «Wo du willst ew‘ge Ruh und ew‘gen Frieden finden» steht nicht nur an siebter Stelle in der Motette, sondern er hat auch genau 7 Takte! Es geht Distler, so scheint es, nicht bloß um ein zeitweiliges Ausruhen ...  

IV. Schnittpunkt: Hugo Distler und Dietrich Bonhoeffer

Das Motiv der Sehnsucht nach Ruhe – in der Redefigur des Hendiadyoin als «Ruhe und Frieden» – zieht sich als eines der am innigsten betonten Motive durch den Totentanz‘ op. 12, 2 wie ein roter Faden, während sich durch die Biographie Hugo Distlers die Motive der Unruhe und der Angst gewissermaßen als zwei Seiten derselben Medaille ziehen: Ruhe und Frieden gegenüber Unruhe und Angst – der Totentanz op. 12. 2 erweist sich als umgekehrter, paradoxer Spiegel des Lebens des Komponisten. 

Einen geheimnisvollen Bezugspunkt im Schnittpunkt zwischen Leben und Werk stellt der oben zitierte Kondolenzbrief des zwei Jahre vor Hugo Distler geborenen Dietrich Bonhoeffers an Hugo Distlers Witwe, Waltraut Distler, dar. Ohne dass Dietrich Bonhoeffer eigentlich «wissen» kann, welche Rolle der Widerstreit von Unruhe und Ruhe im Leben und im Totentanz Distlers spielen, bündelt der Kondolenzbrief beides zusammen in die Aussage, Hugo Distler habe sich die ersehnte Ruhe und den ersehnten Frieden nur so – durch seinen Freitod – erringen können: «Der Gedanke an den Frieden und die Ruhe, die Ihr Mann sich durch so viel Dunkelheit hindurch erobert hat und wohl nur noch so erobern konnte ...» Zugleich überhöht Dietrich Bonhoeffer in seiner Formulierung das «Ruhe-und-Frieden-Motiv» durch die Vorstellung des Lichts, und zwar nicht, indem bei ihm der Begriff des Lichts selbst fällt, sondern indem er das «Ruhe-und-Frieden-Motiv» in Antithese setzt zum Leben Distlers, das, in den Worten Bonhoeffers, wesentlich von «Dunkelheit» geprägt gewesen sei, mit anderen Worten, dessen Lebensglück permanent durch die Erfahrung innerer und äußerer existentieller Bedrängnis unterminiert wurde. Umso mehr streicht der Text des Totentanz‘ op. 12, 2 die Begrifflichkeit des Lichts, sogar in der Hyperbel des «überlichten Lichts» (Neunter Spruch), heraus. Der Totentanz führt sozusagen die Metapher, die der Bonhoefferbrief andeutet, zurück auf seine Realität: Im Werk selbst gelangt Distler – sozusagen – zum wirklichen Licht, das alle metaphorische Rede hinter sich lässt und sich als glückseligmachende Wirklichkeit erweist.

Der Brief Dietrich Bonhoeffers ist mithin, gegenüber Leben und Werk Hugo Distlers, ein tertium comparationis, das nicht auf dem Wege logischen Schließens, sondern auf dem Wege der Imagination gefunden wird. Das ist erkenntnistheoretisch bemerkenswert; der Brief Bonhoeffers beginnt nicht mit syllogistischen Konklusionen, sondern dem Blick auf bestimmte Kunstwerke: «Vorgestern hörte ich die Musikalischen Exequien, die Ihr Mann selbst hatte aufführen wollen.» Auf intuitivem Wege beobachtet Dietrich Bonhoeffer, dass die Frage von «Ruhe und Frieden» einen entscheidenden Schlüssel für das Verständnis des Lebens und Sterbens Hugo Distlers darstellt. Und wir beobachten zunächst, dass auch im Totentanz die Frage von «Ruhe und Frieden» zentral ist, und dann erkennen wir – durch den Bonhoeffer-Brief als Hermeneutischer Linse – dass der Totentanz op. 12, 2 als Kunstwerk etwas Entscheidendes über das Leben seines Komponisten mitteilt. 

Und zwar geschieht dieses Mitteilen auf eine bemerkenswerte Art und Weise: Es ist eine Mitteilung, die sich offenbart, indem sie sich verbirgt! 

Was ist damit gemeint? Im Totentanz wird alles Leiden – alles biographische, individuelle, subjektive Leiden – in die ultimative Form des Leidens – den Tod – gehüllt und damit zugleich, ohne seine Subjektivität zu verlieren, objektiviert. Wir haben es also mit einer doppelten Rede über Leiden zu tun: Mit einer Form der Rede, die das Leiden gleichzeitig offenbart und verbirgt, indem sie alles Leiden in der Rede vom Tod verhüllt: In der Rede vom Tod ultimativer Form des Leidens und als extremster Form der Verletzlichkeit. Und mit einer anderen Form der Rede, die vom Gegenteil des Leidens spricht: Von der Sehnsucht nach «Ruhe und Frieden und Licht»; indem diese Sehnsucht zugleich ein Licht wirft auf die Sphäre, der man zu entweichen sucht. Dem Leben, das für Hugo Distler nicht mehr zu ertragen scheint, steht gegenüber die Aussicht auf ein «überlichtes Licht» und auf eine Ruhe, die ausgerechnet im Siebten Spruch durch einen siebentaktigen «Choral» besungen und auf diese Weise vom Komponisten sich gleichsam zueigen gemacht wird. 

Der Kondolenzbrief Dietrich Bonhoeffers an Waltraut Distler stellt Leben und Sterben Hugo Distlers in einer Weise einander gegenüber, die dessen Leben und Sterben in einem geheimnisvollen Zusammenklang erklingen lassen; zugleich nimmt der Autor des Briefes selbst Anteil – «An-Teil», im tiefsten Sinne des Wortes – sowohl am Leben und Sterben des Verstorbenen als auch an Schmerz und Leiden der Hinterbliebenen; und schließlich stellt Dietrich Bonhoeffer das Leiden dieses einzelnen, individuellen Menschen in einen größeren Zusammenhang: in den Zusammenhang mit den besonderen Zeitläuften jener Jahre, aber auch in den Zusammenhang mit dem Leiden, mit Leben und Sterben Jesu Christi.

Der Brief Bonhoeffers bildet damit in der Dissertation, auf die das vorliegende «Vorwort» verweist, einen Dreh- und Angelpunkt, eine hermeneutische Linse nicht nur zu einer Annäherung an ein «Verständnis» sowohl des Lebens und Sterbens des Komponisten Hugo Distler, sondern auch und vor allem für die Frage, welche Rolle die Frage des Ausdrucks von menschlichem Leid spielt im christlichen Gottesdienst, in einer Liturgie, in der der verletzliche Mensch dem gekreuzigten Gott begegnet.

Den Text dieser Dissertation hat die Universität Paderborn freundlicherweise veröffentlicht in ihren online zugänglichen digitalen Sammlungen. Er ist zu finden unter dem Link https://digital.ub.uni-paderborn.de/doi/10.17619/UNIPB/1-1258.


Pretiosa in conspectu Domini mors sanctorum eius.
Ps 116

 

Mathias Kissel, am 116. Todestag Dietrich Bonhoeffers


Anmerkungen

[1]    «Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen und ein großes Friedensfest auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und das Völkerrecht sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren.»

[2]    Distler-Harth Barbara: Hugo Distler. Lebensweg eines Frühvollendeten, Mainz 2008, 299 (Hervorhebung der Verf.). Ein ausführlicher Nachweis der nachfolgenden Zitate findet sich im Haupttext der Dissertation.

[3]    Auffälligerweise wechselt die Autorin hier in die dritte Person.

[4]    Tante und Cousine mütterlicherseits.

[5]    Oberkommando der Wehrmacht.

[6]    Ich bin‘s, ich sollte büßen: / an Händen und an Füßen / gebunden in der Höll. / Die Geißeln und die Banden / und was Du ausgestanden, / Das hat verdienet meine Seel. (Paul Gerhardt, O Welt, sieh hier dein Leben, Strophe 5).

[7]    Die Zahl 14 spielt sowohl in der Bibel als auch bei Johann Sebastian Bach eine herausragende Rolle: DaViD, Mt 1, BACH, Kunst der Fuge etc.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/136/mk01.htm
© Mathias Kissel, 2022