Lautes Verstummen oder: Дерьмо в мозге

Splitter aus der Europäischen (Pop-)Kultur

Andreas Mertin

ESC

Der „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ ist ein Musikwettbewerb für Komponisten, Textdichter und Songwriter. Er hat im Laufe der Jahre eine bestimmte Kultfunktion erreicht und dokumentiert quasi seismographisch bestimmte Tendenzen in der Musikindustrie. Durch herausragende musikalische Qualität war er noch nie charakterisiert, selbst popkulturelles Niveau erreichte er nur selten.

Er war entweder eine Art Karrieresprungbrett oder eine neue Treibstufe für eine im Sinken begriffene Karriere. Aber er war und ist immer mit viel Tam Tam umgeben, was ihm maximale mediale Aufmerksamkeit von Europa bis Australien garantiert. Und politisch war er schon immer: identitätspolitisch, weil erkennbar Nationen aus dem gleichen Kulturraum sich bei den Abstimmungen bevorzugten; staatspolitisch, weil die Ausrichtung eines Finals auch dem jeweiligen Herrscher viel Aufmerksamkeit einbrachte; genderpolitisch, weil im Umfeld einer auf Unterhaltung zielenden kulturindustriellen Veranstaltung auch diverse Kulturen ihre Kultur pflegen konnten; symbolpolitisch, weil marginalisierte Gruppen durch die europäischen Fernsehzuschauer:innen durch besondere Gesten der Abstimmung ausgezeichnet werden konnten.

Und da der Grand Prix Eurovision de la Chanson ein Wettbewerb ist, kann man auf das Ergebnis natürlich auch Geld einsetzen. Wetten haben spieltheoretisch eine hohe Rationalität – man will ja gewinnen und nicht bloß Geld zum Fenster hinauswerfen. Man muss also alle infrage kommenden Faktoren berücksichtigen. Anfang Februar 2022 war das zunächst vor allem die Qualität der benannten Beiträge der einzelnen Nationen, ihre Originalität und das bekannte Abstimmungsverhalten der nationalen Jurys und des Fernsehpublikums.

Die Wettbüros verzeichneten damals den Beitrag der Ukraine etwa auf Platz 10 bis 13. Diejenigen, die damals schon gewettet hatten, gingen davon aus, dass dieser Beitrag nur mäßig gut sei, und von den anderen Nationen auch so bewertet werden würde.

Das änderte sich zunehmend mit der Verschärfung der Krise an der Grenze zur Ukraine. Von Tag zu Tag stieg die erwartete Platzierung des Beitrags bis er sich nach Ausbruch des Krieges auf Platz 1 festsetzte. Diejenigen, die ihr Geld beim ESC einsetzten, gingen also davon aus, dass ganz rational betrachtet nun nicht mehr über die Qualität des Liedes abgestimmt werden würde (tatsächlich waren sich die Fachjurys ja außerordentlich uneinig in der Bewertung, aber immer noch höher, als es zu erwarten gewesen wäre). Sie kalkulierten das Bedürfnis nach Symbolpolitik nun in ihre Bewertung ein und nahmen dementsprechend das faktische Endergebnis vorweg. Gewinnen konnten sie dabei wenig, denn die Gewinnquote lag bei durchschnittlich 1,29. Bis zum 11. Februar 2022 schätzten die beteiligten Wetter die Gewinnwahrscheinlichkeit auf gerade mal 3%. Dann aber wurde klar, hier geht es nicht mehr um ein Lied, sondern um ein Land, es geht um Symbolpolitik. Spiegelbildlich verlief es übrigens mit dem deutschen Beitrag, er wurde abgestraft, weil das symbolpolitische Agieren der Bundesrepublik Deutschland bzw. ihrer Repräsentanten nicht dem gewünschten Verhalten entsprach. Da half es dann auch nicht mehr, dass der Sänger einen Solidaritätsaufruf auf seine Gitarre klebte. Popkultur in der Gegenwart, das lässt sich daran einigermaßen beobachten, ist weniger konkretes Engagement in der Sache als vielmehr konkrete Symbolpolitik, negativ gesagt: eine Ideologieschleuder.

Truppenbetreuung und Kriegspropaganda

Natürlich hätte man es fast schon ahnen können, dass mit der Zeit auch in der populärkulturellen Szene Musikvideos auftauchen würden, die man als direkte Kriegspropaganda einordnen kann.

Grundsätzlich haben ja Sängerinnen und Sänger, die bei Kriegseinsätzen vor den Truppen auftreten, eine schon 100jährige Tradition. Aber in der Regel änderten sie ihre Lieder nicht, sondern spulten nur ihre Evergreens ab, um Soldaten zu motivieren, mehr oder wenig freiwillig in den Krieg und in letzter Konsequenz in den Tod zu gehen.

Das harmloseste und sinnlichste Beispiel (das mit dem Motiv des Krieges auch nur spielt) ist vermutlich Cher, die 1989 auf dem Kriegsschiff USS Missouri die Truppen in knapper Kleidung anheizt und daraus ein offizielles Musikvideo machte.[1] Man könnte Chers Performance sogar als kritisch interpretieren, insofern vor der Macht des Weiblichen sich die phallischen Kanonenrohre der Militärs senken.

Das bekannteste – freilich noch nicht durch ein Musikvideo begleitete – Ereignis war Marilyn Monroes Auftritt 1954 auf einer Veranstaltung für Soldaten der 3. US-Infanteriedivision im Rahmen des Koreakrieges. Manche Musiker wurden sogar direkt an die Front gekarrt und gerieten dabei in Lebensgefahr, bis hin zu Glenn Miller, der bei einem derartigen Einsatz ums Leben kam. Das ist die eine, fast schon traditionelle Seite der popkulturellen Unterstützung von Kriegsszenarien.[2]

Die größere Tradition in der Rockmusik, aber auch in der Pop-Musik haben freilich die Einsätze und Auftritte gegen den Krieg. Das Woodstock-Festival mit seinem Einsatz gegen den Vietnam-Krieg steht exemplarisch dafür (Country Joe & the Fish – VietNam Song), aber auch heutige Pop-Stars haben legendäre Auftritte hingelegt.

Zumindest ansatzweise versucht hat es 2003 Madonna mit ihrem Lied „American life“ und dem dazugehörigen Videoclip, der sich in der Schluss-Szene gegen das militaristische Amerika im Irak-Krieg wandte. Den Clip zog sie freilich einen Tag nach der Erstveröffentlichung wieder zurück, weil sie doch lieber für „unsere“ amerikanischen Truppen eintreten und für sie beten wollte, statt sie zu kritisieren und in der Folge viel Geld zu verlieren, weil Amerikaner unpatriotische Positionen eben nicht mögen.

Blick zurück in die Gegenwart: Pussy Riot

 

Wenn es eine Gruppe gibt, die schon früh und geradezu prophetisch auf die sich aktuell abspielenden Ereignisse hingewiesen hat, dann ist es die russische Gruppe Pussy Riot. Das Magazin für Theologie und Ästhetik ist 2013 im Kontext des ersten großen Prozesses um die Gruppe darauf eingegangen (Vgl. Verf., Pussy Riot. Zum Problem der politischen Ingebrauchnahme des Kirchenraums). Im Zentrum der Kritik stand damals die unheilige Verbindung von russischer Großmachtphantasie und orthodoxem Glauben.[3]

Ich schrieb seinerzeit:

Interessant ist, dass Pussy Riot bei ihrer Aktion die 1883 im pseudorussischen Stil erbaute, 1931 unter Stalin zerstörte und 2000 rekonstruierte Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau in … drei Funktionen wahrgenommen und in Anspruch genommen hat.

Zunächst einmal protestieren sie gegen Missbrauch der Erlöserkirche als Verkündigungsraum zugunsten des russischen Staatssystems. Und sie setzen dem – ob nun ironisch oder nicht - ihre eigene Verkündigung entgegen. Ihre Protestaktion bediente sich ja durchaus der rituellen Sprache der Kirche: Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns! Mutter Gottes, Du Jungfrau, vertreibe Putin! Vertreibe Putin, vertreibe Putin!

Zum zweiten hat Pussy Riot die Erlöserkirche als Artikulationsraum wahrgenommen und genutzt. Wenn schon der Moskauer Patriarch und die russische Staatsführung diesen Raum als Artikulationsraum nutzen, dann wollen Pussy Riot dieses Recht auch für sich in Anspruch nehmen: Kirchlicher Lobgesang für die verfaulten Führer - Kreuzzug aus schwarzen Limousinen ... Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben.

Ambivalent bleibt die Frage nach dem Repräsentationsraum – denn dieser setzt ein Leitbild voraus. Unbestritten ist, dass Putin die Erlöserkirche als politischen Repräsentationsraum nutzt. Seine öffentliche Teilnahme an diversen Gottesdiensten ist kaum seiner Frömmigkeit, sondern ideologischen Strategien geschuldet. Die russisch-orthodoxe Kirche hat die Erlöserkirche beim Wiederaufbau bewusst als religiös-nationalen Repräsentationsraum gestaltet. In wie weit haben ihn Pussy Riot selbst als Repräsentationsraum genutzt? Er war für sie eine Bühne – so viel ist klar. Die Frage ist aber, welche Ideen hier repräsentiert werden sollten: Mutter Gottes, Du Jungfrau, werde Feministin, Werde Feministin, werde Feministin? Das ist keine dem Bau kompatible Botschaft, das wissen auch Pussy Riot: Der Gürtel der Seligen Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen.

Die damals von Pussy Riot sehr dezidiert kritisierte ideologische Verklammerung von Staat und orthodoxer Kirche in Russland bildet auch heute ein zentrales Problemfeld in der Lösung des Konfliktes, denn die russische Orthodoxie stützt die Großmachtfantasien Putins massiv. Und in der Zwischenzeit hat der russische Staatsapparat sich das Instrumentarium dafür geschaffen, um noch rigider gegen abweichende kulturelle wie popkulturelle Äußerungen vorzugehen. Nicht zuletzt deshalb haben inzwischen alle Bandmitglieder Russland verlassen, schlicht um ihr Leben zu schützen.

Man muss aber auch sagen, dass Bands wie Pussy Riot mit dazu beigetragen haben, dass sich nach der Moralisierung der Popkultur seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nun auch die Politisierung der Popkultur im Sinne ihrer Ideologisierung durchgesetzt hat. Letztlich entscheidet dann der politische Standpunkt über den Wert und die Aussagekraft eines Kunstwerks. Es wird so zu einer politischen Ware, letztlich ein strategisches Kapital im Kampf der Kulturen. Man verhält sich zu einem Kunstwerk nicht aufgrund seiner künstlerischen Qualität, sondern weil man den moralischen  oder politischen Impuls teilt. Das war schon immer ein Problem der Popkultur. Übertragen auf das Verhältnis von Kunst und Kirche hieße das, ein Kunstwerk wird umso bedeutsamer, je bedeutsamer sein religiöses Sujet ist. Darüber hatte sich schon vor mehr als 1200 Jahren Karl der Große samt seinen Hoftheologen in den Libri Carolini lustig gemacht. Heute sollte so etwas niemand mit Vernunft und Verstand noch behaupten. Nicht das Sujet bestimmt die Qualität des Werkes. Aber in der Popkultur gilt das eher als Standard. Ein Rock-Song ist gut, weil er gegen den Vietnamkrieg ist, ein Pop-Song, wenn er diverse Lebensverhältnisse fördert, ein Lied von Ed Sheeran ist dann gut, wenn es die Ukraine unterstützt. Dass so geurteilt wird, zeigte schon der Blick auf den ESC und das wissen natürlich auch die Künstler:innen. Madonna hat über Jahrzehnte auf dieser Klaviatur gespielt, von Bono ganz zu schweigen.

Die Ukraine im Krieg I: Ed Sheeran – 2step ft. Antytila

„Die Sirenen unterbrachen unseren Schlaf, packte in zwei Koffern alles, was Vergangenheit war, dann los!“ – so lauten zwei Zeilen, die die ukrainische Band Antytila, deren Bandmitglieder sich schon an der Front befinden, dem neuesten Song von Ed Sheeran hinzugefügt haben und in Zusammenarbeit mit diesem als Remix veröffentlicht haben. Auch ein neues Musikvideo fügten sie dem Remix bei, welches das Schicksal der flüchtenden Familien aus der Ukraine thematisiert.

Zur ukrainischen Band Antytila findet man wenig Informationen. Der deutsche Wikipedia-Artikel vermeldet, die Bandmitglieder seien auch schon vor dem aktuellen Krieg, genauer seit 2014 Freiwillige der ukrainischen Armee gewesen, nach dem russischen Überfall seien sie dann offiziell den ukrainischen Streitkräften beigetreten. Hingewiesen wird auf das 2019 veröffentlichte Video zu dem Stück „Lego“, einem Liebesdrama, in dem der ukrainische Präsident als Schauspieler auftritt (mit dem bemerkenswert patriarchalischen Satz: „Diese Küche ist so leer ohne Dich“). Das weitere Portfolio auf Youtube ist umfassend (31 offizielle Musikvideos), zeigt aber ziemlich schwankende Qualitäten. Vieles empfinde ich als Testosteron-gesteuert („Du bist meine Braut“), manches ist eher kitschig, anderes hat aber auch ansatzweise videoästhetische Qualitäten, wenn es in der Regel aber auch fast immer hollywood-mäßig ins Happy-End umschlägt.[4] Das ist alles eher ESC-Format als gute Pop-Musik.

Im konkreten Fall hatte Ed Sheeran vor dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine in Kiew ein Video zu seinem neuesten Lied 2Step gedreht und später, nach Beginn des Krieges, bestimmt, dass die Erträge aus seinem Youtube-Kanal, die dieses Lied generierten, der Ukraine zukommen sollten (genauer, seiner Stiftung, die sich auch in der Ukraine engagiert).

Die ukrainische Gruppe Antytila meldete sich dann bei ihm bzw. seinem Management mit der Bitte, bei einem Live-Auftritt von Ed Sheeran dazugeschaltet zu werden, um ebenfalls das Lied zu performen. Das wurde zwar abgelehnt, aber so kam der Kontakt zustande, Ed Sheeran meldete sich bei der Gruppe auf Tik Tok und es kam zu einer Zusammenarbeit, bei der Antytila das Lied mit aktuellen Aspekten einer kriegsbedingten Familientrennung und der Schäden durch den Angriffskrieg ergänzten und remixten. Vom Aufbau erinnert mich das so entstandene Werk an das aufrüttelnde Video zu „Wake me up“ von Aloe Blacc, der freilich Form und Inhalt viel besser miteinander verbindet.

Im Video sehen wir verschiedene Bildebenen. Zunächst blicken wir auf einen ziemlich jungen Ballett-Tänzer, der sich in der Garderobe eines Theaters auf seinen Auftritt vorbereitet und dann erste Schritte in einen vollständig leeren Theaterraum unternimmt. Unvermittelt wird dieser Tanz überblendet in den Tanz desselben Jungen in einer ausgebombten und ausgebrannten Ruine. Die Bilder springen nun zwischen dem Tanz im Theater und dem Tanz in Ruinen hin und her.

Nach 50 Sekunden des Clips sehen wir dann den Jungen vor dem Theater tanzen, das Gebäude von Einschüssen vernarbt und in seinem Inneren vollständig zerstört. Kurze Zeit später wird ein neues Motiv eingeführt. Ein junges Mädchen, ebenfalls in Tanzkleidung probt ihre Schritte im elterlichen Haus. Aber unvermittelt müssen sie fliehen, denn das Bombardement rückt näher. An Straßensperren vorbei flüchten sie in ihrem Auto, suchen Fluchtwege, während das Mädchen noch ganz mit ihrer alten, nun untergehenden Welt verbunden ist. Eingeschoben in die Bilder dieser Fluchtsequenz sind Aufnahmen des Bandsängers in Soldatenuniform, der an einen Militärwagen gelehnt 2Step singt. Imaginär begegnen sich der junge Tänzer und die junge Tänzerin ganz am Ende des Clips. Er im Theater und sie irgendwo auf einem Feld kommen sie zu einem Moment des Innehaltens zusammen. Aber es bleibt eine Begegnung über die Distanz.

Das Faszinierende ist nun (zumindest aus meiner Perspektive des Ästhetischen), dass das ukrainische Video alle Motive zu seiner Dekonstruktion gleich mitliefert. Insofern finde ich es gut. Denn während es uns nahezubringen sucht, dass die schöne heile (Kunst- und Theater-)Welt nun durch einen grausamen Krieg zerstört wurde, war die Welt noch niemals schön, man schaute nur nicht genau hin, weil es vorher nicht der eigene Krieg, nicht das eigene Leid war. Die Kurden, an deren Leibern die vernichtende Kraft der von den Ukrainern so gefeierten Kampfdrohne Bayraktar zuvor erprobt wurde, werden die heile Welt jedenfalls ganz anders einschätzen. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Und das lässt sich auch dem Video entnehmen.

Denn es macht videoästhetisch keinen Unterschied, ob der tanzende Junge im heilen Theater, vor dem zerstörten Theater oder in den Ruinen tanzt, weil auch die Ruinen in diesem Moment nur Staffage und nicht Dokument und schon gar nicht Realität sind. Sie sind ‚nur‘ Bilder, die zur Inszenierung des Clips eingesetzt wurden, muten uns aber zu, als Abbilder der Wirklichkeit wahrgenommen zu werden. Das sind sie einerseits (vermutlich), aber sie sind es nicht wirklich.

„Die Hauptkategorie, das Hauptverhängnis, unseres heutigen Daseins heißt: Bild“. Eine Flut aus „Photos, Plakaten, Fernsehbildern oder Filmen“ überdeckt „pausenlos“ die ‚reale‘ Welt schreibt Günther Anders 1980 in seinem berühmten Buch über „Die Antiquiertheit des Menschen“.[5]

Bazon Brock hat das 1972, also vor fünfzig Jahren in einem faszinierenden Text über Bilder und ihren Wirklichkeitserweis so verdeutlicht:

„Die Werbung für ein Waschmittel benutzt Bilder als Beweisstücke für die reale Existenz und Wirkungsweise eines abgebildeten Waschmittels. Die Werbefotografie will in diesem Fall den Wirklichkeitsbeweis durch zwei nebeneinander gestellte Bilder antreten. Das Bild suggeriert, dass es ein weißwaschendes Waschmittel geben muss, wenn man beim Vergleich zweier Bilder feststellt, dass das Weiß auf dem einen heller ist als auf dem anderen. In einem historischen Bilderkrieg ging es um den Gottesbeweis durch den Beweis der Wirklichkeit des Bildes, im heutigen Bilderkrieg geht es um den Weltbeweis durch die Rechtfertigung des Wirklichkeitsanspruchs der Bilder.“[6]

Heute sollten wir daran gewöhnt sein, keinem Bild einfach zu vertrauen, nur weil es auf dem Monitor auftaucht – und wenn es auch von einer befreundeten Seite vertrieben wird. Aber im Alltag reagieren wir de facto anders. Wir sehen tausende künstlich produzierte Bilder durch zahlreiche dazwischen geschaltete Kanäle und halten sie doch für Realität. Und auch bei den Bildern der Kunst (im allgemeinen Sinn), die doch konstitutiv Werke des Scheins sind, gehen wir davon aus, dass sie die Welt so darstellen (sollen), wie sie wirklich ist. Kunst soll die Welt verdoppeln und keine eigene Welt aufbauen.

„Die Forderung, die Welt so darzustellen, wie sie ist, geht an der grundlegenden Bedingung künstlerischer Vergegenständlichung vorbei. Realistisch zu malen, heißt aber nicht darzustellen, was man sieht, sondern eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Dargestellten und den Darstellungsformen zu machen bzw. zu unterscheiden zwischen den Wahrnehmungsformen und dem Wahrgenommenen. Das Realismus-Problem liegt darin, dass nur innerhalb bestimmter Wahrnehmungsformen ein Wahrgenommenes erscheint, dass nur im Bild von einem Abgebildeten gesprochen werden kann. Erst die Wahrnehmungsformen, die Bilder, lassen die Welt als etwas außerhalb der Wahrnehmungsformen und Bilder Existierendes erkennbar werden. Auch in dem heutigen Bilderkrieg wird also um den Wirklichkeitsanspruch des Bildes gegenüber dem Abgebildeten gekämpft …[7]

Darum geht es und diesen Bilderkrieg müssen wir uns bewusst machen, wenn wir auf Bilder (und auf Kunstwerke) treffen, die behaupten, Wirklichkeit abzubilden. Oder wenn Kunstwerke oder kulturelle Artefakte der Forderung unterworfen werden, die Wirklichkeit angemessen oder korrekt abzubilden.

Diese ästhetische Frage darf m.E. nicht vernachlässigt werden, indem man sie „im Interesse der Sache“ politischen oder ethischen Vorgaben unterwirft. Sie muss von der ethischen Frage unseres Verhaltens zu diesem Angriffskrieg getrennt werden. Der Protest der Ukrainer bleibt berechtigt und ihre Notwehr unterstützenswert, das Leid der Überfallenen und Ausgebombten muss beklagt werden und gerechte Verhältnisse angestrebt werden. Aber wer meint, vor dem Ukraine-Krieg schien die Welt noch in Ordnung, dem kann man nur mit Adorno antworten: „Mir nicht“. Die ethischen Standards, um die im Augenblick zwischen angeblichen Pazifisten und angeblichen Bellizisten kontrovers diskutiert wird, sind nicht Thema dieses Textes.

Was aber nicht sein kann und doch geschieht, ist, dass unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine (merkwürdigerweise aber nicht unter dem Eindruck der Kriege in Syrien, Libyen oder Jemen oder gegen die Kurden im Nordirak) alle Kultur nur noch unter nationalistischen oder scheinbar moralischen Aspekten betrachtet und konfiguriert werden kann. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir Propagandakunst goutieren (selbstverständlich nur, wenn sie von der richtigen Seite kommt), ist für mich erschreckend.

Die Ukraine im Krieg II: Highway to hell

Der Umschlag dieser moralistischen Intervention in die zynische Aggression offenbart sich da, wo die Musik und die Texte der popkulturellen Tradition missbraucht werden (und offenbar auch missbraucht werden können), um schlicht die Tötung der Soldaten des Gegners zu untermalen und zu feiern. Am 17. März 2022 veröffentlich der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch auf Facebook und später auf dem ukrainischen Propagandasender ukrinform ein Drohnenvideo, auf dem die Zerstörung eines russischen Kommandopostens in der Ukraine zu sehen sein soll. Unterlegt ist dieses Drohnenvideo mit einer Musik der australischen Rockband AC/DC: Highway to hell. Arestowytsch schreibt dazu, die ukrainische Artillerie habe einen „Highway to hell“ für die russische Armee organisiert. [In Wirklichkeit haben sie das Leben vorwiegend junger russischer Soldaten beendet.] Das veröffentlichte Video ist 3:28 Minuten lang, kostet also die Länge der Musik von AC/DC bewusst aus. Nun beschreibt „Highway to hell“ nicht die Vernichtung irgendwelcher Menschen oder ihren Aufenthalt in einem der Kreise der Hölle, sondern die besungene ‚Hölle‘ ist eine Metapher der Ödnis der langen Busfahrten durch Australien während einer Tournee. Aber Versatzstücke und vor allem Liedtitel werden gerne genommen, um liedfremde Botschaften zu transportieren (so funktioniert das in der Werbung ja auch, wenn sie aktuelle Hits unterlegen). So nutzt der Präsidentenberater Rockmusik von AC/DC, um die Entschiedenheit der Ukrainer zu betonen. [Ähnliches hatten die Amerikaner in Vietnam gemacht.] Die Wahl der Musikstile ist dabei kontingent. Kultur wird hier gnadenlos instrumentalisiert.

Es ist ein Zivilisationsbruch, denn wir blicken hier auf das reale Sterben von Menschen, deren Tod mit Unterhaltungsmusik unterlegt und gefeiert wird. Zuletzt habe ich Derartiges aus den Bilderfabriken der Ideologen der Terrorgruppe IS gesehen.

Die Ukraine im Krieg III: Bayraktar

Eine etwas andere, aber doch verwandte Funktion hat das in der Ukraine fast populärkulturelle Lied „Bayraktar“. Es ist umstandslos der Kriegspropaganda zuzuordnen und wurde auch so konzipiert. Schon vor dem Krieg versuchte das ukrainische Verteidigungsministerium aus der türkischen Kampfdrohne Bayraktar einen popkulturellen Mythos zu machen, wie die Wikipedia herausarbeitet (s. Abschnitt Nutzung für die Propaganda):

Nach Einschätzung von Militärexperten dienten die Bayraktar-TB2-Drohnen dem ukrainischen Militär nicht nur als nützliches Instrument der Zermürbung mit möglicherweise anhaltender Wirkung auf die Kriegsführung, sondern waren durch die von ihnen aufgezeichneten hochauflösenden Videoaufnahmen „vor allem nützlich für die Propaganda-Seite“, weil diese es dem ukrainischen Militär ermöglichten, die Öffentlichkeit für den Luftkrieg aus ukrainischer Perspektive zu begeistern. Die Bayraktar-TB2-Drohnen erlangten in der Ukraine große Popularität und Symbolcharakter für den ukrainischen Widerstand gegen den Angriff Russlands. In der Hoffnung die nationale Moral zu stärken, hatte die Führung der Ukraine schon vor Kriegsbeginn einen Medienhype um die Bayraktar TB2 gefördert, bei dem ukrainische Nachrichtensendungen überschwänglich erläutert hatten, warum der Einsatz der Drohnen aus der Türkei durch die Ukraine dazu beitragen werde, das Kriegsgeschick im Falle einer Invasion durch Russland zuungunsten Russlands zu verschieben … So wurden die Bayraktar-TB2-Drohnen auch in den sozialen Medien zelebriert und zu wichtigen Instrumenten des Informationskriegs der Ukraine … Während des russischen Überfalls wurde auf der offiziellen Facebook-Seite der ukrainischen Armee das Lied Bayraktar geteilt, das die Bayraktar-TB-Kampfdrohne rühmt. Es wurde über das Videoportal YouTube und über soziale Netzwerke weiterverbreitet und im ukrainischen Radio gespielt.“

Von dem Lied, dessen Melodie eher der Klingeltonindustrie entliehen wurde, gibt es inzwischen auch internationale Versionen, die sich gezielt etwa an das englischsprachige Publikum wenden und dessen (finanzielle) Unterstützung einfordern.

The Invaders attacked us, down in Ukraine
In fresh uniforms and in tanks they all came
But their shiny new toys are now blazing, on fire
BAYRAKTAR! BAYRAKTAR!

The fuel tanker drivers sat up in the trees
They eat cabbage soup and sip Russian tea
But the pot on the stive just melted like tar
BAYRAKTAR! BAYRAKTAR!

A great flock of sheep strayed West from the East
They bleated and baa-ed, they disrupted our peace
A good Shepherd took them to the abattoir[8]                     
BAYRAKTAR! BAYRAKTAR!

They gave us a chance to surrender or die
With powerful weapons and bombs from the sky
But the only thing that we really require
BAYRAKTAR! BAYRAKTAR!

They thought that they’d conquer us all in a tick
But then we fought back with cocktail and brick
Now they’re nothing but ghosts who won’t get very far[9]
BAYRAKTAR! BAYRAKTAR!

The Russian police have opened a docket
But all that they found was the end of a rocket
In tears the Inspector is phoning his Ma
BAYRAKTAR! BAYRAKTAR!

The Kremlin they thought they could censor TV
Bur fooling their people was not so easy
And Putin has learned he’s not really a Czar
___  ___

Es ist ganz interessant, welche Details in der Übersetzung vom Ukrainischen ins Englische unterschlagen oder variiert werden. Etwa die Bezeichnung der Russen als Orks – man denkt dabei an den Herrn der Ringe, allgemein bezeichnet es seit der Antike böse Wesen der Unterwelt. Oder wenn die russischen Schafe ins Schlachthaus verbracht werden, dann spricht man lieber vom abattoir – auch wenn es dasselbe ist.

Man kann auch überlegen, wer eigentlich die Zielgruppe des Liedes ist: ganz sicher nicht die Russen, die man verhöhnt und als Orks und Bandits bezeichnet, sondern die eigene Bevölkerung, deren „nationale Moral“ gestärkt werden soll.

Die Wahl des Musikstils und die Simplizität der Reime deutet darauf, dass man möglichst breite Kreise erreichen und Reflexionen gerade vermeiden will. Das wird auch durch andere Maßnahmen im Kontext dieses Liedes und seines Sujets deutlich:

Der Stellvertretende Ministerpräsident der Ukraine und Minister für digitale Transformation, Mychajlo Fedorow, gab auf Telegram bekannt, dass für Bürger auf dem staatlichen Webportal Dija (Дія) und in der gleichnamigen Regierungs-App die Option eingerichtet wurde, das Online-Spiel eBayraktar (єБайрактар) zu spielen, in dem der Spieler als virtueller Bayraktar-Operator für den Abschuss eines jeden russischen Panzers (jeweils mit einem „Z“ markiert) Punkte erhält mit dem Ziel die russischen Panzer daran zu hindern, ukrainische Kontrollpunkte zu passieren und einen guten Platz in einer nationalen Highscore-Tabelle zu erreichen. Das Ministerium für digitale Transformation sah das Spiel als Möglichkeit an, die Moral der Bürger zu stärken. Fedorov und dem Ministerium für digitale Transformation zufolge wurde das Spiel mit der „legendären Drohne“ auf Wunsch von Bürgern hin entwickelt und sollte der Bevölkerung als „digitales Beruhigungsmittel“ dienen.

Abrufbar ist dieses Spiel ausgerechnet über jene App, die die Covid-Zertifikate dokumentiert, wie eine Nachrichtenagentur meldet: Ukraine added "eBayraktar" game to the app used for digital ID and COVID vaccination certificates.

Die Ukraine im Krieg IV: Heiliger Krieg

In der letzten Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik habe ich mich ja darüber echauffiert, dass der russische Patriarch Kyrill I. eine Ikone dem Leiter des russischen Angriffskrieges übergab, damit die russischen Soldaten erfolgreich ihre „Spezialoperation“ abschließen können.

Nun ist es nicht so, als ob die Unterstützer der ukrainischen Sei­te in Sachen Militarisierung des Religiösen bzw. der Heiligung der Waffen zimperlicher wären. Eine kanadische Unterstützerseite der ukrainischen Seite des Krieges hat sich gleich eine Fülle von Heiligen ausgedacht, die nun – vermutlich, weil Gott nicht ausreichend hilft – mittels entsprechender Militaria in den Krieg ziehen. Und da treffen wir in der Rubrik „Meet the Saint“ den Hl. Javelin, den Hl. Patron, den Hl. Piorun, den Hl. Neptune, die Hl. Panzerfaust, den Hl. Carl Gustaf, und die Hl. NLaw, Olha und Stinger.

Auch das ist auf der Ebene von Computergames vielleicht Normalität geworden, wo ja auch Schulmassaker mit Avataren nachgestellt werden, aber es sollte doch darauf beschränkt werden. Nun aber fördern wir die Ukraine, indem wir die Waffen heiligen, genauer, gleich die Waffen zu heiligen Waffen erklären.

CHRIST & WELT feierte jüngst das Foto von einer jungen Frau, die in der Metrostation Zuflucht gesucht hatte und ihr Neugeborenes stillte, als Bild der Kiewer Madonna, eine maria lactans, unter deren Schutzmantel man sich flüchten könne. Und das alles unter der schrecklichen Überschrift: „Wenn der Krieg die Bilder heiligt“.[10] Eine ukrainische Designerin hatte aus dieser Fotovorlage ein elendig verkitschtes Heiligenbild im Stil einer Pseudo-Ikone gemacht, das dann von der Zeitschrift gelobt wurde.

Ich vermute, wenn der Krieg erst einmal die Bilder heiligt, dann ist der nächste Schritt, dass die Bilder den Krieg heiligen (so weit sind wir eigentlich schon) und dann sind wir nicht mehr fern vom „Heiligen Krieg“, vom Dschihad, nur diesmal unter anderen religiösen Vorzeichen: ukrainische Orthodoxie gegen russische Orthodoxie.

Russische Kriegspropaganda – Leningrad oder: Дерьмо в мозге

Ein überaus verstörendes Beispiel der popkulturell orientierten russischen Kriegspropaganda ist der im März 2022 erschienene Videoclip „Kein Eintritt für Russen und Hunde“ der russischen Trashgruppe Leningrad. Diese Gruppe war immer schon für etwas schräge, neben der Spur liegende Stücke und Videos bekannt, die durchaus auch schon einmal Putin aufs Korn nahmen. In der Regel aber war es durch und durch russischer Trash, sexistisch, alkoholreich, zynisch und ironisch, aber immer auch mit bedenkenswerten Seitenaspekten.

Im Video zu Kolshik, das durchaus auch auf Filmfestspielen lief, geht es etwa bei aller Absurdität des Geschehens um Kontingenz, darum, warum eine harmlose Seifenblase zufällig, dann aber in fast unausweichlich erscheinender Konsequenz eine Katastrophe auslösen kann. Der Videoclip zeigt die Ereignisse von hinten nach vorne, also revers, so dass man zuerst die Katastrophe, ihren Auslöser aber erst am Ende erkennt (hier eine umgedrehte Version im logischen Zeitverlauf).

Das aktuelle Stück „Kein Eintritt für Russen und Hunde“ könnte dagegen auch eine direkte Auftragsarbeit des russischen Propagandaministeriums sein. Es ist eine geradezu klassische Täter-Opfer-Umkehr, die hier vor Augen geführt wird. Die simple These lautet: in den westlichen Gesellschaften werde ein Genozid an Russen vorbereitet und diese würden wie die Juden in Berlin im Jahr 1940 behandelt.

Das ist nicht nur geschichtsignorant bis ins letzte, es zeugt auch von einer geradezu stupenden Unkenntnis der Verfolgungsgeschichte der Juden in Deutschland und in Berlin. Während in Deutschland nach 1933 die Emigration der bedrängten Juden einsetzte, verzeichnen wir für Russen in den letzten Jahren eine verstärkte Immigration. Gab es 2021 etwa 26.000 Russen allein in Berlin, so waren es ein Jahr zuvor 1000 weniger. Die Judensterne, auf die die Statisten im Hintergrund des Videos anspielen, gab es dagegen 1940 in Deutschland noch gar nicht, sie wurden 1941 eingeführt. Aber es ist klar, darum geht es dem Sänger von Leningrad auch nicht. Er findet den Nazismus dort, wo er ihn haben möchte.

Er nennt ein Beispiel: Beim Arzt hängt jetzt ein Schild ‚Kein Eintritt für Russen und Hunde‘. Das gibt es tatsächlich, nicht beim Arzt, nicht als Schild, sondern als Kombination zweier Aufkleber, und zwar bei einem Einkaufsmarkt, nicht in Deutschland oder einem anderen EU-Staat, sondern in der süd-westlichen Ukraine (Czortków, Obwód tarnopolski, Ukraina). Und wenn man es wörtlich nimmt, wird dort auch nicht Russen der Eintritt verwehrt, sondern russischen Schweinen. Aufgenommen wurde das Bild nicht im Kontext des jüngsten Ukraine-Konflikts, sondern bereits am 12. Juni 2017. In welchem konkreten Kontext es dort hing und wie lange, lässt sich nicht feststellen.

Ideologisch geht es darum, alle, die Russland kritisch gegenüberstehen, als Nazis zu deklarieren, die eigentlich Russland vernichten wollen. Das ist Paranoia. De facto dient es dazu, den von ihrem Führer ja expressis verbis angekündigten Völkermord an den Ukrainern projektiv dem Gegner zu unterschieben. Auch dazu kann Popkultur missbraucht werden.

Zum Schluss: 's ist Krieg!

Der Krieg, die Menschenrechtsverletzungen, das vom Krieg bewirkte Elend müssen einen nicht sprachlos machen, aber sie zwingen auch niemanden, in hohles nationalistisches oder triumphalistisches Pathos oder gar in Kriegslyrik zu verfallen. Es reicht, die Dinge in der Sprache der Kunst beim Namen zu nennen. Matthias Claudius zeigt 1778 in seinem „Kriegslied“, wie man es anders machen kann. Als Claudius dies als Dichter formuliert, ist gerade kein Krieg in Europa, und dennoch trifft es den richtigen Ton, wie nicht zuletzt Karl Kraus in der ersten Hälfte des kriegsversessenen 20. Jahrhunderts immer wieder hervorgehoben hat.

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Anmerkungen

[3]    "Mutter Gottes, Du Jungfrau, vertreibe Putin! Vertreibe Putin, vertreibe Putin! Schwarzer Priesterrock, goldene Schulterklappen - Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung. Das Gespenst der Freiheit im Himmel. Homosexuelle werden in Ketten nach Sibirien geschickt. Der KGB-Chef ist Euer oberster Heiliger, er steckt die Demonstranten ins Gefängnis. Um den Heiligsten nicht zu betrüben Müssen Frauen gebären und lieben. Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Mutter Gottes, Du Jungfrau, werde Feministin, Werde Feministin, werde Feministin! Kirchlicher Lobgesang für die verfaulten Führer - Kreuzzug aus schwarzen Limousinen. In die Schule kommt der Pfarrer, Geh' zum Unterricht - bring ihm Geld. Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben. Der Gürtel der Seligen Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen - Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns! Mutter Gottes, Du Jungfrau, vertreibe Putin! Vertreibe Putin, vertreibe Putin!" [Liedtext, den Pussy Riott in der Kirche vorgetragen haben].

[4]    Das erste vielleicht zumindest in der Narratio herausstechende Video ist das zu „А я відкривав тебе / Ich habe Dich entdeckt“ aus dem Jahr 2012. Die an sich interessante Anlage des Videos zu „НЕВИДИМКА / Unsichtbar“, ebenfalls aus dem Jahr 2012 wird leider verkitscht und in ihrer Dialektik von Liebesgeschichte und Beziehungsdrama nicht durchgehalten. „Тебе моя невеста / Du bist meine Braut“ aus dem Jahr 2013 lässt einen fassungslos zurück, zu viel Hollywood, zu viel Testeron, zu viel Klischees (zu viel Tom Cruise). „Мені тебе мало / Ich habe nicht genug von Dir“ aus dem Jahr 2015 ist ein klassisches Horror-Movie im Frankenstein-Stil, aber überzeugt nicht wirklich. „Фари / Scheinwerfer“ ist schon wieder so eine Hollywood-Adaption aus dem DC-Universum – der Joker lässt grüßen. „TDME“ aus dem Jahr 2017 ist hoch interessant aufgebaut, aber endet dann im fast schon erwartbaren Kitsch. Sich auf einer Kreuzfahrt ins Meer zu stürzen um dann wider alle Erwartung doch ans Ufer zu gelangen ist ja schon pathetisch genug, muss dann aber auch noch die ganze Band aus den Wellen auftauchen? Wie peinlich. „Hello“ aus dem Jahr 2019 zeigt uns einen Astronauten, der von einer Raumstation, die um die offenkundig durch einen Krieg verwüstete Erde kreist, mit einem Shuttle zurückkehrt, um den Zustand der Erde (nach dem dritten Weltkrieg?) zu prüfen. Atmen kann man, aber alles andere scheint ruinös, nur die Metropole am Horizont scheint merkwürdig unzerstört zu sein. Der Astronaut pflanzt ein Pflänzchen in die Erde und nach einer Nacht auf dieser kehrt er zurück auf seine Raumstation, weil die richtige Zeit für die Wiederbesiedlung noch nicht gekommen ist. Und wie zu erwarten war, blendet die Kamera in der letzten Einstellung auf die zurückgelassene Pflanze, die zu blühen beginnt. Da geht einem das Herz auf – wenn man denn an Schlager gewöhnt ist. Wo die Protestanten ein Apfelbäumchen pflanzen, selbst wenn die Welt morgen untergeht, pflanzt der heutige Mensch nach der Apokalypse fleißig weiter, denn man weiß ja nie … „Symphony“ aus dem Jahr 2019 ist dann wieder so ein Werk von penetranter Bollywoodhaftigkeit, dass es eigentlich verboten werden müsste. Es schwelgt in Klischees (etwa die sexistische Adaption des „Le Violon d'Ingres“ von Man Ray, die in Florenz der Medici transformiert wird) und Plattitüden. Eklektizismus pur. „Стань / And you start“ aus dem Jahr 2021 feiert die metaphorische Sportifizierung des Lebens (mit nationalistischen Beiklängen: während alle anderen aufgeben, sich streiten, zu fett sind, zurückgehen, macht die ukrainische Läuferin ihr Ding, überwindet alle Hindernisse [überholt den kreuztragenden Christus] … Leni Riefenstahl hätte es nicht besser machen können).

[5]    So Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. 4. durchges. Aufl. München 2018 (1. Aufl. 1980), 277.

[6]    Brock, Bazon (1977): Zur Geschichte des Bilderkriegs um das Realismusproblem. In: Brock, Bazon; Fohrbeck, Karla (Hg.): Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont, S. 317–334.

[7]    Ebd.

[8]    An dieser Stelle heißt es im ukrainischen Original knapper und präziser: Der beste Hirte der Schafherde: Bayraktar! Wenn es tatsächlich hieße „Der gute Hirte“ wäre es nur noch zynisch und barbarisch. Nur als paradoxe Intervention kann man das Verbrennen der Schafe als gute Tat des besten Hirten bezeichnen. Aber es liquidiert jeden humanen Gestus.

[9]    In anderen Übersetzungen heißen die letzten beiden Zeilen: So we hid a grievance for the orcs / It makes ghosts out of russian bandits. Das dürfte den ursprünglichen Text besser treffen. Jedenfalls werden die Russen im Original als орків = Orks bezeichnet.

[10]   Öhler, Andreas (2022): Bilder aus der Ukraine: Wenn der Krieg die Bilder heiligt. In: Die Zeit, 01.05.2022. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/2022/18/bilder-ukraine-krieg-ikonen

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/137/am755.htm
© Andreas Mertin, 2022